Ja, das kann passieren! Da hat Wolfram natürlich recht. Und recht hat er auch mit der Feststellung, dass allein wichtig sei, dass Schubert den Überblick über sein Werk behalten hat und dass demgegenüber alles andere sekundär sei.
Das Problem ist nur: Unsereiner ist kein Schubert, und er verfügt noch nicht einmal über die fachwissenschaftliche Kompetenz für ein solch aberwitziges Vorhaben wie die liedanalytische Betrachtung der Winterreise. Der Schrecken wurzelt in der tiefen Ahnung, dass man sich mit diesem Thread übernommen haben könnte.
Es gibt aber noch einiges zu dem Lied "Gefrorne Tränen" zu sagen, vor allem die Deutung des Schlusses betreffend. Diesen interpretiert nämlich Dietrich Fischer-Dieskau anders, als ich das hier getan habe. In seinem Buch "Franz Schubert und seine Lieder" (Frankfurt/ Leipzig 1999) meint er auf Seite 456:
"Erst bei "und dringt doch aus der Quelle ..." setzt volle Wärme des Empfindens ein. Was zunächst fragend formuliert war, entpuppt sich nun als gegenstandslos, denn Tränen, die "aus der Brust so glühend heiß" quillen, kontrastieren und vereinigen sich zugleich in "des ganzen Winters Eis."
Das liest sich für mich so, als wenn der Wanderer bei den Schlussversen des Liedes aus der zuvor in den beiden ersten Strophe bestehenden - und auch musikalisch artikulierten! - Gegensätzlichkeit von Innenwelt und Außenwelt herausgetreten wäre und die Feindlichkeit dieser winterlichen Außenwelt mit der Flut seiner heißen Tränen gleichsam überwältigt hätte, - jedenfalls für diesen Augenblick, in dem er so viel Emphase in seine Kantilenen legt.
Wenn Fischer-Dieskau das so gemeint hat, wie ich es hier lese, dann könnte ich mit ihm in der Auslegung dieses Liedschlusses nicht übereinstimmen. Für mich hat sich der Wanderer mit den Versen "Und dringt doch aus der Quelle..." in eine Art rauschhaftes Erleben der Innigkeit und Leidenschaftlichkeit seines Seelenlebens hineingesteigert, das ihn die Feindlichkeit der winterlichen Außenwelt für einen Augenblick völlig vergessen lässt. Diese bleibt aber weiterhin existent, und sie behält weiterhin ihren menschenfeindlich abweisenden Charakter.
Mein Argument für diese Interpretation: Schubert wiederholt im Klaviernachspiel das Vorspiel in nahezu identischer Form. Es ist wieder dieses stakkatohafte "Tropfen" im Klavier zu hören, und zwar über drei Takte. Bis es dann in die akkordischen Viertel und Achtel mündet und im Pianissimo der Oktaven im Klavierbass ausläuft.
Wenn Schubert die Verse Müllers so gelesen hätte, dass sich die Tränen des Wanderers am Ende auf gleichsam harmonische Weise mit "des ganzen Winters Eis" vereinigen würden, dann hätte er doch wohl ein anderes, eben mehr versöhnliches Nachspiel komponiert.