Michael Gielen - Charismatiker oder Mauerblümchen?


  • Hallo Johannes,


    so in etwa würde ich Gielens Einspielung auch einstufen.



    Der 1. und 4. Satz sind die schnellsten, die ich kenne. Ich kann mich noch gut an eine Diskussion in der Zeitschrift "Fono Forum" erinnern, in der die Frage gestellt wurde, ob die Ecksätze bei 16'55'' bzw. 08'08'' noch "Bedächtig. Nicht eilen" bzw. "Sehr behaglich" sind.
    Im Sinne der Werkcharakteristik, die größtenteils von "Helle, Leichtigkeit und zarter Eleganz" (abeschrieben aus dem Beiheft zur Klemperer-Aufnahme) gekennzeichnet ist, würde ich die Frage durchaus bejahen.


    Cosima: Die Szell-Aufnahme kenne ich nicht, kann aber alternativ Otto Klemperer empfehlen (mit Elisabeth Schwarzkopf).

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Zitat

    Original von Norbert
    Cosima: Die Szell-Aufnahme kenne ich nicht, kann aber alternativ Otto Klemperer empfehlen (mit Elisabeth Schwarzkopf).


    Hallo Norbert,


    ich war eben bei j*p*c und hatte die Klemperer-Aufnahme in der Hand. Schade, dass ich nicht reinhörte! Szell war nicht vorrätig (habe ich mir bestellt), so dass ich alternativ in die Reiner-Aufnahme reinhörte, die der Verkäufer mir empfahl. Ich meine, dass im Vergleich Reiner / Gielen genau das deutlich wird, was Edwin ansprach: Gielen zeigt IMO mehr dieses „so als ob“ auf, während ich bei Reiner deutlich ein „das ist“-Gefühl hatte. Obgleich die Reiner-Einspielung ja als alte Referenz gehandelt wird, gefällt mir der Gielen mit seiner Transparenz und seinem spröden, beklemmenden, absonderlichen Humor (oder wie immer man das beschreiben will) zumindest bei dieser Sinfonie sehr viel besser als Reiner mit seiner vordergründigen, bombastischen Klangpracht.
    „Schwebend und gewichtslos“ als Charakterisierung der Sinfonie, so beschrieb sie Bruno Walter. Das trifft bei der Gielen-Aufnahme IMO schon zu.
    Ehrlich gesagt: Je mehr ich mich mit der Sinfonie an sich beschäftige, desto besser gefällt mir Gielen.


    Gruß, Cosima

  • Ja, Cosima, Nagel auf den Kopf getroffen: Reiner war ein Genie der gedrillten Opulenz. Alles sehr, sehr schön, aber auch sehr oft ohne Blick unter die Oberfläche. Bernstein, der ein Schüler Reiners war, sagte einmal, er habe alles davon gelernt, was er anders gemacht habe als Reiner.


    Ad Klemperer: Drei Sätze lang sehr interessant und gut - und den letzten verdirbt die Schwarzkopf. Dieser manirierte Schöngesang passt nicht zu dem, was Mahler wollte, nämlich die Imitation von Naivität. Die Schwarzkopf singt das wie eine Arie oder wie ein Strauss-Orchesterlied. Die Ruskin bei Szell ist sicherlich nicht eine so große Sängerin wie die Schwarzkopf, aber IMO trifft sie genau diesen Ausdruck gemachter Naivität.

    ...

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Also, von Gielen auf Szell zu kommen, ist meiner Meinung nach kein ganz falscher Weg....


    Kurze Rückmeldung wegen der 4. Mahler unter Szell:


    Edwin, Du hattest Recht, das ist eine tolle Aufnahme, die für meinen Geschmack der Gielen-Einspielung deutlich überlegen ist. Sie lotet mit ungeheurer Intensität ganz wunderbar die Tiefen dieses vielschichtigen Werkes aus, Szell verpasst ihr das gewisse Etwas, eben noch eine Spur mehr des „So-als-ob“ als Gielen es vermag. Ich würde die Interpretation fast als perfekt bezeichnen. Judith Raskin gefällt mir allerdings weniger gut als Christine Whittlesey bei Gielen, letzterer kaufe ich eher die kindliche Naivität ab.


    Der Tipp war so gut, und derzeit bin ich eh ein wenig auf dem Mahler-Trip, so dass ich auch noch die Kegel-Aufnahme geordert habe. Bin gespannt, was er aus diesem interessanten Werk gemacht hat.


    Gruß, Cosima

  • Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Hallo Cosima,
    ad Kegel sag ich nur: Du wirst hören...!!! :hello:


    Ich missbrauche noch einmal diesen Thread zu einer kurzen Rückmeldung wegen Kegel.


    Edwin, der Tipp war klasse, die Kegel-Aufnahme ist grandios! Beim Szell meinte ich schon, dass die Sinfonie perfekt klänge, aber Kegel ist mindestens ebenbürtig. Es ist schwer auszudrücken, aber ein wenig erinnert es mich an den Britten-Thread, wobei hier der erotische Touch gegen die kindliche Naivität getauscht werden muss: Die Sinfonie ist ja nur vordergründig heiter, immer wenn man sich dem Heiterkeitsgefühl hingeben will, kommt Kegel, streckt die Zunge raus und sagt: „Denkste, angeschmiert!“. Ich glaube, er kommt damit der Intention Mahlers am nächsten; das Heitere wird teilweise grell überspitzt gezeichnet, was das Gefühl der Verfremdung noch verstärkt. Ich fühle mich an groteskes Jahrmarktstreiben erinnert, so als wäre ich zwar mittendrin, erlebe es aber dennoch nur mit einer gewissen inneren Distanz. Oder als würde ich mich zeitgleich auf zwei verschiedenen Ebenen bewegen, die sich teilweise überlagern, was sehr irritiert. Ja, so passt es am besten: Die Kegel-Aufnahme lässt mich mit einem Gefühl von Verunsicherung zurück, weil sie meine Wahrnehmung in Frage stellt. Sie hat etwas von lähmender Unbeschwertheit. Was für ein Meisterwerk von Mahler!


