Die Bachkantate (038): BWV81: Jesus schläft, was soll ich hoffen

  • BWV 81: Jesus, schläft, was soll ich hoffen
    Kantate zum 4. Sonntag nach Epiphanias (Leipzig, 30. Januar 1724)




    Lesungen:
    Epistel: Röm. 13,8-10 (So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung)
    Evangelium: Matth. 8,23-27 (Jesus schläft auf einem Schiff, wird geweckt und besänftigt den wütenden Sturm)



    Sieben Sätze, Aufführungsdauer: ca. 19 Minuten


    Textdichter: unbekannt
    Choral: 2. Strophe des Liedes „Jesu, meine Freude“ (1653) von Johann Franck (1618-77)



    Besetzung:
    Soli: Alt, Tenor, Bass; Coro: SATB; Blockflöte I + II, Oboe d’amore I + II, Violino I/II, Viola, Continuo




    1. Aria Alt, Blockflöte I + II, Streicher, Continuo
    Jesus schläft, was soll ich hoffen?
    Seh ich nicht
    Mit erblasstem Angesicht
    Schon des Todes Abgrund offen?


    2. Recitativo Tenor, Continuo
    Herr! warum trittest du so ferne?
    Warum verbirgst du dich zur Zeit der Not,
    Da alles mir ein kläglich Ende droht?
    Ach, wird dein Auge nicht durch meine Not beweget,
    So sonsten nie zu schlummern pfleget?
    Du wiesest ja mit einem Sterne
    Vordem die neubekehrten Weisen,
    Den rechten Weg zu reisen.
    Ach, leite mich durch deiner Augen Licht,
    Weil dieser Weg nichts als Gefahr verspricht.


    3. Aria Tenor, Streicher, Continuo
    Die schäumenden Wellen von Belials Bächen
    Verdoppeln die Wut.
    Ein Christ soll zwar wie Wellen (Felsen) steh’n,
    Wenn Trübsalswinde um ihn geh’n.
    Doch suchet die stürmende Flut
    Die Kräfte des Glaubens zu schwächen.


    4. Arioso Bass, Continuo
    Ihr Kleingläubigen, warum seid ihr so furchtsam?


    5. Aria Bass, Oboe d’amore I + II, Streicher, Continuo
    Schweig, aufgetürmtes Meer!
    Verstumme, Sturm und Wind!
    Dir sei dein Ziel gesetzet,
    Damit mein auserwähltes Kind
    Kein Unfall je verletzet.


    6. Recitativo Alt, Continuo
    Wohl mir, mein Jesus spricht ein Wort,
    Mein Helfer ist erwacht,
    So muss der Wellen Sturm, des Unglücks Nacht
    Und aller Kummer fort.


    7. Choral SATB, Oboe d’amore I + II, Streicher, Continuo
    Unter deinen Schirmen
    Bin ich für den Stürmen
    Aller Feinde frei.
    Lass den Satan wittern,
    Lass den Feind erbittern,
    Mir steht Jesus bei.
    Ob es itzt gleich kracht und blitzt,
    Ob gleich Sünd’ und Hölle schrecken,
    Jesus will mich decken.




    Das Evangelium für diesen Sonntag erzählt die bekannte Geschichte von der Bootsfahrt Jesu' mit seinen Jüngern auf dem See Genezareth, während der ein gewaltiger Sturm aufkommt und das Schiff in arge Turbulenzen bringt, derweil Jesus ruhig schläft und seine Jünger in arge Verzweiflung fallen und bereits das Ertrinken in den aufgewühlten Wassermassen fürchten. Sie wecken Jesus schließlich und er beruhigt augenblicklich mit wenigen Worten den Sturm und tadelt seine Jünger mit den Worten (die in dieser Kantate im Arioso Nr. 4 vom Bass als der traditionellen Vox Christi vorgetragen werden) wegen ihrer Kleingläubigkeit und ihres mangelnden Vertrauens.


    Der Textdichter dieser Kantate überträgt diese Geschichte in seine Gegenwart und setzt die bangenden, sich von Gott verlassen fühlenden Jünger mit dem heutigen Christenmenschen, der sich selber oft von Gott verlassen fühlt, gleich.


