Kleine Technikgeschichte der Rockmusik

  • Hallo, liebe Musikfreunde,


    mit diesem Beitrag möchte ich ein kürzlich aufgeworfenes Thema aufgreifen und noch allgemeiner formulieren: Wie wirken sich technische Änderungen auf die Musikästhetik aus? Das könnte auch eine andere Sichtweise sein, um den vielen Diskussionen über moderne Musik oder E- und U-Musik eine andere Richtung zu geben.


    Hatte der Jazz eine eigene Harmonielehre entwickelt und die Improvisationskunst wiederbelebt, lebt die Rockmusik von ihrer Fähigkeit, die technologischen Möglichkeiten des Computer-Zeitalters auszuschöpfen. Dazu ein kurzer Überblick und eine Prognose über die weitere Entwicklung. (Zu allen Begriffen und Musikern liefert Wikipedia weiterführende Informationen, sehr hilfreich auch die Künstlerdatenbank Akuma und natürlich die Musikbeispiele bei YouTube).



    Tonstudio London Abbey Roads in den 1970ern


    Die klassische Musiktradition hat sich aus diesem Sektor bis auf die Übernahme neuer Tonträger-Technologien und Vermarktungs-Methoden fast völlig zurückgezogen. Überraschenderweise werden ausschließlich in einer sehr kleinen Nische die extrem technisch orientierten Richtungen zur "ernsten" Musik gezählt, die vom klassischen Verständnis von Musikalität am weitesten entfernt sind (so die Komponisten im Umfeld der westdeutschen Rundfunkstudios, elektroakustischen Instituten wie in Graz oder unabhängigen Insitutionen wie dem Pariser IRCAM, 'Kurzstückmeister' hatte weiter Gruppen wie Merzbow, Ikeda, Schmickler, Fennesz genannt). Einen Sondefall stellen die Minimalisten dar.


    Von daher ergibt sich mein Interesse an diesem Thema, auch wenn dies zunächst kaum mehr als eine Materialsichtung ist. Wie ist zu erklären, dass die neuen technischen Möglichkeiten nicht mehr von den überlieferten Unterscheidungskriterien der musikalischen Ästhetik erfasst werden können und pauschal in die "Unterhaltungsmusik" abgeschoben werden? Werden für die Ästhetik neue Kategorien notwendig, um neue Techniken wie Loops oder Samples, Erfindungsgabe für virtuose Spielgriffe (Tagging, Double Thumbing), Kreation immer neuer Genres (Weltmusik, Cross-Over, alle die Metal Varianten von Heavy Metal bis Trash Metal) angemessen beschreiben und Qualitätskriterien entwickeln zu können (wenn Qualität nicht ausschließlich durch Verkaufszahlen und erworbene Grammys gemessen werden soll)? Die Literatur über die Rockmusik hat eine eigene Sprache entwickelt, eine Mischung aus Engineering, Marketing und Computer Science. Wie sind Begriffe wie Format, Schema, Code, Arrangement in die Ästhetik einzuordnen? Handelt es sich nur um Verkaufsförderung, schrille Fan-Literatur, eine unterentwickelte Musik von Amateuren und ihren laienhaften Hilfsbegriffen, oder zeichnet sich eine Umwälzung der Musikästhetik ab?


    Seit dem Beginn der abendländischen Musik in Griechenland hatten feste Tonbeziehungen, Intervalle, Takte und später die Kontrapunktik mehrstimmiger Melodieführung die Elemente der Musikästhetik geliefert. Seit Beginn der Industrialisierung war versucht worden, sie auf mathematische und physikalische Elemente zurückzuführen (Helmholtz) und daraus Tongeneratoren zu erzeugen. Die Ergebnisse der elektroakustischen Musik in den 1950ern sind ernüchternd. Aber sie gaben neben Neuerungen im Instrumentenbau (wie z.B der E-Gitarre) Anregungen für eine künstlerische Entwicklung, die inzwischen weit genug gediehen ist, um sich ihrer eigenen musikästhetischen Elemente bewußt zu werden. Dies gibt Anregung zu mathematischen Fragen: Sind im künstlerischen Spiel der Rückkopplungen, Hall-Effekte und zusammengefügten Musik- und Bildfetzen neue Regeln erkennbar, die eine innere Verwandtschaft zu anderen neuen mathematischen Theorien wie den dynamischen Systemen oder formalen Automaten haben? Ist es sogar denkbar, dass die Mathematik der klassischen Musikästhetik dann als ein Grenzfall zu verstehen ist, so wie die klassische Physik in der modernen Physik aufgehoben ist?