    Soweit aber nur die ersten Eindrücke, intensiv verglichen habe ich noch nicht.


    Gruß, Cosima

  • Hallo Cosima,


    ich habe mir die Aufnahme ebenfalls bestellt. Wir können demnächst ja im entsprechenden Thread weiter fachsimpeln. Jaja, der Moderator mal wieder... ;)

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Zitat

    Original von Norbert
    ich habe mir die Aufnahme ebenfalls bestellt. Wir können demnächst ja im entsprechenden Thread weiter fachsimpeln. Jaja, der Moderator mal wieder...


    Tschuldigung, aber hier bei Gielen ist eh so wenig los, und ich war zu faul, den Mahler-Thread zu suchen. Vielleicht hat Edwin bis dahin ja auch einen eigenen Kegel-Thread angelegt. Ich bin gespannt, wie Dir die Aufnahme gefällt.


    LG, Cosima :)

  • Kein Problem, Cosima.


    Den Gielen-Thread werde ich in nächster Zeit ein bißchen beleben, denn aufregende Aufnahmen von Mahlers 7. und Brahms 2. haben inzwischen meine Sammlung bereichert...

    Grüße aus der Nähe von Hamburg


    Norbert


    Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.

    Gustav Mahler


  • Ich habe mir mal erlaubt, einige Beiträge aus dem "Gestern im Konzert"-Thread auschnittsweise hierher zu kopieren und zu kommentieren:


    Alviano über Schönbergs "Gurrelieder" in der Alten Oper Frankfurt, 29.10.:


    Zitat

    Nun also Schönbergs "Gurrelieder" mit dem SWR-Sinfonieorchester und den Chören von BR und MDR. Gielen mittlerweile fast 80 - aber immer noch ein faszinierender Dirigent. Von der Orchesterbesetzung her sind die "Gurrelieder" riesig. Dennoch steckt in diesem Opus ganz viel leises, geradezu kammermusikalisches. Und genau da liegen Gielens Stärken - er macht die Musik transparent, schlank unterstreicht oft kleine Figuren und zeigt auch Brüche, ist dabei zu enormen Steigerungen fähig, setzt Akzente wohlüberlegt und punktgenau. Viele Details habe ich bisher so noch nie gehört. Gielen lässt sich manchmal heute mehr Zeit, als man das früher von ihm erwartet hätte - dem Gesamtaufbau eines Werkes wie den "Gurreliedern" tut das gut, eine wirklich beeindruckende Leistung eines grossen Dirigenten.



    Melot1967 über die Gurrelieder am 2.11. im Wiener Konzerthaus:


    Zitat

    Von Gielen bin ich enttäuscht. Ich hatte mehr erwartet. Schon die ersten Takte ließen Schlimmes ahnen. Gurrelieder, die mit forte (?) beginnen. Über weite Strecken gab es kaum dynamische Abstufungen, meist wenig Differenzierung beim Klang, von wenigen leisen Stellen mal abgesehen. Einzig die Einsätze waren einwandfrei. Oft gab es einen (zugegeben imposanten) gleichlauten Einheitsbrei, was für mich am frustrierendsten dann war, wenn man von Waldemar und Tove absolut nichts mehr hörte (jedenfalls nicht bis mitten ins Parkett), weil Gielen sie vom forcierenden Orchester ganz zudecken ließ. Es sah lächerlich aus, wenn die Sänger scheinbar nur noch Mundbewegungen machten. Viele (Spitzen-)Töne musste ich mir dann selber dazufantasieren, da ich sie nicht hören sondern nur die Anstrengung der Sänger sehen konnte. Schade!



    Dazu GiselherHH:


    Zitat

    ...eine Möglichkeit, die fehlenden Dynamikabstufungen zu erklären, ist wohl die von Edwin erwähnte zunehmende Schwerhörigkeit Gielens. Wenn dem so sein sollte, sollte er wohl besser mit dem Dirigieren aufhören. Ich habe Gielen selbst mehrmals am Pult gesehen und gehört, allerdings zum Glück noch zu Zeiten besseren Gehörs, und da hat er mich nicht enttäuscht, auch wenn er eher ein "kühler" Vertreter seines Faches ist.



    Und Johannes Roehl:


    Zitat

    Auf den (weitgehend live mitgeschnitteten) Mahler-Aufnahmen bei Hänssler ist von Balance/Dynamik-Problemen aber nichts zu spüren. Im Gegenteil, die sind sehr transparent, ohne dasss es nach künstlichem "spotlighting" klingt. Entweder haben die SWR-Techniker das gerettet, oder das Schwerhörigkeitsproblem war noch vor wenigen Jahren (Ende der 90er) nicht gravierend. Ich könnte mir auch vorstellen, dass "eigenes Orchester" und vertrauter Saal eine Rolle spielen...