    Während die in e-moll stehende Arie Nr. 1 mit ihren Blockflötenklängen wirkungsvoll die Ruhe des friedlich schlafenden Jesus mit der Angst der sich verlassen wähnenden Christen kombiniert, darf es in der Tenorarie Nr. 3 schön plastisch stürmen und wüten, inklusive der beschriebenen Wellenbewegung!
    Ein Kuriosum stellt der Text an der Stelle dar, an der ein Christ ermahnt wird, wie ein Fels in der Brandung zu stehen, im Originaltextdruck jedoch statt "Fels" "Welle" steht - Absicht? Irrtum?
    Die Version mit der "Welle" gibt eigentlich so keinen Sinn, daher wäre es interessant, in den verschiedenen Einspielungen auf dieses Detail zu achten, um herauszufinden, wieviel Gedanken man sich bei einer Einstudierung dieser Kantate gemacht hat und wie man sich entschieden hat: Logik (dann Textänderung) oder absolute Textgetreue (Beibehaltung der "Welle")?
    An solchen Kleinigkeiten kann man oft eine Menge über den/ die Interpreten lernen ;)


    Im Rezitativ Nr. 2 finde ich übrigens den Rückverweis auf die vom Stern geleiteten Weisen aus dem Morgenland sehr gelungen: Wir haben den 4. Sonntag nach Epiphanias, befinden uns also liturgisch gesehen noch immer in der Weihnachtszeit und zählen im Moment die Sonntage seit dem Dreikönigstag. Daher ist es eine nette und hilfreiche Geste des Textdichters, mal daran zu erinnern, wo wir im Kirchenjahr zur Zeit nach wie vor stehen... :hello:


    Schön und gelungen auch die symmetrische Anlage der Kantate: Der alles entscheidende, die "Wendung" von Bangen zu Dankbarkeit (der Christen) bringende Satz mit dem Jesuswort (also das Arioso Nr. 4) steht in der Mitte der Kantate.


    Der Schlusschoral des sonst an dieser Kantate nicht weiter beteiligten Chores ist wieder einmal auf die bekannte (und mir persönlich besonders liebe) Melodie von "Jesu, meine Freude" komponiert worden, wobei die ausgewählte 2. Strophe mit ihrer Erwähnung von "Stürmen" zum restlichen Inhalt der Kantate ganz besonders gut passt.

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)

  • Passend zum gestrigen Sonntag habe ich mir die Kantate BWV 81 gleich mehrfach angehört und kann meine von früher herrührende Begeisterung für dieses Werk nur bestätigt finden: Ganz fantastisch!! :jubel:


    Gerade der dramaturgisch so wirkungsvolle Wechsel zwischen der ruhigen, blockflötenbegleiteten Eingangsarie und der Sturmarie Nr. 3 ist ausgesprochen spannend und unterhaltsam :yes:


    Vergleichen möchte ich zwei Einspielungen älteren Datums, wobei originellerweise diejenige (zumindest in Teilen) die ältere ist, von der man es auf den ersten Blick gar nicht erwarten würde :wacky:


    Aufnahmedatum: Februar 1971 und Juli/ Oktober 1983 (??)
    Julia Hamari, Alt
    Adalbert Kraus, Tenor
    Siegmund Nimsgern, Bass
    Gächinger Kantorei Stuttgart
    Bach-Kollegium Stuttgart
    Leitung: Helmuth Rilling



    Aufnahmedatum: Marz/ April 1972
    Anna Reynolds, Alt
    Peter Schreier, Tenor
    Theo Adam, Bass (auch wenn im Booklet "D. Fischer-Dieskau" genannt wird, ist der Solist eindeutig zu identifizieren :wacky: )
    Münchener Bach-Chor und -Orchester
    Leitung: Karl Richter



    Nach dem Anhören der Arie Nr. 1 fiel mir vor allem auf, wie frappierend ähnlich beide Interpretationen klingen (gilt auch für das gewählte Tempo):
    In beiden Arien kommen die Blockflöten gut zur Geltung, die der Arie das beschaulich-ruhende Element verleihen und den schlafenden Jesus veranschaulichen.
    Wie tief er schläft (immerhin versäumt er den einsetzenden Sturm!), hat Bach der Altistin in den Mund gelegt: Das Wort "schläft" singt sie in gaaaanz tiefen Tönen und dazu noch mit seeeehr langen Notenwerten - einfach, aber wirkungsvoll! :]


    Neben der Illustration von Ruhe und Schlaf schwingt in dieser Arie, dem Text entsprechend, aber auch ein bangend-furchtsamer Tonfall mit - das Unheil des aufziehenden Sturms schwingt irgendwie schon mit.


