Lieber Edwin,
ich denke auch, daß Du in bezug auf die Parallelen zwischen Kleiber und Karajan recht hast.
Vielleicht ist es möglich, Tempovorstellungen und Präzisionsfanatismus des jungen Karajan mit Kleibers Arbeit zu vergleichen, darüber hinaus besteht doch eine gewaltige Kluft zwischen beiden - zwei sich persönlich wohl genau aus diesem Grund anziehende Pole. Kleiber bewunderte Karajan für das, was er selbst nicht hatte und vice versa.
Karajan war mit Sicherheit der umfassendere Dirigent, dem höchstwahrscheinlich (bei aller Arbeit) seine Kunst leichter fiel als den meisten Kollegen. Die Grübelei und das Zaudern des scheuen Carlos waren ihm fremd. Man darf dabei wohl auch nicht vergessen, daß Karajan offensichtlich auch gesellschaftlich reüssieren wollte und seine musikalischen Auftritte bei aller (frühen) Brillanz wohl häufig auch Mittel zum Zweck waren, ebenso wie die einzigartig eigenartige Personenkult-Inszenierung um HvK.
Was Du über die Sensibilität für den Nerv, das vibrierende Leben einer Partitur schreibst, sehe ich exakt genauso. Auch den nuancierten Otello, den ich wegen Verborgung meiner CD gerade nicht nochmal nachhören kann, habe ich als großartig empfunden, ebenso wie die Orchesterbehandlung beim Tristan, der vokal natürlich Schwächen hat.
Allein: Wenn Du von einzigartigen Interpretationen ohne Vorbild und Nachfolger sprichst, weshalb rechtfertigt dies nicht per se die Bedeutung eines Dirigenten?
Bereits die Tatsache, daß es Kleiber und Celibidache gegeben hat, die nicht jedem Rummel des Geschäfts gefolgt sind, halte ich für wesentlich. Darüber hinaus fällt mir niemand ein, der eine ähnliche Dichte an Qualität produziert hätte wie Kleiber. Für mich reicht das aus, um ihn bedeutend zu machen.
LG,
Christian