    Direkt darauf bezogen einige Eindrücke von Gielen-Dirigaten, die ich im Konzertsaal/im Opernhaus selbst gehört habe:


    Vor etwa einem Jahr (November 2005) mit den Bamberger Symphonikern in der hiesigen Konzerthalle u.a. mit dem Schlussgesang aus "Salome". Auch hier ein Stück, das erhebliche Balanceprobleme zwischen Stimme und Orchester aufwirft. Die nicht weiter bemerkenswerte Sängerin (der Name ist mir entfallen), beileibe nicht mit einem Nilsson-Organ ausgestattet, war jederzeit zu hören - Gielen nahm das Orchester an den dynamischen Höhepunkten stark zurück.


    Ebendort im April 2000 mit dem gleichen Orchester Mahlers Siebte, ohnehin eines von Gielens Paradestücken: Ein ungeheuer weites dynamisches Spektrum, durchaus z.T. scharfes Hervortreten einzelner Blechbläser im ersten und letzten Satz, aber immer konzeptuell überzeugend.


    1999 Bergs "Lulu" im Kleinen Festspielhaus in Salzburg mit der Berliner Staatskapelle: eine geradezu kammermusikalische Interpretation, die nicht gerade großformatige Stimme von Christine Schäfer wurde "auf den Händen getragen", der Zwölftonakkord bei Lulus Tod nicht (wie so oft) brutal überwältigend herausgellend, sondern genau ausgehört. Die "leise" Transparenz wurde nach meiner Erinnerung seinerzeit in seltener Übereinstimmung von mehreren professionellen Rezensenten betont.


    Gielen leitete auch eine der wenigen Aufführungen von Bruckners Neunter, bei der ich (im Konzertsaal!) am Ende des Scherzos unter dem Gehämmer des restlichen Orchesters die Stimmen der Hörner lückenlos gehört habe (1993 in Frankfurt mit dem SWR-, damals SWF-Orchester).


    Manchmal dirigiert Gielen in der Tat sehr laut und harsch und neigt dann auch gelegentlich dazu, Stimmen zuzudecken. Aber damit steht er nun wirklich nicht allein. So etwa bei Verdis "Macbeth" in der Berliner Staatsoper (muss ca. 2003 gewesen sein) - hier wollte Gielen wohl die Härte und Grellheit der Musik herausstellen. Das kann man mit gutem Grund kritisieren, ohne gleich Ferndiagnosen über sein Gehör zu stellen. Vorerst scheint mir die Behauptung von Gielens Schwerhörigkeit nichts weiter als ein Gerücht zu sein.


    Ganz allgemein: Gielens Erinnerungsbuch "Unbedingt Musik" ist wirklich sehr lesenswert, bemerkenswert ehrlich und uneitel, manchmal geradezu rührend (er ist kein begnadeter Schriftsteller). Zu den besten, viel zu wenig bekannten Büchern über die Symphonien Beethovens und Mahlers gehören die beiden Bände, in denen der SWR-Musikredakteur Paul Fiebig anlässlich der jeweiligen Aufführungen/Einspielungen Gielens mit dem Dirigenten über die Werke spricht: "Beethoven im Gespräch - Die neun Sinfonien" und "Mahler im Gespräch - Die zehn Sinfonien", beide erschienen im Metzler-Verlag Stuttgart. Endlich mal keine Dirigentenplatitüden, sondern konkrete, sehr prononcierte Ansichten zur Interpretation und Aufführung der Werke.


    Viele Grüße


    Bernd

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • Zitat

    Vor etwa einem Jahr (November 2005) mit den Bamberger Symphonikern in der hiesigen Konzerthalle u.a. mit dem Schlussgesang aus "Salome". Auch hier ein Stück, das erhebliche Balanceprobleme zwischen Stimme und Orchester aufwirft. Die nicht weiter bemerkenswerte Sängerin (der Name ist mir entfallen), beileibe nicht mit einem Nilsson-Organ ausgestattet, war jederzeit zu hören - Gielen nahm das Orchester an den dynamischen Höhepunkten stark zurück.


    Das müsste Nicola Beller Carbone gewesen sein. Die Mannheimer sollten sie näher kennen. Auf der Bühne könnte sie jedenfalls als Salome sehr gute Figur abgeben...

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Stimmt (ich war nur zu faul, im Internet zu recherchieren). Mit "nicht weiter bemerkenswert" (also nicht schlecht, aber durchschnittlich) war auch weniger ihre äußere Erscheinung als ihre Stimme gemeint :D .

  • Meine (hoffentlich noch zuverlässige) Erinnerung sagt mir folgendes: Gielen dirigierte das "Poème de l'amour et de la mer" gut, mit Sinn für Klangfarben, aber nicht exzeptionell. Auf CD besitze ich die Aufnahme unter Armin Jordan - für mich eine der größten Leistungen Jessye Normans nicht nur im französischen Fach. Deshalb fällt es mir schwer, Frau Beller Carbone (irgendwie wäre das ein passender Nachname für Fischer-Dieskau :D ) gerecht zu werden. Sie hat sich aber wacker geschlagen, ihre Stimme war hier richtig eingesetzt (bei der Salome habe ich Zweifel).


    Viele Grüße


    Bernd

  • Danke!


    (Das Kennen der Aufnahme von Jessye Norman ist natürlich eine ziemliche Hypothek für jede andere Sängerin!)


