Schuberts Winterreise in liedanalytischer Betrachtung

  • Ja, das kann passieren! Da hat Wolfram natürlich recht. Und recht hat er auch mit der Feststellung, dass allein wichtig sei, dass Schubert den Überblick über sein Werk behalten hat und dass demgegenüber alles andere sekundär sei.


    Das Problem ist nur: Unsereiner ist kein Schubert, und er verfügt noch nicht einmal über die fachwissenschaftliche Kompetenz für ein solch aberwitziges Vorhaben wie die liedanalytische Betrachtung der Winterreise. Der Schrecken wurzelt in der tiefen Ahnung, dass man sich mit diesem Thread übernommen haben könnte.


    Es gibt aber noch einiges zu dem Lied "Gefrorne Tränen" zu sagen, vor allem die Deutung des Schlusses betreffend. Diesen interpretiert nämlich Dietrich Fischer-Dieskau anders, als ich das hier getan habe. In seinem Buch "Franz Schubert und seine Lieder" (Frankfurt/ Leipzig 1999) meint er auf Seite 456:


    "Erst bei "und dringt doch aus der Quelle ..." setzt volle Wärme des Empfindens ein. Was zunächst fragend formuliert war, entpuppt sich nun als gegenstandslos, denn Tränen, die "aus der Brust so glühend heiß" quillen, kontrastieren und vereinigen sich zugleich in "des ganzen Winters Eis."


    Das liest sich für mich so, als wenn der Wanderer bei den Schlussversen des Liedes aus der zuvor in den beiden ersten Strophe bestehenden - und auch musikalisch artikulierten! - Gegensätzlichkeit von Innenwelt und Außenwelt herausgetreten wäre und die Feindlichkeit dieser winterlichen Außenwelt mit der Flut seiner heißen Tränen gleichsam überwältigt hätte, - jedenfalls für diesen Augenblick, in dem er so viel Emphase in seine Kantilenen legt.


    Wenn Fischer-Dieskau das so gemeint hat, wie ich es hier lese, dann könnte ich mit ihm in der Auslegung dieses Liedschlusses nicht übereinstimmen. Für mich hat sich der Wanderer mit den Versen "Und dringt doch aus der Quelle..." in eine Art rauschhaftes Erleben der Innigkeit und Leidenschaftlichkeit seines Seelenlebens hineingesteigert, das ihn die Feindlichkeit der winterlichen Außenwelt für einen Augenblick völlig vergessen lässt. Diese bleibt aber weiterhin existent, und sie behält weiterhin ihren menschenfeindlich abweisenden Charakter.


    Mein Argument für diese Interpretation: Schubert wiederholt im Klaviernachspiel das Vorspiel in nahezu identischer Form. Es ist wieder dieses stakkatohafte "Tropfen" im Klavier zu hören, und zwar über drei Takte. Bis es dann in die akkordischen Viertel und Achtel mündet und im Pianissimo der Oktaven im Klavierbass ausläuft.


    Wenn Schubert die Verse Müllers so gelesen hätte, dass sich die Tränen des Wanderers am Ende auf gleichsam harmonische Weise mit "des ganzen Winters Eis" vereinigen würden, dann hätte er doch wohl ein anderes, eben mehr versöhnliches Nachspiel komponiert.

  • Der Schrecken wurzelt in der tiefen Ahnung, dass man sich mit diesem Thread übernommen haben könnte.


    Das glaube ich nicht. Vielleicht nur eine Frage der Zeit. - Mein "Miniprojekt", meine Aufnahmen der Winterreisen kurz zu besprechen, steckt momentan auch nach den Bassbaritönen fest. Die Aufnahmen mit Frauenstimmen liegen genauso wie die sieben Aufnahmen mit Dietrich Fischer-Dieskau neben dem CD-Spieler, und ich komme nicht dazu, diese in Ruhe zu hören. Ich wollte schon längst fertig sein. Na ja, es läuft ja nichts weg.


    Im Übrigen ist das Kontroverse der Auseinandersetzungen, die es hier gab, ja auch nur dem hohen Niveau der Thesen zu verdanken. Wenn jemand schreibt "Lied Nr. 17 gefällt mir am allerbesten", dann gibt es ja nicht viel, an dem man sich reiben könnte bzw. wollte. - Im anderen Thread ist das Wort "apodiktisch" gefallen, das trifft schon ganz gut, wenn ich überlege, was mich dazu gebracht hat, wider den Stachel zu löcken. Das Schöne ist doch, dass wir in zehn Jahren (hoffentlich!) über unsere Gewissheiten von heute schmunzeln können. - Ist ironische Distanz zu sich selbst heilsam - für alle?

  • Hallo farinelli,


    Zitat aus Beitrag Nr. 9:
    "Ich kann mir den Zeitpunkt meiner Reise nicht aussuchen (warum eigentlich nicht?) und muß mir daher, da es jetzt dunkel ist, selbst meinen Weg suchen. Gleich darauf aber ist indirekt vom Mondschein die Rede, noch dazu auf einer Schneefläche (weiße Matten) - doch damit nicht genug; aus ganz unerfindlichen Gründen gestaltet sich das Selbst-Wegweisen jetzt als waidmännische Spurensuche."


    Ja, "warum eigentlich nicht"; da frage ich mich, warum Du Dich das fragst? (Wer so abserviert wird, der will nur noch weg, ganz weit weg und zwar sofort.)
    Ich gehe davon aus, dass Du den Unterschied von Sicht bei Tageshelle und Mondschein kennst.
    "Die unerfindlichen Gründe" lassen sich ganz einfach erklären: Im Schnee (wie hoch?) läuft es sich in Wildwechseln leichter.



    Zitat aus Beitrag Nr. 82 "Sprache und Musik im Lied":
    "Ei Tränen, meine Tränen und seid ihr gar so lau? fragt ja auch nicht nach der Temperatur einer Körperflüssigkeit, sondern nach der Intensität des Leidens."


    Doch Temperatur; das ist eben das Bild, dass der Schmerz so groß ist, dass die Temperatur der Tränen eigentlich viel höher sein müsste, wenn sie zum Schmerz äquivalent sein wollte, sodass die Tränen nicht gefrieren könnten.


    Zitat wie vor:
    "Aber das Gedicht stellt, genau besehen, bloß die gefrorenen Tränentropfen heraus; und der ganze Dialog, das scheinheilige Selbstgespräch des Gedichts ist allzu fühlbar von der Symbolik her konstruiert. Ein typischer Fall, wo das Unbewußte und das Absichtsvolle eine zu nahe Verbindung eingehen.
    Daß jemand weint, ist rührend; daß jemand gar nicht merkt, wie er weint, ist erschütternd. Aber daß jemand sagt: Oh, ich merke, ich habe gar nicht gespürt, daß ich weine - meine Tränen sind ja gefroren! - das ist ein auf den Hörer hin kalkulierter Effekt; hier kippt das Lebenswahre, Volkstümliche in einen Symbolismus um, den ich "triefend" finde".


