Die Bachkantate (152): BWV96: Herr Christ, der ein'ge Gottessohn

  • BWV 96: Herr Christ, der ein’ge Gottessohn
    Kantate zum 18. Sonntag nach Trinitatis (Leipzig, 8. Oktober 1724)




    Lesungen:
    Epistel: 1. Kor. 1,4-9 (Paulus’ Dank für Gottes reiche Gaben in Korinth)
    Evangelium: Matth. 22,34-46 (Jesus benennt als vornehmste Gebote die Gottes- und Nächstenliebe und befragt die Pharisäer über Christus, der zugleich Davids Sohn und Davids Herr genannt wird)



    Sechs Sätze, Aufführungsdauer: ca. 17 Minuten


    Textdichter: unbekannt; inspiriert aber vom titelgebenden Choral
    Choral (Nr. 1 und 6): Elisabeth Creutziger (1524)



    Besetzung:
    Soli: Sopran, Alt, Tenor, Bass; Coro: SATB; Piccoloflöte (hohe Blockflöte), Traversflöte, Oboe I + II, Horn (spätere Fassung: Posaune), Violino I/II, Viola, Continuo





    1. Choral SATB, Piccoloflöte, Oboe I + II, Horn (spätere Fassung: Posaune), Streicher, Continuo
    Herr Christ, der ein’ge Gottessohn,
    Vaters in Ewigkeit,
    Aus seinem Herzen entsprossen,
    Gleichwie geschrieben steht.
    Er ist der Morgensterne,
    Sein’ Glanz streckt er so ferne
    Vor ander’n Sternen klar.


    2. Recitativo Alt, Continuo
    O Wunderkraft der Liebe,
    Wenn Gott an sein’ Geschöpfe denket,
    Wenn sich die Herrlichkeit
    Im letzten Teil der Zeit
    Zur Erde senket.
    O unbegreifliche, geheime Macht!
    Es trägt ein auserwählter Leib
    Den großen Gottessohn,
    Den David schon
    Im Geist als seinen Herrn verehrte,
    Da dies gebenedeite Weib
    In unverletzter Keuschheit bliebe.
    O reiche Segenskraft! so sich auf uns ergossen,
    Da er den Himmel auf, die Hölle zugeschlossen.


    3. Aria Tenor, Traversflöte, Continuo
    Ach, ziehe die Seele mit Seilen der Liebe,
    O Jesu, ach zeige dich kräftig in ihr!
    Erleuchte sie, dass sie dich gläubig erkenne,
    Gib, dass sie mit heiligen Flammen entbrenne,
    Ach würke ein gläubiges Dürsten nach dir!


    4. Recitativo Sopran, Continuo
    Ach, führe mich, o Gott, zum rechten Wege,
    Mich, der ich unerleuchtet bin,
    Der ich nach meines Fleisches Sinn
    So oft zu irren pflege;
    Jedoch gehst du nur mir zur Seiten,
    Willst du mich nur mit deinen Augen leiten,
    So gehet meine Bahn
    Gewiss zum Himmel an.


    5. Aria Bass, Oboe I + II, Streicher, Continuo
    Bald zur Rechten, bald zur Linken
    Lenkt sich mein verirrter Schritt.
    Gehe doch, mein Heiland, mit,
    Lass mich in Gefahr nicht sinken,
    Lass mich ja dein weises Führen
    Bis zur Himmelspforte spüren!


    6. Choral SATB, Oboe I + II, Horn, Streicher, Continuo
    Ertöt’ uns durch dein’ Güte,
    Erweck’ uns durch dein’ Gnad’:
    Den alten Menschen kränke,
    Dass neu Leben hab’
    Wohl hier auf dieser Erden,
    Den Sinn und all’ Begierden
    Und G’danken hab’n zu dir.






    In dieser Choralkantate hat Bach zur Abwechslung wieder einmal die Altstimmen im einleitenden Eingangschoral mit dem Vortrag der Choralmelodie bedacht (wie in der Kantate BWV 2).


    Wie es bei derartigen Choralbearbeitungen häufiger vorkommt, gibt Bach der Stimme, die den Cantus firmus vorträgt (also die Choralmelodie und damit quasi das melodische und harmonische Rückgrat des ganzen Satzes), verstärkende Unterstützung durch ein Horn bei. Diese Hornstimme ist bei einer Wiederaufführung der Kantate, die Bach in den 1740er Jahren durchführte, durch eine Posaunenstimme ersetzt worden.


    Die in diesem Satz ebenfalls zum Einsatz kommende Piccoloflöte (oder eine hohe Blockflöte – ich habe mal den Begriff „Sopranino-Blockflöte“ gehört, vielleicht ist damit ja ein solches Instrument gemeint?) wird von verschiedenen Kommentatoren gern poetisch mit der von Bach möglicherweise gedachten Versinnbildlichung des im Text erwähnten „Morgensterns“ verglichen, der dekorativ über dem Choralsatz vor sich hinflimmert... ;)


    Im Rezitativ Nr. 2 wird dann auf einen Teil des heutigen Sonntagsevangeliums Bezug genommen – es geht um den lange verheißenen Christus, der von König David abstammen soll, den dieser aber – obwohl sein Ahnherr und Vorfahr – trotzdem als seinen kommenden Herrn bezeichnet hat.


    Die Arie Nr. 3 reiht sich wiederum in die herrliche Reihe von Tenor-Arien ein, die Bach mit der Begleitung einer Traversflöte veredelt hat (siehe dazu auch den Kommentar zur Kantate BWV 114, die eine Woche zuvor entstanden war). Die Vermutung, dass er im Frühherbst 1724 über ein besonders gut aufeinander eingespieltes „Team“ aus Tenorsolist und Flötist verfügt haben muss, erhält durch diese weitere Arie in derselben Besetzung zusätzliche Nahrung. Vermutlich spielte der Flötist dieser Arie auch die Piccoloflöte des Eingangschorals.


    Nach dem kurzen Rezitativ Nr. 4, das den Solo-Sopran mit diesem seinem einzigen Einsatz in dieser Kantate etwas unbefriedigt zurücklassen dürfte, folgt die mit zwei Oboen, Streichern und Continuo klangprächtig besetzte Arie Nr. 5 (in d-moll) für den Bass-Solisten.


    Der Text der Choralstrophe, die Bach als Schlusschoral ausgewählt hat, scheint von ihrer Aussage her zu mehreren Gelegenheiten im Kirchenjahr gut zu passen, da Bach dieselbe Strophe auch in seinen Kantaten BWV 132, BWV 22 und BWV 164 als Abschluss einsetzt, die ja zu ganz unterschiedlichen Anlässen entstanden sind.

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)

  • Liebe Kantaten-Freunde!


    Endlich bin ich mal wieder bei Euch drin:


    Aufgweckt und in den Sonntag gestellt hat mich die Macht des Eingangschorals von dieser Kantate, die bereits ein wenig Christ-Geburts-Atmosphäre anmoduliert.


    Der Cantus firmus des Eingangschors - in langen Notenwerten vorgetragen - ist wirklich ein Fundament, das durch ein Horn verstärkt wird. Hört, hört!!!-, die Figuration des Morgensterns mit seinem glänzenden Flimmern..


    Majestätisch und dennoch bescheiden in ihrer Abbildung der vollen, prallen Tonmacht die Rilling-Aufnahme. Leider liegt mir die Gardiner Aufnahme in SDG 9 nicht vor.Hätte beide gerne verglichen!



    Einen gesegneten 18.So nach Trinitatis


    Gruß Wolfgang

    Magnificat anima mea