    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Ich kenne die akustischen Verhältnisse in Wien nicht (sie sind auch in Frankfurt nicht ideal). Aber das Gielen die "Gurre-Lieder" im Forte begonnen hätte, ist zumindest für Frankfurt nicht zutreffend. Auch die Begrifflichkeit, er hätte einen "gleichlauten Einheitsbrei" abgeliefert, ist nicht nur unpräzise, sondern widerspricht auch der interpretatorischen Vorstellung, die Michael Gielen zeit seines Lebens umzusetzen versucht hat.


    Das "Zudecken" der SolistInnen kann ich ebenfalls nicht bestätigen - ich habe alles gehört (nicht immer gerne), räume aber ein, dass das vom Sitzplatz abhängíg sein kann.


    Gielen ist ein Dirigent, der polarisert. Ich will aber hier noch für die Neugierigen einige Empfehlungen aussprechen: "Moses und Aaron", eigentlich ein Soundtrack für einen Film von Huillet und Straub - ein Muss! Ebenso "Die Soldaten" von Bernd-Alois Zimmermann, Mitte der 60-er aus Köln, wohl z. Zt. vergriffen, ich selbst habe die Frankfurter Aufführung mehrfach gesehen - und danke Michael Gielen dafür, mich mit dieser Musik bekannt gemacht zu haben und "Matthäus-Passion" von Bach - nur als Rundfunk-Mitschnitt zu bekommen.


    Gielen ist als Dirigent eine Ausnahmeerscheinung, Klug und mutig! Es gibt einen Nachteil: bei SängerInnen hat er oft keine gute Hand gehabt. Das gut gesungen wurde schien ihm irgendwie nicht wichtig gewesen zu sein.

  • Nach meinen Eindrücken ist Gielen einer der typischen Musikerschinder. Ich habe auf der Frankfurter Musikmesse mal einen Intrumentalisten getroffen, der im SWR-Orchester saß. Der arme Kerl brachte infolge des ständigen Pianissimozwangs ("Sie glauben überhaupt nicht, wie leise man unter Gielen spielen muß!") kein gesundes Mezzoforte mehr zustande, letztlich war seine Klangpalette infolge ständiger Vergewaltigung durch den Dirigenten zerstört.


    Mit beständigen Forderungen nach noch leiseren Tönen in bestimmten Lagen kann man einen nur normal nervenstarken Bläser leicht in die völlige Verzweifelung treiben. Und Dirgenten, die ohne Rücksicht auf Verluste Menschen kaputtmachen, sind für mich von vorneherein unten durch.


    Hinzu kommt, daß mich die Gielen-Aufnahmen, die ich bislang gehört habe, nicht unbedingt durch besondere Expressivität begeistern konnten.


    Fazit: Einer derjenigen Dirigienten unserer Zeit, auf deren Wirken ich gut verzichten könnte.


    Viele Grüße


    Bernd

  • Zitat

    Original von Bernd Schulz
    Nach meinen Eindrücken ist Gielen einer der typischen Musikerschinder. Ich habe auf der Frankfurter Musikmesse mal einen Intrumentalisten getroffen, der im SWR-Orchester saß. Der arme Kerl brachte infolge des ständigen Pianissimozwangs ("Sie glauben überhaupt nicht, wie leise man unter Gielen spielen muß!") kein gesundes Mezzoforte mehr zustande, letztlich war seine Klangpalette infolge ständiger Vergewaltigung durch den Dirigenten zerstört.


    Mit beständigen Forderungen nach noch leiseren Tönen in bestimmten Lagen kann man einen nur normal nervenstarken Bläser leicht in die völlige Verzweifelung treiben. Und Dirgenten, die ohne Rücksicht auf Verluste Menschen kaputtmachen, sind für mich von vorneherein unten durch.



    Hallo Bernd,


    wie Alviano schon sagte: Gielen polarisiert. Ich weiß, dass es im Frankfurter Museumsorchester Instrumentalisten gibt, die Gielen (auch wenn die Chefdirigentenzeit fast 20 Jahre vorbei ist) Verehrung entgegenbringen. Mit anderen hat es dagegen heftige Konflikte gegeben.


    Beim Verhältnis Dirigent-Orchester muss man immer beide Seiten berücksichtigen. Einer meiner Verwandten hat jahrzehntelang im Kölner Gürzenich-Orchester gespielt. Von ihm habe ich reihenweise Anekdoten und Einschätzungen über verschiedenste Dirigenten gehört - sehr viele negative, bei denen es oft darum ging, dass die Musiker sich Spielanweisungen in die Stimmen schreiben sollten oder der Dirigent tatsächlich mal gefordert hat, zwischen p, pp und ppp zu differenzieren. Gelobt wurden Dirigenten, die einfach mal auf die Spielkünste und notfalls die Fähigkeit zur Improvisation bei den Orchestermusikern vertraut haben. Später, als mir viele dieser Dirigenten im Konzert oder auf Platte begegnet sind, war es allzuoft so, dass diejenigen der zweiten Gruppe recht mittelmäßig waren. Wenn ein Dirigent etwas Ungewöhnliches fordert, muss er nicht immer gleich ein Menschenschinder sein. Natürlich gibt es auch solche und natürlich ist nicht jeder Probenfanatiker ein guter Dirigent. Schwarzweißmalerei liegt mir fern. Gielen hat sich mit seiner unverblümten Art mit Sicherheit nicht nur Freunde gemacht. Ich muss nochmal in seiner Autobiographie nachschauen - da gab es auch einige Hinweise auf entsprechende Vorkommnisse.