    Dann trägt der Tenor sein Rezitativ Nr. 2 vor.
    Und ich muss sagen, dass mir das Timbre von Adalbert Kraus (der Solist der Rilling-Einspielung) hier gar nicht gefällt: Seine Stimme klingt sehr scharf, sehr metallisch - in manchen Phrasen richtig unangenehm für meine Ohren, jedenfalls irgendwie nervig.
    Im Vergleich dazu ist mir Peter Schreiers lyrisch-weiche Stimme geradezu Balsam für die Ohren - er sagt mir in dieser Aufnahme (aber eigentlich auch generell) deutlich mehr zu!


    Ja- und dann kommt die Arie Nr. 3, da geht's dann richtig zur Sache! Kommt in dieser Form in einer Bachkantate auch nicht sooo häufig vor ;)
    Ich fühlte mich spontan an eine entsprechend erregte Opernszene bei Vivaldi oder evtl. auch Händel erinnert.
    Ich find die Arie toll - mein persönlicher Favorit in dieser Kantate! Richtig schön schwungvoll und mit viel virtuoser Koloraturen-Arbeit für den Solisten (die Tenöre beider Einspielungen schlagen sich hier wacker!).


    Ein kurzes Innehalten an der Stelle "Ein Christ soll zwar wie Wellen/ Felsen steh'n" und schon bricht der Sturm wieder los in rasenden Läufen in der Stimme und in den Streichern - wow!!! :jubel:


    Hier übrigens zu der oben aufgeworfenen Textfrage eine Anmerkung:
    Adalbert Kraus singt die Fels-, Peter Schreier die Wellen-Variante.
    Wobei im Booklet der Rilling-Aufnahme die Textvariante mit den "Wellen" abgedruckt ist, die just eben nicht gesungen wird, während bei Richter beide Textvarianten stehen ("Felsen" in Klammern gesetzt), obwohl nur von "Wellen" gesungen wird - oh Mann, was für ein Durcheinander :wacky:


    Sehr ausdrucksvoll dann das Arioso Nr. 4, in dem der Solo-Bass die zentrale Botschaft dieser Kantate in mehrfacher Wiederholung eindringlich vorträgt.
    In der Rilling-Aufnahme stört mich hierbei allerdings die Verwendung des Cembalo als Continuo-Instrument. Warum Rilling für dieses Arioso dieselbe Besetzung verwendet wie im Rezitativ Nr. 2, ist mir schleierhaft - hier hätte man die zentrale Bedeutung des Satzes mit einer anderen Continuo-Besetzung (nämlich mit einem Orgelpositiv) mit einfachen Mitteln auch musikalisch deutlich machen können.


    Umso rätselhafter erscheint es mir, dass genau diese Continuo-Besetzung bei Rilling plötzlich das eher unwichtigere (und ziemlich kurze) Rezitativ Nr. 6 begleitet - ob die hier plötzlich eingesetzte Orgel ein Zeichen für die später aufgenommenen Teile dieser Kantate ist?? Laut Booklet liegen ja 12 (!) Jahre zwischen beiden Teilen....
    Da hätte man - im Sinne einer geschlossenen Interpretation - im Jahr 1983 die zuletzt in 1971 eingespielten Sätze ja ruhig nochmals aufnehmen können.... :rolleyes:


    Die Arie Nr. 5 ist ebenfalls stürmisch bewegt, aber nicht in dem Maße, wie die vorangegangene Sturmarie. Macht nix - ich hör sie trotzdem gern.


    Der Schlusschoral mit einer meiner Lieblings-Choral-Melodien ist ein toller Abschluss für eine richtig schön dramatische Bachkantate, die zu meinen Favoriten in diesem Genre gehört!


