Lieber Sascha,
wenn ich Dein Beispiel mit dem Osmin aufgreifen darf: es ist völlig richtig, dass bei einer szenischen Realisation, wo dem Osmin auch darstellerisch etwas abverlangt wird, das Gesangliche oft nicht zur 100%igen Zufriedenheit gelingen wird - egal, ob bei den Läufen oder beim sicheren Ansteuern der tiefen Zielnoten. Das war aber auch schon früher so, auch, wenn sich die Art der darstellerischen Aktion verändert haben dürfte. Der Sänger des Osmin wird seinen Erfolg zu einem durchaus "gewichtigen" Teil aus der Darstellung ziehen können. Wenn man Fernando Corena nur hört, wird einem das wenig überzeugen, auf der Bühne kam er aber wohl auch in dieser Rolle an.
Während man früher den Osmin gerne mit schweren Stimmen besetzte (Frick, Böhme, Greindl - die allerdings auch unter Studio-Bedingungen, also ganz ohne Darstellung, nicht immer wirklich perfekt waren), gab es neue Eindrücke durch die sog. "Alte-Musik-Bewegung" - die Stimmen wurden leichter und agiler.
Die Frage, ob nun "früher" besser gesungen wurde, lässt sich eigentlich nicht richtig beantworten, da trifft das Wort von J. Rideamus zu, es war halt was anderes.
Ich persönlich schätze es, die Musik, den Gesang zu Hause ohne Bild erleben zu können. Der Musikgenuss zu Hause ist für mich qualitativ etwas anderes, als wenn ich ins Theater gehe, wo ich ein "Gesamtkunstwerk" erleben möchte - und nicht nur schönen Gesang hören will. Aber genau deshalb ist mein Anspruch an die auf Tonträgern festgehaltene Musik sehr gross - und es ärgert mich (bitte nicht ganz wörtlich nehmen), wenn schlechte Aufnahmen auf den Markt gebracht werden. Das gilt allerdings für Aufnahmen älteren Datums genauso, wie für neuere Einspielungen. Mit den "älteren" lässt sich nur eines trefflich widerlegen: das "früher" auch in der Musik alles besser gewesen wäre.
Kleiner Einschub: in Hannover musste der Alfredo während seiner Arie "De mei bolenti spriti" frühsportreibend auf einen Stepper. Und zum 3/4-Takt der Arie steppte der Tenor munter vor sich hin. Das ging ganz gut los, aber am Ende des Musikstückes war das T-Shirt des Sängers schweissnass. Ich fand wirklich bewundernswert, wie er die Atmung in dieser Szene gut unter Kontrolle behielt, nicht perfekt, aber für einen solchen Kraftakt respekterheischend. Was der gleiche Regisseur in seiner Berliner "Entführung" vom Osmin verlangte, passt zu Deinen Anmerkungen: es gibt szenische Aktionen, die korrektes Singen deutlich erschweren - es ist immer die Frage, was wird auf der einen Seite riskiert, was auf der anderen gewonnen.
Das war sicher früher anders - da würde ich Dir recht geben. Da kam eine Traubel oder ein Melchior auch recht statisch über die Runden, aber da hat sich eben im Theater etwas verändert.
Ich kenne den "Giovanni" von Jacobs nicht, habe aber Johannes Weisser schon live gehört, ich kann ihn mir als Giovanni vorstellen - aber natürlich kann man auch einen London oder Pinza dagegensetzen und wird feststellen, dass manches früher eventuell doch besser war.
LG