    Zitat

    Hinzu kommt, daß mich die Gielen-Aufnahmen, die ich bislang gehört habe, nicht unbedingt durch besondere Expressivität begeistern konnten.


    Fazit: Einer derjenigen Dirigienten unserer Zeit, auf deren Wirken ich gut verzichten könnte.


    Entschiedener Widerspruch. Erstens kannn "Expressivität" nicht das alleinige Merkmal für die Qualität einer dirigentischen Leistung sein. Zweitens behaupte ich, dass "Expressivität" nicht nur auf die Furtwängler- oder Bernstein-Variante zu reduzieren ist. Im Gegenteil kann sogar die Abwesenheit einer solchen Form von Ausdruck als eine besondere Stufe von Expressivität gelten (eine dialektische Volte, die Gielen bestimmt gefallen würde :D ). Beispiel: Die ungemein geraffte, kantige Lesart, die Gielen Beethovens Neunter angedeihen lässt, ist nicht weniger expressiv als Furtwänglers auf seine Art faszinierendes Pathos. Nach einem Konzert im Herbst 1994 mit diesem Werk, von Gielen dirigiert, der sich dabei völlig verausgabte, meinte mein Gielen-unerfahrener Begleiter: Das Klischee vom immer sachlichen, nie emotional involvierten Gielen sei eines der absurdesten, das er je gehört habe. Und wer die Erinnerungen oder auch viele Passagen in den oben von mir empfohlenen Beethoven- und Mahler-Büchern liest, kann nur in die gleiche Kerbe hauen.


    Viele Grüße


    Bernd

  • Hallo,


    ich habe vor etlichen Jahren selbst unter Gielen (im Chor) Webern gesungen und war sehr beeindruckt. Kann natürlich auch sein, dass es einfach nur der Umstand war als junger Gesangstudent unter einen so wichtigen Dirigenten zu dienen...


    LG


    Johannes

  • Zitat

    Original von Bernd Schulz
    ...
    Fazit: Einer derjenigen Dirigienten unserer Zeit, auf deren Wirken ich gut verzichten könnte.


    Viele Grüße


    Bernd


    Knappertsbusch wird ja folgende Generalprobenanekdote zugeschrieben "meine Herren, Sie kennen das Werk, ich kenne es, wir sehen uns heute Abend"


    Ich denke, bei jeder Schinderei kommt es darauf an, ob Schinder und Geschundene dasselbe wollen. Wie im Krieg 8o.


    Dabei ist natürlich wichtig, daß beide das höhere Ziel überhaupt vor Augen haben. Vor dem Orchester hat der Dirigent eine Bringschuld, ehe er mit der Schinderei so richtig loslegen - und auf Verständnis hoffen darf.

  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • Das, was Bernd Schulz berichtet, würde ich auch stark relativieren. Gielen gehört zu den Dirigenten, die eine bestimmte Vorstellung von Musik haben - das umzusetzen fällt manchem Instrumentalisten nicht leicht. Aber das Ergebnis gibt Gielen recht. Mir hat - als jemand, der mit reiner Instrumentalmusik nicht sehr vertraut ist, ein Feature über Beethoven und die Metronomangaben mit Gielen sehr gefallen - für die Musiker oft ungewohnt, was nur allein das Tempo angeht...


    Gielen ist auch für mich keineswegs "emotionslos" - aber sein Blick auf bekannte Stücke ist oft verblüffend gewesen: Verdi, aber vor allem Mozart und Wagner war für mich wirklich eine Bereicherung, die ich nicht missen möchte. Ziemlich ideal: "Pelleas" in Berlin (Lindenoper).


    Und sein Bach? Spät erst hat er sich an Bach herangewagt, so, als bräuchte es eine lange Vorbereitungszeit um über den Umweg der zweiten Wiener Schule wieder zu den Ursprüngen der europäischen Musik zurückzufinden. Gielen schätzt die historische Aufführungspraxis nicht - er hält den Versuch, Musik im Stil einer vergangenen Zeit zu interpretieren für reaktionär. In der Haltung und der Orchesterbehandlung ist Gielen aber dann vom Ergebnis her näher bei den "historischen" Dirigenten, als bei z. B. Karl Richter angekommen.

  • Zitat

    Beim Verhältnis Dirigent-Orchester muss man immer beide Seiten berücksichtigen. Einer meiner Verwandten hat jahrzehntelang im Kölner Gürzenich-Orchester gespielt. Von ihm habe ich reihenweise Anekdoten und Einschätzungen über verschiedenste Dirigenten gehört -


    Hallo Bernd,


    Anekdoten habe ich auch schon viele gehört. Aber in dem von mir geschilderten Fall handelt es sich mitnichten um ein Verzällchen aus der Gerüchteküche - ich war ja dabei, als der betreffende Musiker gespielt hat, und alles war so auf Pianissimo ausgerichtet, daß das gesunde tonliche Fundament völlig weggebrochen war.


    Zitat

    Das, was Bernd Schulz berichtet, würde ich auch stark relativieren. Gielen gehört zu den Dirigenten, die eine bestimmte Vorstellung von Musik haben - das umzusetzen fällt manchem Instrumentalisten nicht leicht.