    Ich gebe aufgrund der genannten "Minuspunkte" bei Rilling in diesem Fall der Richter-Einspielung den Vorzug - obwohl es wirklich "Jammern auf hohem Niveau" ist und ich mich ja glücklicherweise nicht zu entscheiden habe, sondern beide Aufnahmen hören kann, wann und wie ich möchte... :hello:


    In dieser Kassette findet sich die beschriebene Richter-Einspielung wieder (auch wegen anderer Aufnahmen seeeehr zu empfehlen :] ):


    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)

  • In der Tat eine sehr hörenswerte Kantate!
    Ich werde nicht vergessen, wie mir diese Musik wirklich unter die Haut ging, als ich sie zum ersten Mal hörte und gleichzeitig auch die Partitur mitlas.


    Mir liegen zwei Einspielungen vor, auf die ich eingehen möchte:



    Ton Koopman, aufgenommen im März 1998


    und



    Nikolaus Harnoncourt, 1978


    Der ersten Arie liegt der Hauptaffekt des Schlafens ( der im Boot schlafende Jesus )
    und der Nebenaffekt des Grauens, des Erschreckens vor dem Anblick des offenen Abgrunds zu Grunde.


    Der Schlaf wird durch die Figuren der wellenartig-wiegenden Achtel ( erste eine 8-tel Pause, dann immer drei 8-tel unter einem Bogen) ausgedrückt. Auch die mitgehenden Blockflöten helfen durch ihren weichen Klang, den Eindruck des Wiegend- Schlafenden zu unterstreichen.


    Das Erschrecken, das Grauen vor dem offenen Todesschlund wird durch urplötzlich auftretende Disharmonien auf 1/2-Notenwerten ausgedrückt, unter denen der Continuo-Bass das vorher von den oberen Stimmen vorgetragende 3/8-tel-Motiv aufgreift, hier allerdings schon durch die dadurch entstehende Harmonik bereits im ersten Ton ebenfalls erschaudernd.


    Bei Koopman höre ich eigentlich nur den Grundaffekt des Schlafens. Die harten Disharmonien auf den 1/2- Noten werden dadurch kaschiert, dass sie in einem grösseren, stimmführungsmässiger Kontext mit weichen dynamischen Übergängen dargestellt werden.


    Anders bei Harnoncourt: Hier fährt man beim Einsetzen dieser liegenden Akkorde regelrecht zusammen und die Continuobässe spielen das ängstliche Zusammenzucken an der o.g. genannten Stelle sehr deutlich aus. Ich kann mich gut erinnern, wie mir beim ersten Hören vor vielen Jahren die Fieberschauer den Rücken heruntergelaufen sind.


    Auch die wiegenden 8-tel hören sich bei Koopman ruhig fliessend an, während sie vom Wiener Concentus mit einem stärkeren dynamischen Auf- und Ab gespielt werden, wobei auch das ABO keineswegs statisch musiziert.
    Ebenso setzt der Concentus das Mittel der Vibratodosierung im Verbund mit der Detaildynamik wesentlich bewusster ein: Non-Vibrato bei den akkordischen Fieberschauern, Vibrato bei bestimmten ausdrucksstarken Haupttönen oder auch bei längeren Tönen zum Ende hin einsetzend.


    Das ABO verbleibt schön "historisch korrekt" (wie manche vielleicht irrtümlich meinen) beim gepflegten Non-Vibrato, was ich als relativ langweilig empfinde. Ich wünschte mir da mehr Abwechslung.
    Dabei spielt dieses Orchester insgesamt mit einem geschliffenen, runden Klang, sauberer Intonation, hervorragendem Zusammenspiel und artikuliert recht weich.


    Ach ja, gesungen wird ja auch: Bei Koopman ist es die Altistin Bogna Bartosz und bei Harnoncourt der Counter-Alt Paul Esswood.


    Obwohl ich das Timbre von Esswood nicht immer so mag, ziehe ich hier doch auch seinen Gesang vor, weil er sich ausdrucksmässig in das - wie ich finde- expressivere und musikalischere Gesamtkonzept Harnoncourts einbringen darf. Bartosz hat für meinen Geschmack eine schöne Altstimme, doch muss sie sich ja dem sehr schläfrigen Grundansatz Koopmans anpassen. Für mich klingt das zwar sehr schön und ästhetisch, aber es fehlt das musikantische Feuer, das auch bei diesen ruhigen Affekten unter der Oberfläche brodeln sollte. Die Unebenheiten wurden begradigt....doch von Karajannismus auf alten Instrumenten möchte ich noch lange nicht sprechen.