    Das stimmt eben nicht, es steht nicht im Text, dass die Tränen gefroren sind. Das Lebenswahre spielt sich, gemäß Text, so ab:
    Der Wanderer spürt, das "gefrorne Tropfen" - nicht Tränen! - von seiner Wange fallen (jeder der schon mal Ähnliches erlebt hat, weiß, dass dies unterschiedliche Ursachen haben kann, z. B. Atemdunst, der sich an der Brille niederschlägt, am Brillenrand kondensiert, von dort auf die kalte Wange tropft - oder das Auge "tränt" aufgrund von Wind und Kälte - und sofort anfriert und dann irgendwann abfällt); nachdem der Wanderer also diesen oder ähnlichen Vorgang ausschließen kann, fragt er sich im Selbstgespräch, "…und ist's mir denn…" (Schubert macht der besseren Sanglichkeit wegen aus "ist's - zuviel s - …"ob es mir denn…") - ich habe nicht gemerkt, dass die gefrornen Tropfen geweinte Tränen sind.
    Wo "trieft" da bitte das "scheinheilige" Selbstmitleid?


    Auch bei "Will dich im Traum…" siehe Beitrag Nr. 22 drehst Du den Text um, mit der Folge einer ?Interpretation?


    Die Winterreise ist keine tatsächliche Winterwanderung, aber sie bedient sich dieser Bilder um den seelischen Vorgang beim Wanderer verständlich darzustellen.


    Wenn Du es nicht magst und für falsch hältst, dass Textinterpretationen von Dir, zwar sehr selten, aber doch, in Frage gestellt werden, dann wäre es hilfreich zu erfahren, was Du an meiner Gegenmeinung für falsch hältst.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Schubert komponiert generell äußerst textnah, sowohl was die syntaktische Struktur der lyrischen Sprache betrifft, wie auch im Hinblick auf ihren semantischen Gehalt. Man kann also, was die "Winterreise" anbelangt, aus der musikalischen Faktur der Lieder ablesen, wie Schubert selbst die Gedichte Wilhelm Müllers gelesen hat. Dies zeigt sich auch bei dem Lied "Gefrorne Tränen".


    Auf der semantischen Ebene enthält die erste Strophe folgende Aussagen: Der Wanderer bemerkt, dass "gefrorne Tropfen" von seinen Wangen abfallen. Er artikuliert diese Beobachtung in Form einer einfachen Feststellung. An dieser Stelle weist Müllers Text nun einen Doppelpunkt auf, und das heißt: Der zweite Vers öffnet sich für die beiden folgenden Verse.


    Diese artikulieren, schon an der Syntax erkennbar, eine Frage, die mit der Partikel "Ob" eingeitet wird. Der Wanderer hat eine Erklärung für den in den beiden ersten Versen festgestellten Sachverhalt gesucht, und er iditifiziert die gefrorenen Tropfen als Tränen. Nun fragt er sich, ob er wohl geweint haben könne, ohne dass er dies bemerkt hat.


    Warum diese detaillierte Textanalyse? Weil sich damit zeigt, dass man Müller nicht vorhalten kann, er habe in dieser Strophe (wie im ganzen Gedicht) ein lyrisches Symbol, die Tränen nämlich, in manipulativer Weise für die Erzielung eines Rührungseffekts beim Leser eingesetzt. Zweiterbass hat sich in seinem letzten Beitrag hier u.a. mit dieser These auseinandergesetzt.


    Schubert hat die erste Strophe ganz offensichtlich genauso gelesen. Er hat die Frage, die sich der Wanderer gestellt hat, so wörtlich und damit ernst genommen wie sie dasteht. Die beiden ersten Verse werden in einer fallenden melodischen Linie silbengetreu deklamiert. Schubert will hier offensichtlich mit musikalischen Mitteln den sprachlich-lyrischen Ton einer Feststellung aufgreifen. Auf die erste Silbe von "fal-len" legt er eine halbe Note und fügt dann einen Tonschritt um eine Terz nach unten an, um in Tönen den semantischen Gehalt des Wortes "fallen" wiederzugeben.


    Die sich anschließende Frage wird jedoch musikalisch ganz anders gestaltet. Die Tonart wechselt unvermittelt von f-Moll nach As-Dur, und gleichzeitig erfolgt ein rhythmischer Bruch: Das Wort "Ob" trägt unerwartet einen Ton. Es wird zusammen mit den nachfolgenden Silben "es", "mir" "denn" "ent-" und "gan-" (gen) auf einem Ton (einem hohen d) deklamiert.


    Diese musikalische Faktur löst, wenn man sie musikalisch realisiert hört, den Eindruck aus, dass hier jemand unsicher, und doch zugleich nachdrücklich, mit einer Frage einem Sachverhalt nachgeht, der ihn in Verwunderung versetzt hat: Geweint zu haben, ohne dass einem dies bewusst geworden ist.

  • Hallo,


    mein Beitrag Nr. 33 (der Esel nennt...), besonders aber Helmuts wesentlich effizienterer Beitrag beweisen einmal mehr, wie wichtig es ist, vor der Frage des Verständnisses einer Liedvertonung ein sauberes Textverständnis zu haben.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Die Eiseskälte der Außenwelt zeigt sich in diesem Gedicht Müllers in ihrer ganzen, jeden Wunsch nach Geborgenheit brutal abweisenden Unmenschlichkeit. Alle Spuren eines ehedem glückerfüllten Lebens sind unter Eis und Schnee begraben. Der Wanderer möchte diesen Panzer "mit seinen heißen Tränen" durchdringen, um wenigstens diese Spuren eines Lebens noch einmal vor Augen zu haben, das ihm verlorengegangen ist, aber er artikuliert diesen Wunsch im Konjunktiv: Er weiß, dass er keine "Blüte" und kein "grünes Gras" finden wird.


    All das, was mit Leben zu tun hat, seinem Leben und Leben überhaupt, das ist "erstorben". Auch sein Herz ist das. Und wie in einer Art Angstvision taucht der aberwitzige Gedanke auf: Wenn sein schon längst zu Eis gewordenes Herz je wieder auftauen sollte, dann würde auch das darin eingefrorene Bild der Geliebten auftauen und ein für allemal entschwinden.


    Ein kurzer Blick in die Noten von Schuberts Komposition, - und ein Eindruck hat sich eingeprägt: Eine wahre Flut von Achtel-Triolen im Klavierdiskant, von Bögen überspannt. Man muss das Lied gar nicht erst hören, um zu wissen, dass es voll innerer Bewegung ist. Dann liest man den Titel und stutzt: "Erstarrung". Wie geht das zusammen?


    Es geht, denn Schubert hat den lyrischen Text Müllers mit den ihm eigenen Aussagen in Musik gesetzt. Und da ist zunächst einmal die seelische Erregung in Form von sehnsuchtsvoller Erinnerung und drängenden Fragen zu lesen. Diese innere Unruhe des Wanderers spiegelt sich in den Triolen des Klaviers. Aber da gibt es ja noch den Klavierbass. Und der wirkt in bezug auf die melodische Linie der Singstimme wie ein Kontrapunkt.


    Zu hören gleich am Anfang. Bei "Ich such im Schnee vergebens..." steigt die melodische Linie, einer Art innerem Drang folgend, nach oben, und der Klavierbass konterkariert sie mit einer Bewegung nach unten, mit tiefen Triolen auf dem Wort "Tritte". Es ist, als würde in all die Erregung in der Bewegung der melodischen Linie der Singstimme (Tempovorschrift: "ziemlich schnell"), eine Art Erstarrung einkehren, weil die Gleichförmigkeit der Triolen sich, zusammen mit dem kontrapunktischen Klavierbass, wie eine Art musikalische Decke über sie legt.