    Alviano, ich glaube viele von euch verkennen den enormen psychsichen Druck, dem die Musiker (Bläser) unter so manchem Pultdiktator ausgesetzt sind. Es geht nicht darum, daß sie endlich mal etwas leisten müssen, was ihnen "nicht leicht" fällt, sondern daß das nahezu Unmögliche - oder halt etwas, was nur möglich ist, wenn man woanders enorme Verluste in Kauf nimmt - von ihnen gefordert wird. Und gerade im Bereich der Dynamik ist es für den Taktstockwedler einfach, immer wieder besondere Extreme zu verlangen, viel einfacher, als selber feine Tempoübergänge oder musikalische Relationen zu verdeutlichen. "Leiser!!" kann jeder brüllen, wenn Pianissimo in der Partitur steht (und deshalb erlebe ich dieses maßlose Herumreiten auf dem dynamischen Aspekt besonders ausgeprägt bei ansonsten ziemlich unfähigen Kantoren, Chorleitern etc.).


    Ihr müsstet wirklich mal auf der anderen Seite des Dirigentenpultes sitzen....es ist ein Gefühl wie Weihnachten und Ostern zusammen, wenn man unter Aufbietung aller Möglichkeiten (unter anderem gehört unendlich zeitintensives Herumfeilen am Rohrmaterial dazu) auf dem Instrument so leise herumflüstert, wie man es selber kaum für denkbar gehalten hat, während der unfehlbare Boss vorne immer weiter "Psssst!!!" brüllt, bis einem die Töne ganz wegbleiben, so daß man vor den Kollegen und vor sich selber als völliger Versager dasteht....


    Viele Grüße


    Bernd

  • Zitat

    Original von Bernd Schulz
    Alviano, ich glaube viele von euch verkennen den enormen psychsichen Druck, dem die Musiker (Bläser) unter so manchem Pultdiktator ausgesetzt sind.
    ...


    Bei aller 'Besessenheit' von seiner Kunst darf ein Dirigent die Würde der Musiker nicht verletzen. Tut er es doch, ist seine Kunst keine und das Ergebnis wertlos.


    Gruß

  • Hallo Bernd,


    mein Anliegen ist nur, den Einzelfall nicht zu verallgemeinern. Nicht IMMER ist der Dirigent schuld. Dass Orchestermusiker träge und desinteressiert sein KÖNNEN, dafür gibt es allzuviele Beispiele.


    Natürlich darf man die Würde der Musiker nicht verletzen, wie helmutandres schreibt. Aber wie diese Grenze festzulegen ist, bleibt unklar. Man frage etwa Instrumentalisten des Ensemble Modern, welche z.T. extremen Spielweisen (gerade und auch in puncto Dynamik!) sie sich freiwillig antun.


    Wie gesagt (und um zum eigentlichen Thema zurückzufinden): Ich kenne zumindest zwei Orchestermusiker, die Gielen höchste Wertschätzung entgegenbringen. Gestern habe ich nochmal in Gielens Erinnerungen geblättert und einige interessante Stellen zum Verhältnis Dirigent/Orchester gefunden. Wenn ich später Zeit habe, werde ich hier mal auszugsweise zitieren.


    Viele Grüße


    Bernd

  • Danke, Helmut! Ich würde es vielleicht nicht ganz so zugespitzt formulieren, aber im Prinzip sehe ich es ähnlich.


    Ein entscheidender Faktor beim Musikmachen ist für mich immer noch die Freude an dem, was man tut - bei allem Ernst und bei aller bis zum Letzten der eigenen Möglichkeiten gehenden Leistungsbereitschaft.
    Und Freude kann nicht aufkommen, wenn ein machtsüchtiger Einzelner seine Position dazu nutzt, andere Künstler (und Musiker in guten Orchestern sind in der Regel Künstler auf ihrem Instrument) ständig ihre Inferiorität und scheinbare Unfähigkeit fühlen zu lassen.


    Viele Grüße


    Bernd

  • Hallo Bernd,


    Zitat

    Dass Orchestermusiker träge und desinteressiert sein KÖNNEN, dafür gibt es allzuviele Beispiele.


    Das stimmt. Die Trägen und Desinteressierten habe ich allerdings kaum in der jüngeren Generation getroffen (mit dieser Haltung schafft man es bei der heutigen Konkurrenz auch kaum bis ins Orchester), sondern eher bei den Altgedienten, und bei denen lag es nicht selten daran, daß sie im Laufe der Jahre schlichtweg zerbrochen sind - und zwar nicht zuletzt an einem autokratischen Dirigententypus, dem eventuell auch Gielen nicht ganz unähnlich sein könnte.....


    Ich bin aber in jedem Fall gespannt auf die Zitate zum Thema aus Gielens Erinnerungen!


    Viele Grüße


    Bernd

  • Hier also einige Anekdoten und Ansichten Michael Gielens über das Verhältnis Dirigent-Orchester aus seinem Erinnerungsbuch "Unbedingt Musik", erschienen 2005 im Insel-Verlag. Hier zitiere ich Passagen über die Beziehung Gielens zu spezifischen Orchestern und über spezifische Ansichten Gielens zu diesem Thema. Einige nette Anekdoten Gielens über den Umgang anderer Dirigenten mit ihren Orchestern folgen später in einem allgemeineren Thread.