    Natürlich ist es eben alles eine Frage der Interpretation: Wollte Bach, dass das Grauen nur als unauffällig hineinkomponiert gespielt wird? Dann würde es ein gewisses Unbehagen beim Hörer auslösen ( siehe auch MarcCologne)
    Oder wäre es mehr in seinem Sinne, wenn man diese grauenvollen Akkorde auch wie Fieberschauer spielt?


    Man kann ihn nicht fragen. Mir jedenfalls gefällt Harnoncourts emotionalere Aufführung dann doch besser, weil es mir so ganz einfach viel tiefer unter die Haut geht.
    (NB: ich bezweifle grundsätzlich aus eigener Erfahrung mit Komponisten, dass ein solcher auch immer am besten weiss, wie man das Werk am besten interpretiert)


    Dieser Eindruck zieht sich durch den weiteren Verlauf der Kantate:


    Das Tenorrezitativ leidet bei Koopman darunter, dass der Sänger es mir jedenfalls noch zu wenig "spricht", als das er es singt. Die von Koopman im vorgeschriebenen Triller und Vorhalte sind historisch gesehen zwar möglich, widersprechen aber irgendwie dem Ernst des Textes.
    Man hat fast den Eindruck, dass der Sänger irgend etwas schick-trillerndens, etwas "typisch Barockes" darstellen soll, was natürlich nicht tief genug greift.
    Bei Equiluz und Harnoncourt vergisst man trotz aller historischen Aufführungspraxis den gesamten barocken Kontext und wird vom eigentlichen Inhalt stärker ergriffen.


    Bei der Tenorarie mit den "schäumenden Wellen" höre ich vom ABO tendenziell nur schnell und korrekt gespielte Einzelnoten, aber keine dramatischen Wasserbewegungen, bei denen es um Leben und Tod, und vor allem um Belial geht.
    Anders beim Concentus musicus Wien: Ähnlich wie bei der legendären Aufnahme der Vier Jahreszeiten Vivaldis fetzt es hier vom ersten bis zum letzten Ton ( abgesehen von den sehr konstrastierend herausgespielten langsamen Teilen) in unnachamlicher Weise. Auch die Orgel darf bei den verminderten Akkorden "reinbraten" wie der Rockmusiker sagen würde.


    Auch Equiluz singt diese Arie expressiver und direkter als Dürmüller, was wohl zu einem nicht unerheblichen Teil an den sehr unterschiedlichen Dirigenten liegt.


    Das anschliessende Bass-Arioso wird in beiden Versionen sehr schön musiziert und gesungen, aber auch hier gefällt mir vor allem Harnoncourts charakteristisch sprechendes Cellospiel so gut, dass ich auch dieses Stück Musik am liebsten in der älteren NH-Version höre.
    Die häufig in diesem Stück vorkommene Figur der Interrogatio ( nicht nur am Schluss!) höre ich ebenfalls deutlicher bei Harnoncourt.


    Wiederum sehr deutlich wird der Unterschied bei der darauffolgenden Bassarie: Bei Harnoncourt werden die Figuren die die Affekte "Auftürmen" und "Befehl: Schweig!" sehr sehr deutlich ausgespielt. Wer hier nicht die barocke Affekten- und Figurenlehre mit eigenen Ohren miterlebt und gar nichts versteht, der sitzt ganz einfach auf denselben.


    Koopmans Orchester spielt historisch korrekt und durchaus lebendig. Dynamik und Artikulation sind m.E. aber in dieser tendenziellen Gleichförmigkeit noch nicht dazu angetan, die eigentliche Bedeutung der Notenketten (die- wenn man sie richtig spielt- in Wahrheit gar keine sind) verständlich und vor allem emotional nachvollziehbar zu vermitteln.


    Bemerkenswert ist vielleicht noch der grosse Unterschied bei der Interpretation des Schlusschorals, denn hier wird der eigentliche Nachteil der Harnoncourt-Aufnahmen deutlich: Der Knabenchor singt verglichen mit einem so hervorragenden Kammerchor wie dem Amsterdamer Barockchoir ziemlich unkultiviert, und setzt Harnoncourts Bitte nach pulsierenden Akzenten in skandiere Schwerpunkten um, die dann doch im Hinblick auf die geforderte Schlichtheit beim Vortrag eines Chorals störend auffallen.


    Die Amsterdamer singen da in einer anderen Liga. Ob man das Tempo so flott wählen muss, glaube ich zwar nicht, aber es geht so noch gerade.


    Fazit:
    Harnoncourts Bach mit dem von Koopman zu vergleichen ist so ähnlich wie der berühmte Vergleich mit Äpfeln und Birnen: Die beiden Interpreten sind vom Temperament und der ganzen musikalischen Grundeinstellung her grundverschieden. Manchmal liegen sie gar nicht so weit von einander entfernt, bei anderen Stücken hingegen sind es komplett andere Interpretationswelten.
    Koopman ist vielleicht etwas weniger der Mann für`s Dramatische während Harnoncourt das Kontrastreiche und das Theatralische sehr gut liegt. Durch diese Veranlagung wird das Orchester dazu angefeuert, die Klangrede möglichst plastisch und emotional engagiert umzusetzen. Überhaupt spielte der Concentus in dieser Phase sehr detailreich, schwungvoll und ausdrucksvoll, vor allem die Streicher.
    Bei Koopman wird eher ästhetisch zusammengeführt, während bei Harnoncourt die Spannungen der Intervalle sowohl von der horizontalen (linienmässigen) als auch von der vertikalen (harmonischen) Perspektive sehr gerne genussvoll ausgekostet werden. Wenn ich mich recht erinnere, sprach Rifkin ( über Harnoncourts Interpretationsansatz) irgendwann einmal von einer Art des sich Besaufens an diesen Dingen. Wenn ich mir seine Bachkantenaufnahmen dann anhöre, kann ich nur sagen: Ich besaufe mich gerne.


    Koopmans Vorteile liegen sowohl im durchsichtig- federnden (swingigen) Ansatz bei schnellen und freudigen Affekten als auch in seiner Fähigkeit, Lebendigkeit und Engagement mit einer nie zu Übertreibungen neigenden Ästhetik zu verbinden.
    Bei manchen Kantaten empfand ich es auch so, dass er sehr eindrucksvoll weiche und bittende Affekte vermitteln kann ( z.B. "Liebster Gott, erbarme Dich, BWV 179)


    Nun gut, manches gerät mir beim ihm zu schnell und anderes von der Ornamentik her zu verspielt.
    Auf der Habenseite ist aber immer auch sein wunderbarer Chor und viele gute instrumentale Einzelleistungen ( z.B. Jaap ter Linden am Continuocello)
    Grundsätzlich höre ich seine Kantatenaufnahmen sehr gerne und werde meine Sammlung weiter vervollständigen.


    Im vorliegenden Fall finde ich jedoch, dass die doch recht theatralisch angelegte Musik Bachs ( ganz anders etwa als Actus Tragicus !) hier dem aufwühlenden Musizieren Harnoncourts besonders gut liegt.
    Man kann es aber auch - je nach Geschmack- genau anders herum empfinden, zumal Koopmans Version ja grundsätzlich auf höchstem handwerklichen und auch künstlerischen Niveau anzusiedeln ist.


    Es ist wohl die Frage, ob man sich akustisch eher streicheln und den Genuss des ästhetischen Klangbildes liebt, ode rman sich eben auch noch zusätzlich verstören und erschrecken lassen will.


    Wer auf die Cover klickt und bei JPC in Auszügen nachhören möchte:


    Harnoncourt beginnt bei Track 15
    Koopman beginnt bei CD 3, Track 7


    Gruss :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Lieber Glockenton,


    danke für die ausführliche Beschreibung- und schön wieder einmal etwas von Dir hier zu lesen!


    Herzliche Grüße,:hello: :hello:


    Christian

    Beherrsche die Sache, die Worte werden folgen! (Cato der Ältere)