    Die regierende Tonart dieses Liedes ist c-Moll. Aber bei "Ich will den Boden küssen..." wechselt die Tonart, und eine Art Trotz kommt in die melodische Linie, der von den sich gleichförmig nach oben bewegenden Triolen wie unterstützt und verstärkt wirkt. Dieser dringliche Vorsatz des Wanderers, der doch gar nicht realisierbar ist, wird noch einmal wiederholt, eben weil er aus dem Herzen kommt. Der weit ausholende melodische Bogen über "mit meinen heißen Tränen" zeigt das sehr deutlich. Er mündet in die Vision: "bis ich die Erde seh".


    An dieser Stelle scheint die Bewegung im Klavier wie in einer Art vorübergehenden Beruhigung auszulaufen: Die Achteltriolen fließen zwar weiter, aber große Oktaven im Diskant flößen ihnen erst einmal Ruhe ein, damit sie sich in einer dreitaktigen Pause der Singstimme auslaufen können.


    Das nachfolgende "Wo find ich eine Blüte..." wird in der Singstimme in eindringlicher Weise auf kurzen Tonintervallen deklamiert, wobei durchweg im Pianissimo kleine melodische Bögen geschlagen werden, die einen Klageton suggerieren. Dabei wird der Wechsel der Tonart als musikalisches Ausdrucksmittel eingesetzt.


    Das geschieht nicht nur an dieser Stelle des Liedes, sondern ist durchweg zu beobachten. Vor allem spielt dabei eine große Rolle, wie Schubert den Dominantseptakkord einsetzt. Er findet sich immer wieder, so bei "mit meinen heißen Tränen", "wo find ich grünes Gras?" und "wenn meine Schmerzen schweigen". Da dieser Akkord, mehr noch als die normale Dominante, nach Auflösung hin zur Tonika regelrecht drängt, macht er auf eine höchst eindringliche Weise die Intensität der Gedanken und Gefühle nachvollziehbar, die der Wanderer hier artikuliert.


    Wenn am Schluss, bei der langen Dehnung der melodischen Linie auf "ihr Bild", die Grundtonart c-Moll wieder erreicht ist, hat der Hörer das Gefühl, von der großen Innenspannung wie erlöst zu sein, die von dem Wanderer auf ihn übergegangen ist.

  • Caro secondo,


    nun also - ich geh in der Kälte; mein Auge tränt als Frostreaktion; ich bemerke das erst an den "gefrornen Tropfen" - alle sich daran anschließenden Reflexionen über unbewußtes Weinen und heiße Tränen scheinen mir dann erst recht aufgesetzt und unangemessen, künstlich. Das ist halt meine Meinung; wenn ihr alle es anders seht, hab ich nix darwider.
    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • aber er artikuliert diesen Wunsch im Konjunktiv: Er weiß, dass er keine "Blüte" und kein "grünes Gras" finden wird.


    Lieber Helmut,


    denn Text habe ich mir gewiß 10 - 15 x (in Abständen!)durchgelesen - ich lese und finde keinen Konjunktiv.


    Ich lese einen nicht realisierbaren Willen (2. Strophe), der aber eigentlich die Tiefe seiner Betroffenheit ausdrücken will; dann geht es um die Frage nach lebender Natur, wo ihn nur abgestorbene Natur umgibt. (Was auch wieder nur eine Allegorie ist - die Folgen einer Antwort auf die Frage nach dem "Wo" ängstigen ihn in der letzten Strophe.)


    Mit der Bitte um Aufklärung,
    viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Zitat zweiterbass:


    "...ich lese und finde keinen Konjunktiv."


    Völlig richtig gelesen! Weiß der Teufel, wie ich auf den Konjunktiv gekommen bin. Das ist jetzt schon das zweite Mal, dass mir die einzelnen Lieder der Winterreise durcheinandergeraten.


    Ich wiederhole noch einmal, was ich schon sagte: Diese "Winterreise" macht mir schwer zu schaffen. Hätte ich doch nur die Finger davon gelassen!


    Aber gut, dass das überprüft wird, was man hier so von sich gibt!

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  • Lieber farinelli,


    da wird in der Liedüberschrift eine Tatsache vorweg genommen, was sich erst später im Text ergibt - ist das ein Erwartungshorizont?
    Natürlich kannst Du (Du darfst sogar!!!) Deine Meinung behalten; es ist die Frage, was der Text hergibt - wenn die Tränen erwartet werden, ist das anfangs des Gedichtes reine Spekulation.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Aber gut, dass das überprüft wird, was man hier so von sich gibt!


    Lieber Helmut,
    das soll aber, bitte, nicht als Beckmesserei rüberkommen - so ist das bestimmt nicht gemeint!
    Es geht mir nur darum, dass ich nicht falsch liege (stelle meine Meinung fast immer in Frage).


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Wie kompliziert das sprachliche Leben hier im Forum sein kann, das habe ich schon oft erlebt. Und hier jetzt wieder.


    Eigentlich hatte ich geschrieben: "Aber gut, dass das mitgelesen wird wird, was man hier so von sich gibt!" Dann dachte ich: "mitlesen" kannst du so nicht stehen lassen, denn die aktiven Taminoaner sind ja mehr als einfach nur Leser, die schreiben ja doch so wie Du. Also habe ich geändert in "überprüfen" denn das ist mehr als einfach nur "lesen", ist eine Form der aktiven Beteiligung. Und damit habe ich dann bei zweiterbass diese Reaktion ausgelöst:


    "...das soll aber, bitte, nicht als Beckmesserei rüberkommen - so ist das bestimmt nicht gemeint!"


    "Überprüfen" war also, das sehe ich jetzt, auch das falsche Wort. Ein interessantes sprachliches Spiel ist das hier.


    Drum in aller Deutlichkeit:


    Ich habe diese Nachfrage von wegen des Konjunktivs im Traum nicht als Beckmesserei verstanden. Im Gegenteil! Ich bin überaus dankbar für derlei aktive Teilnahme an diesem Thread!

  • Im Autograph des Liedes "Erstarrung" ( das übrigens einen ziemlich chaotischen Anblick bietet! ), findet sich oben links über den Notenlinien in deutscher Schrift die Tempovorschrift "Nicht zu geschwind". Die Urfassung in der Edition Peters gibt an: "Ziemlich schnell". Schubert muss also die Tempovorschrift vor der Drucklegung der "Winterreise" geändert haben. Warum?


    Könnte es sein, so frage ich mich, dass es Schubert letzten Endes darauf ankam, diesen Effekt, der von den dahineilenden Achteltriolen im Klavierdiskant ausgeht, auf keinen Fall zu gefährden? Die Tempovorschrift "Nicht zu geschwind" hätte das ja durchaus bewirkt!


    Also muss für ihn weniger das thematische Stichwort "Erstarrung" der leitende Gedanke bei der Komposition des Liedes gewesen ein, sondern vielmehr der innere Zustand des Wanderers. Und der ist von äußerster seelischer Erregung geprägt. Man könnte vielleicht noch weiter gehen und sagen: Hier steigert sich einer in seiner seelischen Erregung derart stark in die Bilder hinein, die aus der Tiefe seiner Seele aufsteigen, dass er alle rationale Kontrolle über sich verliert und bizarre Visionen, bis hin zu Angstvorstellungen hervorbringt: Das erfrorene Bild der Geliebten in seinem "erstorbenen" Herzen könne ihm entschwinden, wenn dieses Eis schmilzt.


    Übrigens eine Anmerkung hierzu: Im Autograph stand hier ursprünglich "erfroren", und Schubert selbst hat mit schwärzerer Tinte nach der Silbe "er-" "storben" über das "froren" geschrieben. Das "froren" kann man aber noch lesen.


    Schubert wurde wohl von dieser großen Erregung in der seelischen Innenwelt des Wanderers in Bann geschlagen und antwortete darauf kompositorisch zunächst einmal mit den starrsinnig davonlaufenden Triolen. Das genügte ihm aber nicht. Er setzte zusätzlich das Mittel der Wiederholung ein. Wiederholt wird aber nur der Text Müllers. Die jeweilige musikalische Faktur wird dabei modifiziert, und zwar in der Form, dass die Textwiederholung wie eine Steigerung der Intensität dessen wirkt, was der Wanderer artikuliert.


    Besonders auffällig ist dieses kompositorische Prinzip und der damit verbundene Effekt bei der Wiederholung der Anfangsverse der zweiten Strophe ("Ich will den Boden küssen..."). Beim ersten Mal (Takt 24 f.) beschreibt die melodische Linie einen Bogen von einem "dis" über ein punktiertes "h". Bei der Wiederholung setzt sie hingegen gleich beim "h" an und kehrt wie in einer Besessenheit immer wieder zu diesem Ton zurück (Takt vierunddreißig bis achtunddreißig ).


    Es ist wohl tatsächlich so, dass Schubert sich bei der Komposition nicht von den Konnotationen der Überschrift dieses Gedichtes leiten ließ, sondern von dem, was das lyrische Ich in den einzelnen Strophen artikuliert. Dabei greift er in den lyrischen Text stark ein, und das nicht nur, indem er sprachliche Änderungen vornimmt, sondern vor allem dadurch, dass er mit dem kompositorischen Mittel der modifizierten Wiederholung von Textpassagen die Besessenheit des Wanderers von den Bildern seiner seelischen Innenwelt ins Extreme steigert.

  • Wenn auch die "Winterreise" keine Handlung im Sinne einer narrativen Grundstruktur aufweist, vielmehr eine Aufeinanderfolge von Liedern darstellt, die gleichsam "Einzelbilder" oder "Momentaufnahmen" aus dem Leben eines Menschen darstellen, der sich in eine existenzielle Grenzsituation geworfen fühlt, so kann man doch in dieser Abfolge eine gewisse Entwicklung feststellen.


    Diese Entwicklung zeichnet sich bereits in den ersten vier Liedern ab. Sie stellt sich als ein immmer ausgeprägteres Auf-sich-selbst-Zurückgeworfensein des lyrischen Ichs dar. War in den beiden ersten Liedern der Blick des Wanderers noch deutlich auf die Außenwelt gerichtet, auf das Haus des "Mädchens" und auf die "Wetterfahne" oben drauf, so nimmt er schon im dritten Lied die Beobachtung eines Phänomens der Außenwelt zu Anlass, sich sofort in seine seelische Innenwelt zu vertiefen und darüber nachzudenken, wieso denn seine Tränen gefrieren können, wenn sie aus einem derart glühenden Herzen kommen. Hier bereits könnte man von den Anfängen einer Auseinandersetzung mit psychischen Obsessionen sprechen.


    Voll ausgeprägt ist das bei dem Lied "ERSTARRUNG". Es ist mit seinen über einhundertacht Takte hineilenden Achteltriolen von einer Leidenschaftlichkeit geprägt, wie das bei keinem anderen Lied der "Winterreise" sonst der Fall ist. Nur das kurze Hinüberschwenken der Harmonik nach As-Dur in der dritten Strophe ("Wo find ich eine Blüte...") scheint eine kurze Beruhigung der inneren Erregung zu bringen, die dieses Lied prägt, zumal in der Klavierbegleitung nun auch im Bassbereich eine Art harmonischer Gleichklang mit den Triolen im Diskant eingetreten ist.


    Aber dieser Ton ändert sich mit der Wiederholung der beiden ersten Verse der dritten Strophe, an die sich ja dann sofort die ersten beiden Verse der vierten Strophe in Form einer eigenen Melodiezeile und der Aufgipfelung der melodischen Linie in einem Dominantseptakkord anschließen: "Soll denn kein Angedenken // Ich nehmen mit von hier?"


    Die Angstvision hat hier eingesetzt, und sie drängt sich wie mit Macht in die Wiederholung der ersten Verse der dritten Strophe hinein: Wenn seine Schmerzen schweigen würden, wer würde dann noch von der Geliebten sprechen? Man muss sich einmal bewusst machen, was hier gesagt wird, um den Grad der Verstrickung in die eigene Seelenwelt zu erfassen, die sich von der vierten Strophe dieses Liedes an ereignet:


    Da hat ein Mensch Angst davor, dass sein Leiden zu Ende gehen könnte. Dieses Leiden, dieser Seelenschmerz ist das einzige, was ihn noch mit der Welt verbindet, aus der er sich vertrieben fühlt, und damit das einzige, was ihn davor bewahren kann, in absolute Einsamkeit zu versinken.


    Das Bild, das sich daran anschließt, fügt sich sich ohne weiteres in die schon absurde Logik dieses Denkens ein, das von dem Wanderer Besitz ergriffen hat: Das Bild der Geliebten könnte hinschmelzen, wenn sein eigenes, erforenes Herz wieder auftaut.


    Der Wanderer ist jetzt, mit dem Lied "Erstarrung", in eine hermetische Situation geraten, die surreale Bilder gebiert.

  • Über alle Gräber wächst zuletzt das Gras,
    Alle Wunden heilt die Zeit, ein Trost ist das,
    Wohl der schlechteste, den man dir kann ertheilen;
    Armes Herz, du willst nicht daß die Wunden heilen.
    Etwas hast du noch, solang es schmerzlich brennt;
    Das verschmerzte nur ist todt und abgetrennt.


    (Friedrich Rückert)


    Es ist ein Topos, daß das Leiden an einer zerstörten Liebe die einzige Möglichkeit bietet, sie in die Gegenwart zu retten und quasi fortzusetzen. Daran ist auch gar nix absurd. Eher verwundert diese Reflexion im Kontext der Winterreise, da sie dort eigentlich an nichts anschließt und auch nicht weiter verfolgt wird.


    Eine Anmerkung für den Secondo:


    Du meinst nicht wirklich, daß der Wanderer im ersten Lied, zweite Strophe, zweckrationale Überlegungen anstellt über die Praktikabilität von Wildwechseln. "Such ich des Wildes Tritt" wird im Kontext der Fremdheid, des Outcast state ausgesprochen, als absoluter Gegensatz zur Dorfwelt. Das Überzogene daran ist der Zeitpunkt - er ist ja noch gar nicht wirklich in einer Wildnis gelandet, sondern verläßt gerade das Haus des "Mädchens", auf das er in der "Wetterfahne" zurückblickt. Der mitziehende Mondenschatten ist schließlich auch kein probates Orientierungsmittel für Vollmond-Pfadfinder, sondern eine Evokation der Einsamkeit. Wohin sollen sie denn führen, die Pfotenabdrücke im Schnee?


    Ich höre hier das Pathos wie in Hofmannsthals Elektra, die in der Mägdeszene zunächst mit einem Tier verglichen wird, worauf die vierte Magd kontert:


    "Sind sie dir
    nicht hart genug mit ihr? Setzt man nicht
    den Napf mit Essen zu den Hunden?"


    Helmut hätte Dir schon widersprechen müssen, da er ja auf Realitätsverlust abstellt und dadurch Detail-Rettungsversuche wie hier oder zum Thema der Gefrornen Tränen eigentlich nicht akzeptieren kann. Die Realismen, die ihr in den Text hereinlest, haben dann wirklich nichts mehr mit dem zu tun, was die Emphase der Dichtung und der Schubertschen Vertonungen ausmacht. Ich jedenfalls höre weder den Wildwechsel noch die Brillenkondensate heraus.
    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Weh mir, wo nehm ich, wenn
    Es Winter ist, die Blumen, und wo
    Den Sonnenschein,
    Und Schatten der Erde?
    Die Mauern stehn
    Sprachlos und kalt, im Winde
    Klirren die Fahnen.



    Von ferne klingt das ja wie in "Erstarrung" - bloß daß dort insinuiert wird, jemand frage in der Winterlandschaft:


    "Wo find ich eine Blüte?"


    Hier scheint der Verstand tatsächlich gelitten zu haben, wie bei dem fatalen Ansinnen, im Schnee die einstigen Spuren des Mädchens im Frühlingsgras wiederzufinden. Bei Hölderlin ist der Winter bloß die künftige Drohung des Birnen-Herbstes, das Unausweichliche. In der Winterreise ist die vierte Jahreszeit symbolische Realität. Es ist überdeutlich, was Müller damit bezweckt; aber er muß die Aktion in Metaphern kleiden - die Spurensuche im Schnee macht bloß symbolisch Sinn, aber nicht auf der Realitätsebene landschaftlicher Zurechnungsfähigkeit.


    So beschwört Müller nicht den janusgesichtig prangenden Herbst, sondern den Frühling, das grüne Gras. - Daß die Blumen erstorben seien und das Gras blaß ("sähe"), ist dementsprechend banal und im Winter kaum anders zu erwarten. So großartig Hölderlins gelbe Birnen und wilde Rosen, so armselig das im Schnee vergebens gesuchte Blümelein - eine Ersatz-Verzweiflung treibt den Wanderer in die Metapher; denn niemand sucht ernstlich das frische Gras unterm weißen Schnee.


    "Soll denn kein Angedenken" usw. führt den kruden Gedanken in eine andere Richtung - der Fetischismus spielt ja für die Winterreise eine gewisse Rolle (die Spuren, die geritzten Namenszüge). "Wenn meine Schmerzen schweigen" ... die Hölderlinsche Angst vor der Empfindungslosigkeit und dem Verstummen im Angesicht des erntereifen Reichtums nimmt bei Müller eine seltsame Wendung - statt seine Liebste zu beklagen, beklagt der Wanderer das Aufhören seiner Liebe; sein Herz schweigt, ist starr gefroren, und mit dem Tauwetter wird der letzte Rest seiner toten Liebe abfließen.


    Schubert legt alle passionierte Emphase auf "Ich will den Boden küssen", wiederum eine rein symbolisch-rhetorische Intention. Die gleiche Phrase zu "Mein Herz ist wie erstorben" paßt eigentlich nicht recht zum Text, wirkt wie ein Einspruch gegen das poetische Dilemma, Erfrorenes zum Schmelzen bringen zu wollen oder doch wieder nicht. Das Impromptuschema mit der klagend gehetzten und der trotzig auffahrenden Phrase, dem vage tröstlichen Mittelteil und der Reprise der Eingangsteile kann die Aporetik der lyrischen Botschaft nicht wirklich aufklären.


    Sie lautet, ungefähr: Jetzt ist Winter, ich will ein Frühjahr vor der Zeit erzwingen; aber nur jetzt, in der Erstarrung, kann ich meine Liebe festhalten; sie ist schon tot und wird das Tauwetter meiner Seele nicht überstehen.


    Die Zuspitzung und Aporetik dieser Botschaft ist kaum zu übersehen. Der nekrophile touch, mit dem hier etwas Totes zum Leben erweckt werden soll, die ganze fait-accompli-Einstellung einer nicht mehr lebensfähigen Liebe verhindert die Sypathie mit der Verzweiflung, die ja, wenn überhaupt, darin bestünde, daß nur in der Liebe, der Liebe zur Geliebten ein Leben und Fortleben möglich wäre. Die reflexive Desperatheit, einer totgefrornen Liebe mit den heißen Tränen einstiger Leidenschaft den finalen Garaus zu machen, ist demgegenüber eher befremdlich.
    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Eine Anmerkung für den Secondo:


    Du meinst nicht wirklich, daß der Wanderer im ersten Lied, zweite Strophe, zweckrationale Überlegungen anstellt über die Praktikabilität von Wildwechseln.


    Die Winterreise ist keine tatsächliche Winterwanderung, aber sie bedient sich dieser Bilder um den seelischen Vorgang beim Wanderer verständlich darzustellen.


    Und über das "Wohin" und weshalb "leicht" war von mir nicht die Rede.

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Zitat Zweiterbass:
    Das stimmt eben nicht, es steht nicht im Text, dass die Tränen gefroren sind.


    Zitat Zweiterbass:
    "Die unerfindlichen Gründe" lassen sich ganz einfach erklären: Im Schnee (wie hoch?) läuft es sich in Wildwechseln leichter.


    Darauf bezog ich mich, u.a. Wenn Du jetzt anführst:


    Zitat Zweiterbass:
    Die Winterreise ist keine tatsächliche Winterwanderung, aber sie bedient sich dieser Bilder um den seelischen Vorgang beim Wanderer verständlich darzustellen.


    dann ist das ein ganz anderes Thema. Ich lasse Deine Einwände explizit nicht gelten; ich lese Deine Beiträge schon recht genau.


    Zitat Zweiterbass:
    Auch bei "Will dich im Traum…" siehe Beitrag Nr. 22 drehst Du den Text um, mit der Folge einer ?Interpretation?


    Ich drehe keineswegs den Text um (dann befindet man sich auf Rückseite). Ich schrieb, glaube ich, der Sinn dieser Strophe sei ihr Doppelsinn. Ich sage also nicht: Gemeint ist "Nicht im Traume"; sondern dieser zweite Sinn ist dem Text mitunterlegt. Das könnt ihr gar nicht abstreiten, da es ja eine zulässige Lesart ist. Es läßt sich sogar für Schuberts Vertonung zeigen, daß man den Vers auch so verstehen kann. Ich verstehe eure Vehemenz im Bestreiten dieses bescheidenen Einwands dennoch richtig.
    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

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  • Schubert hat Müllers Gedicht "Erstarrung" sehr stark in seinem Sinne musikalisch interpretiert, und zwar mehr, als die lesende Rezeption des Gedichtes im ersten Augenblick textlich hergibt. Die Richtung, die er dabei einschlägt, ist die einer "Ausleuchtung" des seelischen Innenlebens des Wanderers. Man erkennt das in der musikalischen Faktur sehr deutlich an zwei Faktoren. Sie sind bereits erwähnt worden, es sei aber aus gegebenem Anlass noch einmal darauf hingewiesen: Neben den fortlaufenden Achteltriolen ist das insbesondere das Mittel der Wiederholung von ganzen Strophen und einzelnen Versteilen des Gedichts.


    Schaut man sich an, wie er dabei vorgeht, dann fällt auf, dass bei der Wiederholung in auffallend starkem Maße mit dem Dominantseptakkord gearbeitet wird. Es handelt sich eben nicht um eine einfache Wiederholung dessen, was bereits einmal musikalisch artikuliert wurde, sondern ganz unüberhörbar um eine deutliche Intensivierung dieser Aussage im Sinne eines Zum-Ausdruck-Bringens des jeweiligen Wollens und der seelischen Pein, die dahinterstehen. Wenn der Wanderer "der Tritte Spur" suchen will, wenn er den Boden küssen möchte, bis er die Erde sieht, und wenn ihn die Angst packt, das Bild der Geliebten könne mit dem eigenen Herzen dahinschmelzen, - in all diesen Fällen kommt bei der Wiederholung dieses Arbeiten mit dem Dominantseptakkord zu Einsatz, damit eine Steigerung des Gefühlsausdrucks erreicht wird.


    Bei den Versen: "Wo find ich eine Blüte // Wo find ich grünes Gras?" liegen, vom Notenbild (und natürlich auch vom Höreindruck) her, jedoch andere Gegebenheiten vor: Nicht nur die Tonart ändert sich, sondern die melodische Linie nimmt einen ausgeprägt lyrisch-Kantablen Charakter an , und sie wird dabei von einem harmonischen Einklang zwischen Bass und Diskant im Klavier gestützt.


    Warum hat Schubert das so komponiert? Er will an dieser Stelle mit musikalischen Mittel deutlich machen, dass der Wanderer einen Augenblick lang Bildern nachhängt, die mit seinem früheren Leben zusammenhängen. Sie verdichten sich in zwei winzigen Einzelbildchen: "eine Blüte" und "grünes Gras". Das ist von Müller übrigens dichterisch großartig gemacht und ein Zeichen für die Sparsamkeit, wie er mit lyrischen Bildern umgeht. Der Wanderer ist in seinen Wünschen und Sehnsüchten schon unendlich bescheiden geworden. Es wäre ihm schon geholfen mit "einer(!) Blüte" und ein wenig grünem Gras.


    Das sucht er ja nicht unter dem Schnee. Er ist ja nicht so töricht, zu erwarten, dass er das im Winter finden könne. Er artikuliert über nur fünf Takte in Form von zwei Bildchen einen kleinen Wunsch, der, ginge er in Erfüllung, schon so etwas wie die Erlösung aus der Situation bringen würde, in der er sich in diesem Stadium seiner "Wanderung" befindet. Und bei der Wiederholung dieser Frage, die ja zugleich einen Wunsch beinhaltet, drängt sich wiederum im melodischen Bogen über "Gras" (zwei halbe Noten im Sekundfall) die Dominante vor und gibt der Frage Nachdruck.

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  • Der Sinn dieser Strophe ist ihr Doppelsinn, was bereits beim


    "Will Dich im Traum nicht"


    beginnt; denn "nicht im Traum" heißt ja "auf keinerlei Weise" mit der Ingredienz, daß der bloße Gedanke daran eine Zumutung sei. Die Haltung des Sprechers hier ist ganz anders, als was Helmut da heraushören möchte, nämlich scheinheilig.


    Hallo farinelli,


    Der Text lautet im Original:
    "Will dich im Traum" nicht stören,
    wär' schad um deine Ruh


    Wenn Du nun den Text verschiebst - besser als verdrehen? - dann lautet es:
    "Will nicht im Traum" dich stören,
    wär' schad um deine Ruh


    Das Original zeigt einen normalen Satzbau, Deine Version ist das nicht. Welchen Sinn ergibt es, einen normalen Satzbau zu ändern und damit einen Doppelsinn zu konstruieren? Und bei normalem Satzbau Deiner Version hieße es: Nicht im Traum will ich dich stören - eine Silbe zuviel!


    Mein Satz von den "Bildern um den seelischen..." war vor meinem Einwand zu Deinem Beitrag gepostet - ich möchte mich nicht wiederholen müssen und setze voraus, dass eine gepostete Einstellung bekannt ist.
    Du hattest nur nach den "unerfindlichen Gründen"gefragt; wohin des "Wildes Tritt" führt und warum er den "leichten" Weg wählt, war nicht gefragt.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Lieber Farinelli, lieber zweiterbass,


    ich habe die Stelle "will dich im Traum nicht stören" nie anders verstanden als: "will dich nicht stören, während du träumst". Die andere Deutungsmöglichkeit "ich käme nie auf den Gedanken, dich zu stören" erscheint mir aus folgenden Gründen nicht plausibel:


    - Der Winterreisende will stören, will verstören durch seinen Aufbruch bei Nacht und Nebel. ("Schreib im Vorübergehen" ... "damit Du mögest sehen"). Die Annahme, er wolle überhaupt nicht stören, ist damit m. E. wiederlegt. Er will sehr wohl stören - aber erst am nächsten Morgen, wenn alles schon zu spät ist.


    - "Nicht im Traum will ich dich stören" - das passt nicht zur Sprache des Winterreisenden. "Nicht im Traum" ist die Sprache eines Saturierten, der noch Träume hat. Die Träume des Winterreisenden sind hingegen geplatzt.


    Vielleicht könnte ein Germanist etwas zur Historie des "Das würde ich im Traum nicht ..." sagen.

  • "Wo find ich eine Blüte?"


    Hier scheint der Verstand tatsächlich gelitten zu haben, wie bei dem fatalen Ansinnen, im Schnee die einstigen Spuren des Mädchens im Frühlingsgras wiederzufinden.


    Hallo farinelli,
    wenn Du damit meinst, dass der Verstand sich nicht mehr über ein Gefühl hinweg setzen kann, besser, die Oberherrschaft verliert - dazu ja.


    "…beklagt der Wanderer das Aufhören seiner Liebe" - was meinst Du, seine Liebesfähigkeit oder seine Liebe zu… ?



    Die Strophen 1 - 3 sind Bilder, die einen jetzt akuten Seelen(Gemüts-) zustand beschreiben, die Strophe 4 eine daraus jetzt entstehende Frage. Die Strophe 5 das Bild einer jetzt unsäglichen Ambivalenz für einen künftig befürchteten Zustand.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Die Diskussion um das Verständnis des Textes von "Gute Nacht" verfolgt man mit einem gewissen Staunen. Darf man noch einmal in Erinnerung rufen, was die hier umstrittenen Strophen an Aussagen enthalten?


    Strophe 3: Der Wanderer stellt fest, dass es keinen Sinn hat, in diesem Haus noch länger zu verweilen, da man ihn ja hinausgetrieben hat. Nur irre Hunde würden um ihres Herren Haus heulen, nachdem sie von ihm hinausgejagt wurden.
    Der Wanderer kommentiert seine Erfahrung in diesem Haus mit der bitteren Feststellung: Gott hat die Liebe wohl so geschaffen, dass sie das Wandern von einem zum andern liebt. Wenn das so ist, dann bleibt nur: Dem Liebchen gute Nacht zu sagen.


    Strophe 4: Der Wanderer zieht sacht die Tür des Hauses zu. Ob er das tatsächlich macht oder nur rekapituliert, was er bereits getan hat, spielt dabei keine Rolle, denn es kommt darauf an, dass er das sacht tut. Dieses Wort wiederholt er sogar, um es auch ja zu beachten. Warum? Weil er den Schlaf des Mädchens nicht stören will, den er sich als von einem (vielleicht schönen?) Traum begleitet vorstellt.
    Wenn er schon das Mädchen nicht wecken mag, um sich zu verabschieden, dann möchte er wenigstens ein "Gute Nacht" an ihre Tür schreiben, damit sie am nächsten Tag sehen kann, dass er an sie gedacht hat, als er das Haus verließ. Dieses "Gute Nacht" ist als ein letztes Geständnis seiner Zuneigung zu ihr zu lesen.


    Es sei in diesem Zusammenhang noch einmal darauf aufmerksam gemacht, dass Schubert den Text Müllers im letzten Vers geändert hat: "Ich hab an dich gedacht" in: "An dich hab ich gedacht". Dem "Gute Nacht" des Wanderers soll aus der Sicht Schuberts eine noch stärkere Ausrichtung auf das Mädchen gegeben werden, - im Sinne eines Ausdrucks der Gefühle, die ihn mit diesem noch verbinden.



    Wo - mit Verlaub - gibt es da denn ein Verständnisproblem? Die Aussage des Textes ist eindeutig. Im übrigen zeigt Schuberts Komposition vom Notentext her, dass er diese Strophen genau so gelesen hat. Das triste d-Moll des Liedes ist vorübergehend verschwunden, und die melodische Linie nimmt einen lyrisch-kantablen Zug an. Es ist unüberhörbar: Der Wanderer empfindet noch etwas für die geliebte Frau. Die Lieder 3 und 4 belegen das ja eindeutig! Und er möchte ihr das auch zeigen: Mit einem Gute-Nacht-Gruß, den er schriftlich hinterlässt. Dass er mit Schmerzen und in tiefer Verbitterung scheidet, das hört man in diesem Lied vom ersten Takt der Singstimme an. Und bekanntlich kommt das d-Moll ja ganz am Ende des Liedes wieder.

  • Schuberts Lied "Der Lindenbaum" fällt schon von der Tonart her, seinem hellen E-Dur, aus dem musikalischen Rahmen, den die vier ersten Lieder abgesteckt haben, die ja allesamt von einer Moll-Harmonik geprägt sind. Und das hat einen einfachen Grund: Auch Wilhelm Müllers Gedicht fällt in einer gewissen Weise aus dem Rahmen. Es fängt nämlich anders an als die vier Gedichte davor.


    Auch diese enthielten deskriptive Elemente, Beschreibungen von Außenwelt also. Aber diese richteten sich in allen Fällen auf etwas, das der Wanderer unmittelbar vor Augen hatte: Das Haus des "Mädchens", die Wetterfahne darauf, die Tränen, die ihm von den Wangen fallen und der Schnee, unter dem er die Spuren vergangenen Lebens vermutet.


    Jetzt aber ist die Rede von einem Lindenbaum, der am Brunnen vor der kleinstädtischen oder dörflichen Welt steht, die er längst verlassen hat, weil er bei seinem letzten Versuch, dort Fuß zu fassen, gescheitert ist. Der Lindenbaum, - das ist hier die symbolische Inkarnation von Leben in Gemeinschaft mit anderen Menschen: Mit Dorfbewohnern, die sich hier versammeln, mit einem lieben Menschen, dessen menschliche Nähe man unter seiner Krone erleben darf. Walthers von der Vogelweide Verse klingen auf: "Under der linden / an der heide / da unser zweier bette was..."


    Der Wanderer erinnert sich: So manchen süßen Traum hat er dort geträumt, hat in seine Rinde manches liebe Wort geschnitzt. Und immer, wenn Freude und Leid in ihm übermächtig wurden, hat es in zu ihm hingezogen. Der Lindenbaum war für ihn der Ort eines erfüllten Lebens.


    Jetzt, in seinem neue Leben, das zu einem der Einsamkeit und der Hoffnungslosigkeit geworden ist, kam er wieder in diesem Baum vorbei. Und obwohl es dunkel war und deshalb eigentlich gar nicht nötig gewesen wäre, hat er beim Vorbeikommen die Augen geschlossen. Er konnte den Anblick dieses Dingsymbols noch nicht einmal als dunkle Silhouette ertragen. Es hätte ihn auf viel zu schmerzliche Weise an glückliche Tage erinnert.


    Aber das Schließen der Augen nützte nichts. Die Ohren blieben offen. Und dieser Baum rauschte ihm zu: "Komm er zu mir, Geselle ...". Ruhe war der verlockende Kern der Botschaft, Erlösung von all den Qualen, die inzwischen seine Seele peinigen.


    Welche Art von Ruhe könnte das sein? Die Antwort bleibt offen. Aber die Assoziation, dass hier die ewige Ruhe im Tod versprochen wird, schwingt beim Lesen dieser Verse unabweisbar mit. Und so hat das wohl auch der Wanderer gehört. Anders lässt sich das gewaltsame Sich-Abwenden von diesem Baum, das regelrechte Davonlaufen, das Anrennen gegen die "kalten Winde", die ihm ins Gesicht blasen, nicht deuten.


    Aber er muss feststellen: Selbst nach mehreren Stunden des Davonlaufens klingt dieses Versprechen noch in ihm nach. Zu verlockend war das Rauschen der Linde. Das Verlangen nach Befereiung aus einer von ihm als qualvoll empfundenen Lebenssituation sitzt ihm wie ein Keim tief in der Seele. Es wird ihn weiter begleiten auf seinem Weg. Und es wird sich wieder melden: Wenn er als müder Wanderer auf dem "Totenacker" eine Kammer sucht.


    Auch das bleibt allerdings nur ein Gedankenspiel. Dieser Mensch versinkt im Verlauf seiner Wanderung in eine abgrundtiefe existenzielle Müdigkeit. Sie mündet aber nicht in den Willen zum Suizid. Man möchte denken, dass er in der inneren Verfassung, die mit den beiden letzten Liedern punktuell beleuchtet wird, nicht einmal mehr die Kraft zu diesem Akt der Befreiung aus den Fesseln hat, in die er sich verstrickte.

  • Antwort auf Wolfram



    Der gestiefelte Kater:
    Der Kater stellte sich erschrocken und rief: »Das ist unglaublich und unerhört, dergleichen hätt ich mir nicht im Traume in die Gedanken kommen lassen.


    (Fassung der Gebrüder Grimm)


    Gottlieb Konrad Pfeffel, Die Königswahl:
    Zuletzt erschien
    Auch noch ein achter Palatin,
    An den man nicht im Traume dachte.


    E.A. Poe, Das verräterische Herz:
    Zu denken, daß ich hier allmählich die Tür öffnete und er auch im Traume nicht die geringste Ahnung von meinem geheimen Tun und Wollen hatte
    (To think that there I was opening the door little by little, and he not even to dream of my secret deeds or thoughts.)


    Wilhelm Busch, Eduards Traum:
    Das konnte ich mir im Traume nicht zumuten. Wie ihr seht, meine Freunde! Als Inspektor bei der Brandkasse hätten sie mich auch nicht gebrauchen können.


    (also für beide Wortfolgen ein verbreiteter Gebrauch im 19. Jh.)


    Zitat Helmut:


    Wo - mit Verlaub - gibt es da denn ein Verständnisproblem? Die Aussage des Textes ist eindeutig.


    Das ist, mit Verlaub, ein schlechter Witz. Ich maße mir durchaus an, den Text, wenn auch anders wie Du, zu verstehen, und zwar als mehrdeutig. Dein Versuch, eine rein subjektive Auffassung als objektiv auszugeben und auch noch durch eine von Dir unterlegte Deutung als Intention Schuberts auszulegen, erweist sich am Ende als das, was es ist: Ich erspare mir das weitere.
    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Lieber Farinelli,


    ich ziehe meinen virtuellen Hut - nicht im Traume wäre ich darauf gekommen, diese Formulierung bei den Gebrüdern Grimm und Wilhelm Busch zu suchen. Großes Kompliment!


    Es bleibt das Argument aus dem Zusammenhang des Liedes:

    - Der Winterreisende will stören, will verstören durch seinen Aufbruch bei Nacht und Nebel. ("Schreib im Vorübergehen" ... "damit Du mögest sehen"). Die Annahme, er wolle überhaupt nicht stören, ist damit m. E. wiederlegt.

  • Es ist eine merkwürdige Erfahrung: Wenn man sich in Schuberts Lied "Der Lindenbaum" vergräbt und versucht, die eigentümliche Faszination zu verstehen, die von diesem Lied ausgeht, hat man mit einem Mal das Gefühl, dass man das Ende dieses Liederzyklus gar nicht mehr erreichen wird. Man wird von diesem Lied nicht mehr loskommen, - vielleicht so ähnlich wie der Wanderer von diesem Baum!


    Allein die Tatsache, dass Schubert, wie Elmar Budde das formuliert hat, "beide Verszeilen zu Beginn des Liedes im Sinne melodischer Nachsätze komponiert" und dadurch Müllers Syntax verfremdet hat, ist eine Sache über die es nachzudenken lohnt. Warum hat er dieses Lied in dieser Form komponiert? Man findet so schnell keine Antwort darauf.


    Der Eindruck, der sich einem mehr und mehr aufdrängt, ist: Dieses Lied ist so komplex, dass ein musikwissenschaftlicher Laie vielleicht doch besser die Finger davon lassen sollte. Aber dann müsste er sich in diesem Forum Schweigen auferlegen.


    Vielleicht, so tröstet man sich, bringen ja auch Äußerungen eines Laien etwas, wenn sie mit der angemessenen Behutsamkeit im Bewusstsein der eigenen Beschränktheit formuliert werden.

  • Lieber Wolfram,


    ich denke mir den Sinn z.B. so -:


    vordergründiger Sinn (à la Helmut):


    "Will Dich in Deinem Träumen nicht stören [schlaf weiter]; es wäre bedauerlich [es nicht wert], wenn ich Dich [zum Abschied] weckte." usw


    Doppelsinn:


    "Um nichts in der Welt möchte ich Dich [jetzt noch] wecken; es täte mir leid um Deine Nachtruhe [für Deine Seelenruhe].
    Ich schleiche mich davon wie ein Dieb.
    En passant schrieb ich Dir was ans Tor: Gute Nacht,
    Das ist morgen, wenn Du erwachst, mein letzter Liebesgruß."


    Helmuts "liebevolle Zuwendung zur geliebten Frau" kann ich, das ist wohl mein Problem, darin beim besten Willen nicht erkennen. Das "Sacht, sacht die Türe zu!" etwa betont die Heimlichkeit der Handlung, die notwendig ist für die beabsichtigte verletzende Wirkung, die sich der Wanderer hier ausmalt: So wie Helmut das beschreibt, müßte man annehmen, der Winterreisende schleiche sich aus der Kammer des Mädchens fort (dann machte die Rolle als "Hüter des Schlafes" vielleicht Sinn). Ich persönlich halte nichts davon, der nächtlichen Flucht einen einseitig sentimentalen Sinn zu geben und die dunklen Implikationen, den Gute-Nacht-Denkzettel, das "Türe zu!" usw. zu bagatellisieren. Zur Befremdlichkeit des Protagonisten gehört gerade sein französischer Abschied, immerhin eine planvolle Aktion mit bösem Vorsatz. "Fremd zieh ich wieder aus" quasi transitiv und aktivisch gedacht - möge auch mein Auszug befremden.


    Gerade das "Wär schad" in seiner situativen Unangemessenheit, ginge es um zärtliche Besorgnis, stößt mir dabei auf. Österreicher dürften weniger grobe Ohren besitzen - "Es wär schad drum" vollzieht eine doppelbödige Untertreibung, wie Schnitzler sie in "Fräulein Else" exemplifiziert:


    Es wär' schad' um mich. Zum Veronal ist immer noch Zeit
    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Hallo,


    als Ergänzung und z. T. abweichende Meinung zum Text "Der Lindenbaum":


    Heute gehen die meisten Menschen ohne Kopfbedeckung, ohne Hut, aus dem Haus; früher war das anders, man hatte stets eine Kopfbedeckung, einen Hut, auf, also war man "gut behütet". In behütet steckt natürlich das Wort "die Hut", aber der Kopf - das Haupt des Menschen - war bedeckt, das Haupt/der Mensch war behütet vor…


    Bildersprache:
    Wenn nun dem Wanderer die kalten Winde den Hut vom Kopf blasen - und dabei "grad ins Angesicht", man geht ihn also, auch übertragen, frontal an! - dann fehlt ihm ein damals stets übliches Kleidungsstück, er ist "unbehütet"; das widerfährt ihm außerhalb seines Einflussbereiches und von "unfreundlicher Seite" (3. Strophe "Gute Nacht" und 3. Strophe "Wetterfahne" lassen grüßen).


    "Ich wendete mich nicht": Man kann das als Trotzreaktion sehen - auf jeden Fall aber als eine von ihm ausgehende aktive Handlung - ich lese daraus die Einsicht, das Vertrieben werden war schon richtig, mit Menschen, die solches tun und damit die Liebe zweier Menschen zerstören, will er Nichts zu schaffen haben. "Sein Mädchen" klammert er aber von solchen Gedanken aus - "du fändest Ruhe dort" (fändest, wenn's "die bürgerlichen Gebräuche" nicht gäbe).


    Deswegen lese ich für mich "Hier findst du deine Ruh" und "du fändest Ruhe dort" anders als Helmut (keine Todesruhe), aber mit großer Wehmut und Gedenken an "sein immer noch geliebtes Mädchen", deshalb vermindert sich auch sein Schmerz nicht. (Ich verweise hierzu auf meine abweichende Meinung zu der "von Gott gewollten Liebe" - farinellis Amor macht winkewinke - und wer die Trennung zu vertreten hat.)


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

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