    Gielen über sein Verhältnis zum Frankfurter Museums- und Opernhausorchester in seiner Zeit als Opernchef 1977-87:


    Als Hilmar Hoffmann [der damalige Frankfurter Kulturdezernent] dem Orchester verkündete, er wolle mich engagieren, reagierte dieses recht zurückhaltend: Man kenne mich nicht und hoffe nur, daß alles gutgehen würde. [...] Bei der Arbeit war das Orchester dann im großen und ganzen loyal. Schwierigkeiten hatte ich mit einzelnen Musikern, zum Beispiel mit einem älteren Posaunisten, der mich aus dem Hintergrund oft ermahnte, doch bitte deutlicher zu schlagen; oder mit den ersten Geigenpulten, die Solti einst mit jungen begabten Ungarn besetzt hatte, die aber inzwischen etwas zu bequem geworden waren und mit deren Mentalität ich nicht zurechtkam, um es freundlich zu sagen. Jetzt, fünfzehn Jahre nach meinem Abgang, ist das Orchester sehr verjüngt und viel leistungsfähiger geworden. Einige der damals jungen Musiker verehren mich noch heute, weil sie eine idealistische Berufsauffassung von mir gelernt hätten. Unlängst ernannte mich das Orchester zum Ehrendirigenten.


    Gielen über sein Verhältnis zum SWF- (heute: SWR-)Orchester Baden-Baden und Freiburg:


    Nun sollte ich also Chefdirigent dieses durch Rosbaud legendär gewordenen Orchesters werden. Unglücklicherweise brauchte Bitter [der damalige "Musikabteilungsleiter" beim SWF] einen Vertragsbeginn 1986, gleichzeitig, als die letzte Spielzeit in Frankfurt höchste Ansprüche an mich stellte mit der Fertigstellung des "Rings". Ich stand sehr unter Streß und war nicht fähig, gleich auf die friedliche Atmosphäre und den ruhigen Arbeitsrhythmus dieses Orchesters einzugehen. Ich war ungeduldig, wodurch sich unnötige Spannungen ergaben, die ich später bedauert habe. Eine Wohltat für jeden Dirigenten ist die Freundlichkeit dieses Orchesters und das Fehlen jeglichen Vorurteils gegen neue Strömungen in der Musik. Nur so hat dieses Orchester sich seinen Rang bei der Aufführung der schwierigsten Werke von Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen und später Helmut Lachenmann erringen können. Bedauerlich finde ich immer wieder eine skeptische oder ablehnende Haltung von Orchestern jungen Dirigenten gegenüber, die es sehr schwer haben und besser unterstützt werden könnten. Das geht mir besonders nah, weil ich es als junger Mensch oft schwerhatte mit den Orchestern, gewiß auch aus eigener Schuld. Wo sollen junge Dirigenten denn lernen, wenn nicht bei guten Orchestern?



    Eine Betrachtung zum Thema, ausgehend von einer Beobachtung zu einem Dirigat des sonst von Gielen sehr geschätzten Claudio Abbado:


    In der Wiener Oper hörte und sah ich einmal eine Vorstellung von "Pélléas et Melisande" von Debussy, die Claudio Abbado dirigierte. Das Stück war lange nicht aufgeführt worden und hatte keine Probe gehabt. Abbado dirigierte auswendig und war offenbar damit so beschäftigt, daß er wenig hilfreich war, weder dem Orchester noch der Bühne. Es war ein wunderbares Erlebnis zu sehen, wie das Orchester (die Wiener Philharmoniker) nun weitgehend die Sache selbst in die Hand nahm. Der Solocellist saß sehr sichtbar exponiert und koordinierte sowohl seine Gruppe und die Bässe als auch die zweiten Geigen, die in Wien rechts vom Dirigenten sitzen. Er war sozusagen die Schaltzentrale. Daß das Orchester von sich aus für sehr vieles Verantwortung trägt, nicht nur Zusammenspiel, sondern natürlich auch Intonation und einheitliche Phrasierung, sogar zum Teil für die Balance, ist etwas, was bei großen Orchestern vorauszusetzen ist, jedoch von Dirigenten, die alles in der Hand haben wollen, den Musikern ausgetrieben wird.



    Weiter im Text:


    Die Solisten müssen künstlerische Persönlichkeiten sein, um etwas anbieten zu können, besonders Phrasierungen. Aber wenn Meinungsverschiedenheit mit dem Dirigenten besteht, müssen sie sich wohl oder übel unterordnen. Einmal bat ich einen Soloklarinettisten um eine bestimmte Phrasierung und hörte ihn (laut genug) murmeln: "Wenn man ihm was anbietet, will er's nicht!" Und einmal, bei einer der seltenen Gelegenheiten, wo ich mit den Wiener Philharmonikern in Salzburg Mozart spielen durfte, machte mir der Konzertmeister, empört über mein Tempo und den freieren Umgang damit, im ersten Satz der großen Es-Dur-Symphonie mit der Geige den Takt schlagend vor, wie das Stück zu gehen habe. Ich sagte: "Aber bitte! Bloß nicht im Takt!" - worauf er es aufgab, mir das Stück beibringen zu wollen.
    [...]
    Disziplin in den Proben ist unabdingbar. Ein undiszipliniertes Orchester kann nicht wirklich gut sein. Mangelnde Disziplin ist auch mangelnder Selbstrespekt. Das "Auf d' Nacht, Herr Direktor" kann nur große Momente ergeben, keine schlüssige Interpretation. [...]
    Der Dirigent sollte versuchen, seine Kritik anzubringen, ohne verletzend und persönlich zu werden. Besonders schwache Musiker werden leicht aggressiv, wenn sie meinen, angegriffen zu werden. Gute Musiker werden aggressiv, wenn ihnen ihre heiligsten Prinzipien verletzt werden, wie jener ausgezeichnete Konzertmeister in Salzburg.
    Wenn der Kapellmeister einen Fehler macht - und jeder macht mal einen Fehler -, sollte er ihn unbedingt zugeben. Nichts ist falscher, als dann abzubrechen und irgendwas im Orchester zu korrigieren. Das habe ich x-mal erlebt.