    An welchem Punkt der Technikgeschichte hat sich die klassische Musik verabschiedet? Anfangs beteiligten sich Komponisten wie Erik Satie (Parade), Edgar Varese, Artur Honegger (Pacific 231) oder die Maschinenmusik von Mossolow sehr intensiv an experimentellen Versuchen, doch mit dem Einsatz der Elektronik seit den 1940ern hat sich das geändert. Offenbar verträgt die klassische Tradition nicht die grundlegenden Änderungen im Kompositions-Prozeß: Mit der Einführung elektronischer Techniken löst sich die Rolle des klassischen Komponisten (Autors) auf und verteilt sich auf ein Team mit unterschiedlichen Aufgaben (Produzent, Manager, Tontechniker, Starinterpret, Band). Wer ist der "Komponist" der Konzept-Alben der Beatles: John Lennon, George Martin, die ganze Gruppe? Wer ist der Komponist von Remixes, Cover-Versionen oder eines neuen Sound (wie z.B. der Motown-Sound): der ursprüngliche "Erfinder" der Melodie, der DJ, der neue Interpret, die Studiomusiker, die Produzenten und Tontechniker oder die Musikmanager (z.B. Brian Epstein, Andrew Oldham) mit ihren Ideen und Gespür, was für ein Sound am besten den Massengeschmack trifft bzw. welche noch im gesellschaftlichen Abseits stehende Hörer-Gruppe das Potential hat, die Zukunft des Massengeschmacks zu erobern (so z.B. das Publikum der Beatles und Yardbird in ihren Anfangsjahren)?


    Besonders schwer einzuordnen sind die Performances. Da gibt es Beispiele wie FM Einheit, die noch in erkennbarer Tradition stehen, was aber ist mit den Auswüchsen vor allem im Metal Sektor und ihrer Sexualisierung und Gewalttätigkeit, ganz zu schweigen von den Orgien, die Backstage stattfinden und zum Starkult gehören? Ist das die unvermeidbare Kehrseite einer Musik, die so sehr von neuer Technik und ihrer massenhaften Verbreitung lebt und damit offenbar die Persönlichkeit der Künstler überfordert? Gehört zur neuen Ästhetik der technik-getriebenen Rock- und Experimental-Musik eine bis dahin in der Musik unbekannte Destruktivität, und haben also die jahrtausendelangen Befürchtungen der Musik-Ästhetik recht, gewisse Maße nicht zu überschreiten? Die von Nietzsche aufgeworfenen Fragen des Apollinischen und Dionysischen stellen sich völlig neu.


    Viele Grüße,


    Walter

  • Nach einer langen Vorbereitungsphase (Lautsprecher, mechanische Klaviere und Walzen, Schallplatten, Rundfunkübertragungen) überschlägt sich die Technikgeschichte der Rockmusik und zeigt einen bisweilen bis zur Farce getriebenen Produktivitäts-Wahn. Ihre einzelnen Phasen lassen sich am besten analog zu den 10-jährigen Generationen der EDV-Industrie ordnen:


    1943 - 1953: Pionierphase. Elektrisch verstärkte Gitarren von Leo Fender (Firmengründung 1946) und Les Paul, der 1941 den ersten Prototypen einer Solid Body Gitarre baute. Musikalisch nutzte als erster Muddy Waters stilprägend die neuen Möglichkeiten. Pierre Schaeffer gründete 1944 als Radioingenieur das RTF Studio in Paris. 1951 folgte die Gründung des Studio für Elektronische Musik beim WDR in Köln durch Herbert Eimert.


    1953 - 1963: Durchbruch von Musikrichtungen, die die neue Technik einzusetzen verstehen (Rock'n Roll, Free Jazz, britischer Blues als unmittelbarer Vorläufer der Beatmusik, gewissermaßen kontrapunktisch die Folk-Musik bis zu ihrer Integration in die Rockmusik) (Chuck Berry, Elvis Presley, Ornette Coleman, Alexis Korner, Bob Dylan)


    1963 - 1973: Synthesizer und elektrische Verzerrung von Gitarrenmusik durch unterschiedliche Effektgeräte zur Tonbearbeitung (Summer of love, Woodstock, Altamont, Gitarrenheroen: Hendrix, Clapton, Jeff Beck, Keith Richards, Stile von den Beatles bis zu MC5, Velvet Underground, Miles Davis, Keith Emerson, Kraftwerk). Musikmanager wie Oldham (spektakulär das von ihm geschaffene aggressive Bild der Stones und die Verdrängung des Blues-Musikers Brian Jones) und Produzenten wie Tom Wilson, Phil Spector, George Martin oder Quincy Jones geben der Musik ein völlig neues Profil: Konzept-Alben, psychedelische Musik, Sounds. Gleichzeitig Annäherung an Jazz und Rock im Minimalismus (Reich, Glass) bis zu einem Punkt, wo der Minimalismus kaum mehr als E-Musik anerkannt wird.


    1973 - 1983 Neue extrem schnelle Grifftechniken auf Gitarre und Bass, erste Digitalisierung (Tagging, Digitales Sampling, Loops) (Eddie Van Halen, Enver Izmailov mit osteuropäischen Akzenten, Funk Bass, sehen- und hörenswert Victor Wooton und Marcus Miller, Gitarristen wie Steve Lynch, Steve Vai, Joe Satriani, Jennifer Batten, aber auch in der Tradition von Pierre Schaeffer sehr erfolgreiche Vermarktungen wie Jean-Michel Jarre), als Gegenbewegung die Besinnung auf die Wurzeln des Rock (Reggae, Punk).


    1983 - 1993: Digitalisierung und Privatfernsehen (CD, Musikvideos, MTV) (Michael Jackson, Madonna, HipHop, experimentelle Früh-Phase der Techno-Musik etwa durch Prodigy), dominierende Rolle der DJs (das Mischpult löst als stilbildendes "Instrument" die E-Gitarre ab, spätestens hier sind alle Brücken zur klassischen Musik abgebrochen)


    1993 - 2003 PC-unterstütztes Komponieren, Software-Sythesizer, Auto-Tune, Musikverteilung über das Netzwerk (Downloads, MP3)


    2003 - 2013 Social Network (YouTube, MySpace, Facebook)


    2013 - ... weiter miniaturisierte und vernetzte Technologie, vermutlich auch völlig neue Raumeffekte


    Offenbar lösen stärker technisch und künstlerisch dominierte Phasen einander ab. Hatte etwa das Jahrzehnt 1953-63 äußerst viele musikalische Ideen gebracht und war ab 1963 geradezu eine Explosion der Stile zu erleben, ist seit 1993 ein gewisse künstlerische Stagnation zu beobachten.


    Ich kann mir auch nur schwer vorstellen, dass die künstlerische Entwicklung innerhalb von Konzernen wie MySpace verbleibt und dort nicht ausbricht. Vermutlich ist auch innerhalb des Social Network das Entstehen von Independent Netzwerken notwendig vergleichbar der Indenpendent-Bewegung der 1980er. Das würde der Open Source Initiative im Bereich der Software-Entwicklung entsprechen. Es könnte durchaus noch bis 2013 zu gravierenden Veränderungen innerhalb des Social Network kommen, was mir als eine Voraussetzung erscheint, damit sich das kreative Potential frei entfalten kann.


    Und dann könnte dank zahlreicher neuer technischer Entwicklungen die kritische Masse erreicht werden für eine neue künstlerische Richtung. Die Miniaturisierung, die Vernetzungsmöglichkeiten und intelligente Materialien sind inzwischen so weit entwickelt, dass es zu einer neuen Welle von Instrumenten mit ganz neuen Möglichkeiten kommen kann (ein möglicher Vorbote ist das Tenori-on), zu ungeahnten Rückkopplungseffekten nicht nur innerhalb der Verstärkung einzelner Instrumente, sondern auch in gegenseitigen Resonanzeffekten, völlig neuen Light-Shows und Raumeffekten etwa mit dem Einsatz selbstleuchtender Folien, die auf Geräusche reagieren (Christo als Vorläufer). Dank der Miniaturisierung wird es sich wahrscheinlich um allgemein verfügbare Instrumente handeln, die jeder erwerben kann, was die Abhängigkeit von großen Studios und "Hardware"-Lieferanten lockert. Es würde dem weltwirtschaftlichen Trend entsprechen, falls schon ab 2013 oder spätestens 2023 neue Innovationen aus China kommen, das bereits mit der Show zur Olympiade 2009 eine ungewöhnliche Vorstellung geboten hat.

  • Zitat

    Original von Walter.T
    1953 - 1963: Durchbruch von Musikrichtungen, die die neue Technik einzusetzen verstehen (Rock'n Roll, Free Jazz, britischer Blues als unmittelbarer Vorläufer der Beatmusik, gewissermaßen kontrapunktisch die Folk-Musik bis zu ihrer Integration in die Rockmusik) (Chuck Berry, Elvis Presley, Ornette Coleman, Alexis Korner, Bob Dylan)


    Wenn einer hier genannt werden sollte, dann ist es Bill Haley. Mit seinem Band "The Comets" hat er vermutlich das Terrain für Rock and Roll geebnet, als er den Song "Rock Around the Clock" ausbrachte.


    LG, Paul

  • Zitat

    Original von Walter.T
    An welchem Punkt der Technikgeschichte hat sich die klassische Musik verabschiedet? Anfangs beteiligten sich Komponisten wie Erik Satie (Parade), Edgar Varese, Artur Honegger (Pacific 231) oder die Maschinenmusik von Mossolow sehr intensiv an experimentellen Versuchen, doch mit dem Einsatz der Elektronik seit den 1940ern hat sich das geändert. Offenbar verträgt die klassische Tradition nicht die grundlegenden Änderungen im Kompositions-Prozeß: Mit der Einführung elektronischer Techniken löst sich die Rolle des klassischen Komponisten (Autors) auf und verteilt sich auf ein Team


    Das ist doch einfach falsch.
    Die klassische Musik hat sich nie verabschiedet.
    Die E-Gitarre zählt zwar nicht zum Standard-Instrumentarium, aber die Elektronik ist aus der ernsten Musik seit 1950 nicht mehr wegzudenken. Und zwar bis heute.

  • Hallo Walter.T,


    vielen Dank für diesen interessanten Thread.


    Ich halte noch das in den frühen 70er Jahren äußerst beliebte Mellotron (das die Klangfarben von Magnetbändern abruft) hier für wichtig, das für das Klangbild verschiedener Progressive-Rock-Bands (Genesis, King Crimson u.a.) charakteristisch ist. Progressive Rock wäre hier sowieso ein wichtiges Stichwort. Da geht es durchaus um kompositorische und nicht nur um instrumententechnische Erneuerungen.


    Bitte noch "Trash Metal" in die korrekte Bezeichnung "Thrash Metal" korrigieren.

    „People may say I can't sing, but no one can ever say I didn't sing."
    Florence Foster-Jenkins (1868-1944)

  • Zitat

    Original von musicophil


    Wenn einer hier genannt werden sollte, dann ist es Bill Haley. Mit seinem Band "The Comets" hat er vermutlich das Terrain für Rock and Roll geebnet, als er den Song "Rock Around the Clock" ausbrachte.


    LG, Paul


    Auf den Punkt gebracht, oder anders: Dieser Bill Haley hat da wirkliche Pionierarbeit geleistet, die Chuck Berry noch weiter ausgebaut hat, ehe dann mit den frühen Beatles der unaufhaltsame Durchbruch gelang.

    alle Menschen werden Brüder ...

  • Die Hinweise zur Rockgeschichte greife ich gern auf und werde sie in die überarbeitete Version auf meiner Homepage ergänzen.


    Gerade zum Stichwort "Progressive Rock" ist der Eintrag in Wikipedia lesenswert. Stärker betonen möchte ich die Bedeutung der aus der Londoner Blues-Szene hervorgegangenen Musiker wie Dick Heckstall-Smith, John McLaughlin, Graham Bond, Jon Hiseman und der von ihnen gegründeten Gruppen wie "Colosseum" oder "Mahavishnu Orchestra", nach wie vor sehr hörenswert. Selten schien die Möglichkeit eines kreativen Austauschs mit der klassischen Musik so greifbar wie damals.


    Viele Grüße,
    Walter