    Kurzer Kommentar (die Finger schmerzen schon :D): Mir ist klar, dass die Erinnerungen eines Individuums und die erinnerten Geschehnisse nicht unbedingt übereinstimmen müssen. Aber aus den zitierten Passagen tritt einem doch nun wirklich kein Tyrann oder Pultdiktator entgegen. Sicher jemand, der unkonziliant und auch ungerecht sein konnte. Aber wieviele Dirigenten aus Gielens Generation wären zu solchen Geständnissen bereit?


    Viele Grüße


    Bernd

  • Hallo,


    nichts Substantielles, nur eine Anmerkung:


    Wenn ich an Michael Gielen denke, denke ich früher oder später an Gerd Albrecht. Ist im Wesentlichen wohl der selbe Dirigententyp. Interessant auch, dass beide vor allem mit den Sinfonieorchestern von Rundfunkanstalten ihre Erfolge hatten und haben. Da scheint doch ein Biotop für nicht ganz so marktfähige Dirigenten zu liegen - toll, dass es diese Orchester gibt, finde ich! In einem gewissen Sinne gehört auch Christoph von Dohnanyi (den kann ich nie richtig schreiben...) dazu.


    Grüße


    Heinz

  • Hallo Bernd,


    vielen Dank für deine Mühe! Die zitierten Sätze werfen in der Tat ein etwas anderes Licht auf Michael Gielen.


    Nun beruht mein Bild von ihm nicht alleine auf meinem Erlebnis während der Frankfurter Messe, sondern auch auf diversen anderen Gerüchten. Aber das sind halt nur Gerüchte.


    Auf der anderen Seite könnte ich jetzt behaupten, daß Papier geduldig ist. Aber das wäre sicherlich ein wenig unfair. Vielleicht nehmen wir zunächst einfach einmal an, daß Gielen im Umgang mit den Orchestermusikern doch nicht so problematisch war, wie ich es bislang gesehen habe.


    Viele Grüße


    Bernd

  • Hallo Bernd,


    darauf können wir uns auf jeden Fall einigen - auch bezüglich der Tatsache, dass letztgültige Sicherheit nicht zu erlangen ist.



    Zitat

    Original von heinz.gelking
    Wenn ich an Michael Gielen denke, denke ich früher oder später an Gerd Albrecht. Ist im Wesentlichen wohl der selbe Dirigententyp. Interessant auch, dass beide vor allem mit den Sinfonieorchestern von Rundfunkanstalten ihre Erfolge hatten und haben. Da scheint doch ein Biotop für nicht ganz so marktfähige Dirigenten zu liegen - toll, dass es diese Orchester gibt, finde ich! In einem gewissen Sinne gehört auch Christoph von Dohnanyi (den kann ich nie richtig schreiben...) dazu.


    Hallo Heinz,


    da melde ich leise Zweifel an: Die drei genannten Dirigenten sind sich untereinander sicherlich ähnlicher, als jeder von ihnen im Vergleich etwa zu Karajan. Aber Dohnanyi (ich schließe mich Deiner Schreibweise an :D) hat ja schon auf den großen Karrieresprung über den Atlantik hingearbeitet und ihn auch erfolgreich geschafft - ein besseres Orchester als das Clevelander lässt sich wohl schwerlich finden. Dass er jetzt beim NDR ist, muss man nicht unbedingt als Rückzug in die Nische deuten. Überhaupt ist bei manchen Rundfunkorchestern eher ein m.E. unguter Trend zu Stardirigenten festzustellen (München, Köln).


    Gielen und Albrecht haben sicherlich manches, aber nicht auffällig viel gemeinsam. Gielen finde ich musikalisch profilierter, Albrecht hat größte Verdienste um die "Ausgrabung" vergessener Werke. Vor allem aber haben alle drei den längsten Teil ihrer Karriere nicht im Rundfunk, sondern in Opernhäusern verbracht: Dohnanyi in Frankfurt und Hamburg, Albrecht in Kassel und Hamburg, Gielen in Wien, Stockholm und Frankfurt.


    Gerade bei Gielen kann man die Frankfurter Zeit für mindestens ebenso wichtig halten wie die Baden-Baden/Freiburger. Ich habe die "Ära Gielen" in Frankfurt aus Alters- bzw. Jugendgründen nicht miterlebt und kann deshalb nicht aus eigener Anschauung urteilen. Aber für viele kompetente Beobachter war sie in ihrer Ganzheit eine der größten Leistungen des Musiktheaters überhaupt - wobei es natürlich auch darauf ankommt, wie man zu Regisseuren wie Berghaus oder Neuenfels steht. Gielens Leistungen als Opernchef wurden spätestens ab Anfang der 80er Jahre international beachtet und haben Auswirkungen bis in die Gegenwart. Das war keine Form von Publizität, die sich auf dem Plattenmarkt oder in Fernsehübertragungen ausgewirkt hätte - aber es verschaffte ihm einen enormen Ruf.


    Viele Grüße


    Bernd

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose