Schuberts Winterreise in liedanalytischer Betrachtung

  • Zur Befremdlichkeit des Protagonisten gehört gerade sein französischer Abschied, immerhin eine planvolle Aktion mit bösem Vorsatz. "Fremd zieh ich wieder aus" quasi transitiv und aktivisch gedacht - möge auch mein Auszug befremden


    Lieber farinelli,


    wer sich Gedanken macht, warum...


    "Fremd bin ich eingezogen,
    fremd zieh' ich wieder aus..."


    der kann Deine Auffassung nur mit ??? Was ist denn der Grund der Trennung?


    Zu dem "Traume":
    1. Äpfel nicht mit Birnen vergleichen.
    2. Im Textzusammenhang ergibt sich die Bedeutung, das gilt auch für 1.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Lieber Farinelli,


    danke für Deine Antwort!


    Ich höre in dem Abschied ebenfalls etwas Doppeltes, aber anderswo. - Die Gefühlslage des Winterreisenden ist zweispältig. Einerseits liebt er die zu Verlassende immer noch, andererseits will er ihr (und anderen?) einen Denkzettel geben. Beides schwingt mit, und das hat Wilhelm Müller gut in Worte gekleidet.

  • Helmut schreibt:


    Er artikuliert über nur fünf Takte in Form von zwei Bildchen einen kleinen Wunsch, der, ginge er in Erfüllung, schon so etwas wie die Erlösung aus der Situation bringen würde, in der er sich in diesem Stadium seiner "Wanderung" befindet. Und bei der Wiederholung dieser Frage, die ja zugleich einen Wunsch beinhaltet, drängt sich wiederum im melodischen Bogen über "Gras" (zwei halbe Noten im Sekundfall) die Dominante vor und gibt der Frage Nachdruck.


    Für meine Ohren fügt sich die Wiederholung der Frage in das manische Grundpathos des Liedes nahtlos ein. Ein Gedicht, dessen erste Strophe mit "Ich such ... vergebens" usw. beginnt und in der dritten mit "Wo find ich" usw. fortfährt, verfolgt doch kontinuierlichere Gedanken. Es käme Helmut zupaß, stünde bei Müller:


    "Wo fänd ich" usw.


    Von Sparsamkeit der Bilder kann im übrigen keine Rede sein; wer mit seinen heißen Tränen den Schnee fortschmelzen möchte, bis er die nackte Erde erblickt, ist kein Purist. Der Anspruch in der zweiten Strophe ist auch durchaus kein bescheidener (so als käme es darauf an, eine und nicht etwa zwei Blüten finden zu wollen). Das Verhältnis der Blüte und des grünen Grases zum Frühling ist eher metonymisch (die Wirkung steht für die Ursache); es ist ein widersinniger Wunsch, unerfüllbar (wie es ja die tautologische Anlage der Strophe auch nahelegt). Die Stimmungsaufhellung, die Schubert hier erzielt, klammert sich inhaltlich an den Strohhalm eines grünen Grases, das, in eine rhetorische Frage gekleidet, primär nicht existiert. Diese Valeurs als bescheidene, reduzierte Wünsche zu verstehen, übergeht die Grundaussage des Müllerschen Gedichts, das ja den Winter rückgängig machen will quasi unter Einsatz des Lebens. Der Grundaffekt ist daher die Verzweiflung.


    Prekär bleibt für mich der Gedankensprung von "Soll denn kein Angedenken" zu "Wenn meine Schmerzen schweigen"; insinuiert ist hier ja, daß auch die Liebesleiden vergänglich sind und dadurch ein "Angedenken", und wäre es eine Blüte, transfiguriert wird zum eigentlichen Träger der Passion. Damit ist die unauffindbare Immortelle des Liebesfrühlings im Herbarium vergilbter Liebesschwüre gelandet.
    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Das Lied "Der Lindenbaum" ist das erste Lied der "Winterreise", das in einer Dur-Tonart steht. Und nicht nur in einer beliebigen, sondern in dem von Schubert sicher bewusst gewählten E-Dur. Zu dieser Tonart führt Christian Daniel Schubart in seinen "Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst (1806) aus: "Lautes Aufjauchzen, lachende Freude, und noch nicht ganz voller Genuß liegt in E-Dur". Die Tempovorschrift des Liedes lautet "Mässig".


    Schon das Klaviervorspiel hat es in sich: Präludierende Sechzehntel-Triolen, die in eine Art Horn-Quinten münden. Was ist das jetzt? Blätterrauschen in der Lindenkrone, dem der Hörnerruf das Flair einer ländlich-weiten Landschaft verleiht? Oder das auf der Laute gezupfte Vorspiel eines Musikanten, der jetzt gleich ein schlichtes Volkslied anstimmt? Von einem Vorspiel dieser Art haben diese Einleitungstakte des Liedes ja etwas, - vor allem wegen des Innehaltens der Abwärtsbewegung im Klavierdiskant, die sich im Pianissimo wiederholt und mit den Hornquinten wie ein Sich-Öffnen für die Singstimme wirkt.


    Mit der Gestaltung der melodischen Linie der Singstimme zielt Schubert unüberhörbar auf den Volksliedton ab: Tonschritte im Innenraum einer Quinte, und diese syllabisch exakt deklamiert. Die ersten drei Takte können, von der musikalischen Faktur her, kaum schlichter gestaltet sein: Zwei Töne auf der Quinte, vier Töne auf der Terz, zwei auf der Tonika. Die Klavierbegleitung besteht aus einfachen Akkorden, in die nur der Bass ein wenig harmonische Bewegung bringt.


    Der volksliedhaft einfache Ton bleibt die beiden ersten Strophen über erhalten. Nur zwei Mal überschreitet die melodische Linie der Singstimme den Raum der Quinte: Einmal nur zur Sexte und einmal zur Oktave. Das Klavier begleitet akkordisch genau der Deklamation der Singstimme entsprechend und leistet sich nur in deren Pausen eine eigenständige Artiklulation in Form einer bogenhaften Klangfigur aus Sechzehnteln und Zweiunddreißigsteln.


    Dann aber, mit der dritten Strophe, kommt ein Bruch in den Volksliedton. Er ist, vom Höreindruck her, gar nicht einmal ein so radikaler, weil er wieder von den Sechzehnteltriolen des Liedanfangs im Pianissimo eingeleitet wird. Und doch ist er da: Die Harmonik wechselt hinüber nach e-Moll, und die Klavierbegleitung kann nicht mehr bei ihrer statischen Akkordik bleiben. Sie löst sich auf in Triolenbewegungen durch die Moll-Harmonik. Bedrückend wirkt, dass die Singstimme fast die gleiche melodische Bewegung vollzieht wie in der ersten Strophe des Liedes, - nur eben in tristes e-Moll getaucht. Und es gibt noch eine Veränderung: Durch die Punktierung des "gis" auf dem Wort "heu-te" wirkt der Rhythmus der alten melodischen Linie wie gestört.


    Müde wirkt sie jetzt mit einem Mal, - und zugleich unruhig. Die Trostlosigkeit seines jetzigen Lebens hat den Wanderer eingeholt, überlagert wie eine drückende Last seine Erinnerungen, die sich an diese Linde knüpfen. Er macht die Augen zu, aber die Ohren bleiben offen. Die Linde rauscht, und sie tut das wieder in den ihr eigenen verführerischen Dur-Klängen.


    Das "Komm her zu mir, Geselle..." wird in einem eindringlich hellen E-Dur artikuliert, - eindringlich deshalb, weil diese Silben allesamt auf einem Ton deklamiert werden, bevor die melodische Linie bei dem Wort "Geselle" sich nach oben bewegt, um in einem Bogen, der wie eine Verlockung wirkt, bei den Worten "hier findst du deine Ruh" mit dem letzten Wort auf der Tonika zu landen. An Eindringlichkeit ist diese melodische Figur, die von triolenhaften Terzen im Klavier tänzerisch begleitet wird, kaum zu übertreffen!


    Mit der fünften Strophe ("Die kalten Winde bliesen...) kommt ein nun wirklich radikaler Bruch in das Lied. Die kantable Linie der Singstimme wird durch einen hart deklamierenden Ton ersetzt, der mit einem fast schon penetrant wirkenden, viermaligen Beharren auf dem Ton "fis" einsetzt. Die Hauptonart E-Dur wird durch einen Wechsel von C-Dur und H-Dur ersetzt. Die höchste Stufe deklamatorischer Eindringlichkeit wird erreicht, wenn im letzten Vers ("Ich wendete mich nicht") sechs Mal hintereinander ein und derselbe Ton (ein "c") gesungen wird.


    Danach folgen vier Takte eines wilden chromatischen Rauschens von Sechzehnteltriolen im Klavier, das wie ein Konterkarieren der idyllischen Einleitung des Liedes wirkt und von Schubert wohl auch mit dieser Intention komponiert wurde.


    Die letzte Strophe klingt wie ein wehmütiges Zitat der ersten. Auf den beiden ersten Versen liegt die gleiche melodische Linie wie auf den Anfangsversen. Auch das alte E-Dur ist zurückgekehrt. Und doch klingt alles anders! Die anfänglichen, die Skandierung der melodischen Lnie stützenden Akkorde im Klavier sind durch wiegende Achtelfiguren im Diskant und im Bass ersetzt. Die Verlockung, das Versprechen der großen Ruhe, das die Linde gab, klingt auf betörende Weise nach. Aber der Wanderer ist "schon manche Stunde entfernt von diesem Ort". Auch die Wiederholung des Versprechens, mit einem Ausgreifen der melodischen Linie nach dem hohen "e" eindringlich beschworen, erreicht ihn nicht mehr wirklich.

  • Ein interpretierendes Sich-Einlassen auf die Lyrik Wilhelm Müllers hat in einem Thread, der sich liedanalytisch mit der "Winterreise" befasst, methodisch nur dann einen Sinn, wenn es unter permanenter Rückkopplung an die musikalische Faktur der Lieder erfolgt. Andernfalls haben textinterpretierende Feststellungen wenig Aussagekraft im Hinblick auf die Fragestellung des Threads.


    Mit Schubert beginnt in der Geschichte des Kunstliedes ja die Zeit, wo sich der Komponist "herausnimmt", den lyrischen Text musikalisch zu interpretieren. Wie - und in welcher Form - Schubert das im Falle der "Winterreise" jeweils getan hat, das wird einem nur dann bewusst, wenn man sich die Aussage des lyrischen Textes vergegenwärtigt. Zu diesem Zweck muss man ihn interpretieren, - aber eben nur zu diesem!


    An mehreren Liedern der "Winterreise" wurde bereits gezeigt, dass Schubert bei den Gedichten Müllers kompositorische Akzente setzt, die auf eine Ausdeutung des lyrischen Textes, eine Interpretation also, hinauslaufen. So hat er bei "Gute Nacht" die tiefe Müdigkeit und Willenlosigkeit des Protagonisten durch die mit einer kleinen Sekunde in die permanent fortlaufenden Achtel der Klavierbegleitung regelrecht hineingezogene melodische Linie der Singstimme zum Ausdruck gebracht.


    Bei dem Lied "Erstarrung" leuchtet er musikalisch den Seelenzustand des Wanderers, seine tiefe innere Erregung und seine Sehnsüchte, mit den fortlaufenden Triolen im Klavierdiskant und mit dem intensiv genutzten kompositorischen Mittel der modifizierten Wiederholung auf der Grundlage des Dominantseptakkordes aus.


    Und auch hier, im Lied "Der Lindenbaum", interpretiert er die Lyrik Müllers kompositorisch, und das in vielfältiger Weise. Ein erstes Beispiel:


    Die erste Strophe des Gedichts besteht ( wie die anderen auch) aus einem Vierzeiler, bei dem hinter dem zweiten Vers (hinter dem Wort "Lindenbaum") bei Müller ein Doppelpunkt steht. Die Strophe ist also in ihrer sprachlichen Struktur ganz bewusst als lyrische Einheit angelegt. Und was macht Schubert? Er legt auf je zwei Verse eine Melodiezeile, die jeweils auf der Tonika endet und damit in sich abgeschlossen wirkt. Damit zerlegt er diese Strophe kompositorisch in zwei Teile.


    Was hier kompositorisch geschehen ist, das wird einem klar, wenn man Friedrich Silchers Chorfassung des Liedes dagegenhält. Silcher schließt nämlich die erste Melodiezeile mit der Terz ab ( mit einem "gis" ), und er macht damit aus Schuberts Lied tatsächlich ein Volkslied.


    Das genau aber wollte Schubert nicht! Er wollte das musikalische Zitat eines Volksliedes komponieren. Warum? Weil es volksliedhafte Idylle für den Wanderer nicht mehr gibt. Aus der Welt, in der solches möglich wäre, ist er vertrieben worden. Der Lindenbaum rauscht ihm nur noch ein ambivalentes Versprechen zu, auf das er sich, eben weil es ambivalent ist, nicht einlassen kann und will.


    Indem Schubert sich über die syntaktischen Gegebenheiten des lyrischen Textes hinwegsetzt, schafft er sich Raum für die musikalische Interpretation. Eine vergangene Welt wird dadurch in ihrem Vergangen-Sein musikalisch zum Ausdruck gebracht, dass sie als zitierte erklingt.

  • Ein interpretierendes Sich-Einlassen auf die Lyrik Wilhelm Müllers hat in einem Thread, der sich liedanalytisch mit der "Winterreise" befasst, methodisch nur dann einen Sinn, wenn es unter permanenter Rückkopplung an die musikalische Faktur der Lieder erfolgt. Andernfalls haben textinterpretierende Feststellungen wenig Aussagekraft im Hinblick auf die Fragestellung des Threads.


    Lieber Helmut,


    mein Beitrag Nr. 60 ("zum Text") war als Antwort auf Deinen Beitrag Nr. 55 gedacht. Ich für mich muß mir erst einmal klar darüber werden, was Müller mir im Text sagen will. Wie Schubert Müllers Text verstanden hat, weiß ich nicht; aber ich kann dann feststellen ob sich in meinem Textverständnis verglichen mit Schuberts Textverständnis, das ich in seiner Vertonung höre und nachvollzehen kann, Unterschiede ergeben oder ob ich mein Textverständnis in Schuberts Textverständnis und Vertonung wiederfinde. Und für mich wichtig erschien mit besonders die 5. Strophe, worauf ich mich beschränkte und ich in Folge ein etwas anderes Textverständnis von der "Ruhe" hatte als Deines.


    Zu Schuberts Vertonung und Deinen weiteren Beiträgen komme ich noch, soweit ich Ergänzungen oder eine neue Idee habe.


    Herzliche Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Zitat von »farinelli« "Wo find ich eine Blüte?"


    Hier scheint der Verstand tatsächlich gelitten zu haben, wie bei dem fatalen Ansinnen, im Schnee die einstigen Spuren des Mädchens im Frühlingsgras wiederzufinden.


    Die Strophen 1 - 3 sind Bilder, die einen jetzt akuten Seelen(Gemüts-) zustand beschreiben, die Strophe 4 eine daraus jetzt entstehende Frage. Die Strophe 5 das Bild einer jetzt unsäglichen Ambivalenz für einen künftig befürchteten Zustand.


    Diese Valeurs als bescheidene, reduzierte Wünsche zu verstehen, übergeht die Grundaussage des Müllerschen Gedichts, das ja den Winter rückgängig machen will quasi unter Einsatz des Lebens. Der Grundaffekt ist daher die Verzweiflung.


    Lieber farinelli,


    zur "Erstarrung": Habe ich da was übersehen? Bescheidene Wünsche? Die Textwiederholungen in der Vertonung machen doch deutlich, dass der Wanderer von seinen Gefühlen überrumpelt, überwältigt ist und völlig unsinnige Vorstellungen entwickelt; ein Rückholen des Frühlings lese ich aber nicht - es hat zwar nicht sein Verstand gelitten, jeoch seine Verzweiflung ist stärker als sein Verstand.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Zweiterbass stellt zu der Frage, wie man das Versprechen der "Ruhe", das der Lindenbaum dem Wanderer zurauscht, zu verstehen habe, folgendes fest:


    "Und für mich wichtig erschien mit besonders die 5. Strophe, worauf ich mich beschränkte und ich in Folge ein etwas anderes Textverständnis von der "Ruhe" hatte als Deines."


    Ich hatte begründet, warum die "Ruhe", die der Lindenbaum verspricht, eigentlich nur als Ruhe im Tod verstanden werden kann. Darauf wird später noch einmal einzugehen sein. Vielleicht ist aber ja in diesem Zusammenhang interessant, wie Thomas Mann dieses Lied verstanden und interpretiert hat. Meines Erachtens hat er das Wesen dieses Liedes in seiner inneren Nähe zum Tod so treffend erfasst, dass dem eigentlich nichts mehr hinzuzufügen ist.


    In seinem Roman "Der Zauberberg" kommt im letzten Kapitel eine Szene vor, in der "ein Tenorist", "ein Bursche von Takt und Geschmack", Schuberts "Lindenbaum" vorträgt. Diese Textpassage soll hier nicht in Gänze wiedergegeben werden. Nur so viel zur Kommentierung des Liedes durch Thomas Mann:


    "Die eigentlich bezwingende Wendung der Melodie erscheint dreimal, und zwar in ihrer modulierenden zweiten Hälfte, das drittemal also bei der Reprise der letzten Halbstrophe "Nun bin ich manche Stunde". Diese zauberhafte Wendung, der wir mit Worten nicht zu nahe treten mögen, liegt auf den Satzfragmenten "So manches liebe Wort", "Als riefen sie mir zu", "Entfernt von jenem Ort", ..."


    Und jetzt zum eigentlichen Kern der Sache, nämlich der Frage, was der Lindenbaum mit dem Thema "Tod" zu tun hat:


    "Aber das war ja Wahnsinn! Ein so wunderherrliches Lied! Reines Meisterwerk, geboren aus letzten und heiligsten Tiefen des Volksgemüts, ein höchster Besitz, das Urbild des Innigen, die Liebenswürdigkeit selbst! Welch häßliche Verunglimpfung!


    Ei ja, ja, ja, das war recht schön, so mußte wohl jeder Redliche sprechen. Und dennoch stand hinter diesem holden Produkte der Tod. Es unterhielt Beziehungen zu ihm, die man lieben mochte, aber nicht ohne sich von einer bestimmten Unerlaubtheit solcher Liebe ahnungsvoll-regierungsweise Rechenschaft zu geben. Es mochte seinem eigenen ursprünglichen Wesen nach nicht Sympathie mit dem Tode, sondern etwas sehr Volkstümlich-Lebensvolles sein, aber die geistige Sympathie damit war Sympathie mit dem Tode ..."


  • Lieber Helmut,


    ich habe die motivische Indienstnahme des "Lindenbaums" im Zauberberg immer als Vergewaltigung des Schubertliedes empfunden.


    Als Leser des Romans weißt Du ja, daß Hans Castorp als Frontsoldat und Kanonenfutter im Epilog mit zitternden Lippen das Lied vom Lindenbaum singt. Damit nicht genug, baut das zentrale Schneesturmkapitel auf dem romantischen Verführungsmotiv der tödlichen Naturgewalt auf - als letzte Manifestation jener faszinierenden Fernwirkung, deren subjektive Entsprechung eben jene Symapthie mit dem Tode ist, deren sich Hans Castorp seit frühester Jugend, anläßlich von Familienbegräbnissen, und später im internationalen Sanatorium Berghof erfreut und befleißigt.


    Das Zentralmotiv der komlexen Zauberberg-Themenketten ist das Wasser, vom ironisch zersetzenden Humor, der krankhaften tache humide bis zur "hexagonalen Regelmäßigkeit" der Schneekristalle.


    Hans Castorps sogenannte "Sympathie mit dem Tode" (die ja bis zu den abscheulichen Terrortiraden Naphtas und damit indirekt zum "Todesfest" des Weltkrieges reicht) hat in meinen Augen und Ohren mit dem Gehalt des Schubertliedes aber auch gar nichts gemein.


    Schubert gestaltet die "kalten Winde" aus dem verführerisch irisierenden Lindenbaumrauschen des Vorspiels, und das klingt ganz so, als entfalte der Baum in der Nacht eine magische Zauberkraft, eine Art von Megnetismus, so daß es dem Wanderer bloß mit Mühe gelingt, sich aus dem Bannkreis zu befreien. Ich möchte sogar Zweiterbass darin folgen, die im Lied verheißene "Ruhe" nicht dämonisierend mit einer zweideutigen Todesverfallenheit zu identifizieren. Die Ruhe spielt eine bedeutsame Rolle in der romantischen Lyrik und Musik, von "Wandrers Nachtlied" bis zum bezwungenen Walkürenfelsen ("Selige Öde auf wonniger Höh´"). Als Residuum der Gegenwart birgt die ersehnte Ruhe auch eine positive Utopie des Beisichseins und der Selbsthabe.


    In der augenzwinkernden "Sympathie mit dem Tode" geht Schuberts unsterbliches Lied kaum auf.
    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Farinelli möge es nicht als Unhöflichkeit auffassen, wenn ich auf seinen Beitrag, soweit er den "Zauberberg" betrifft, nicht reagiere. Ich fühle mich diesbezüglich einfach intellektuell überfordert, und es käme am Ende nur der für den "Herrn H." typische gedankliche "Brei" heraus.


    Ohnehin hatte ich den Roman von Thomas Mann hier nicht ins Spiel gebracht, um meine Belesenheit zu demonstrieren, sondern weil ich einen "prominenten Zeugen" dafür in Anspruch nehmen wollte, dass es im "Lindenbaum" - wie in der Winterreise ganz allgemein - eine deutlich ausgeprägte Nähe zum Tod gibt. Diese Auffassung vertrete ich allerdings sehr wohl und werde sie noch einmal argumentativ untermauern.


    Eine Bemerkung möchte ich doch kommentieren. Farinelli schließt seine Beitrag mit der Feststellung:


    "In der augenzwinkernden "Sympathie mit dem Tode" geht Schuberts unsterbliches Lied kaum auf."


    Bei Thomas Mann liest man, dass Schuberts Lied "seinem eigenen ursprünglichen Wesen nach nicht Sympathie mit dem Tode" sei, sondern: "die geistige Sympathie damit (sei) Sympathie mit dem Tode ..."


    Eine "augenzwinkernde Sympathie mit dem Tode" unterstellt Thomas Mann Schuberts Lied also keineswegs .

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • Lieber Helmut,


    bitte verzeih, daß ich den Roman gelesen habe, wahrscheinlich, um meine Belesenheit auch hier zu demonstrieren. ;(


    Das "augenzwinkernd" bezieht sich auf die Ironie des Mannschen Romans, dessen quasi nekrophile Tendenz von der zentralen Liebe zu einer lungenkranken Russin inklusive des Röntgenbilder-Tauschs über die Patienten-Jungendkultur zwischen Flirt und letalem Blutsturz, die spiritistische Geisterbschwörung des toten Joachim ("Fragwürdigstes"), Dr. Krokowskis "Seelenzergliederung" bis hin zur betörenden Schellack-Session reicht ("Fülle des Wohllauts") - auch dort (Finale der "Aida") geht es nekrophil zu. - Das alles muß man nicht wissen, vergiß es einfach, aber wirf mir bitte nicht vor, ich wüßte nicht, wovon ich rede, oder meine Formulierungen seien unangemessen.


    Ich wollte aber gar keine intellektuelle Thomas-Mann-Debatte lostreten, sondern bloß das schöne Lied vom Lindenbaum gegen seine ideologische Inanspruchnahme in Schutz nehmen (übler Kanzleistil, ich weiß).


    Fraglos gibt es ja eine fatale Abwärtsrichtung vieler Gedichte der Winterreise, die nicht gut endet. Ich möchte also meinen Einwand dahingehend vereinfachen, daß ich die "Ruh", die im Rauschen der Lindenzweige verheißen liegt, nicht bruchlos der "Bahre" zugeordnet sehen möchte, die sich der Wanderer beizeiten herbeiwünscht. Der Baum winkt, zumindest in Schuberts Vertonung, nicht schon mit dem Zaunpfahl einer wilden Grabstätte vor der Stadt.
    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

    Einmal editiert, zuletzt von farinelli ()

  • Glaubt bloß nicht, dass Ihr die einzigen wäret, die den "Zauberberg" gelesen hättet ... !!! :hello: Und wenn es hier wieder lustig wird, dann sagt mir Bescheid, dann schau ich wieder öfter hier rein und schmeiße ein paar Kohlen aufs Feuer. Reibung erzeugt Wärme, und der Mensch ist nur Mensch, wenn er spielt.


    Was in dem Lied (auch) dargestellt wird, ist der Gegensatz von "früher" (süßer Traum, liebes Wort) und "heute" (tiefe Nacht).


    Nun ist die Frage, ob die "Ruh", die der Baum verspricht, der Tod ist oder nicht. Wilhelm Müller lässt dies offen - und das macht die Sache ja spannend.


    (Vgl. Wanderers Nachtlied "Über allen Gipfeln ist Ruh ... balde ruhest du auch".)


    Schubert musste sich nunmal entscheiden, ob er "Ruh" = "Rast, Erholung, Labsal" oder "Ruh" = "requies aeterna" vertont. Was meint Herr H. dazu?

  • Lieber Wolfram,


    Du schreibst sehr berechtigt:
    Was in dem Lied (auch) dargestellt wird, ist der Gegensatz von "früher" (süßer Traum, liebes Wort) und "heute" (tiefe Nacht).


    Ganz meisterhaft schlägt Müller im Lindenbaum eine Brücke zwischen diesen Polen der Vergangenheit und Gegenwart:


    "Da hab ich noch im Dunkeln
    die Augen zugemacht."


    Diese Verse umfassen einen tief intimen Moment; die Ausblendung (der Unbilden des Wetters) und Vergegenwärtigung (der Erinnerung und des auch jetzt wahrnehmbaren Rauschens).


    Ich bin mir nicht ganz sicher, ob Helmut (obwohl topisch nichts dagegen einzuwenden wäre) mit der kommunikativen Vereinnahmung der Dorflinde am Brunnen als sozialem Treffpunkt richtig liegt - das Gedicht liefert keinerlei Anhaltspunkt für den Einbezug der Dorfgemeinschaft.


    "Es zog in Freud und Leide
    zu ihm mich immer fort".


    Die Beziehung scheint mir ausschließlicher Natur zu sein, ein Gegenpol zu allen täuschungsanfälligen zwischenmenschlichen Kontakten. Man kann auch das "vor dem Tore" zum "drüben hinterm Dorfe" des Schlußstücks in Beziehung setzen, also den Lindenbaum und den Leiermann, die ja immerhin den Anfangsbuchstaben gemein haben (und wenn Helmut recht hat, auch das Motiv des gleichsam "präludierenden" Beginns im Klaviervorspiel). Die "Ruhe" des Leiermanns ist freilich eine andere als die des Baumidylls.


    "So manches liebe Wort" schnitzte der Wanderer in die Rinde - das zeugt ja vielleicht auch von einer - wiewohl einseitigen - als Einverständnis empfundenen Kommunikation zwischen Wanderer und Baum, der, eingeweiht, durch sein beredtes Rauschen antwortet.


    Ob die wintererstarrte Landschaft eine Natur bedeutet, die nicht mehr spricht - ob sie, unter der weißen Schneedecke, einem unbeschriebenen Blatt gleicht, einer tabula rasa (das "Beschriften" und Inskribieren der Natur spielt ja eine gewisse Rolle im Zyklus) - das ist keine so rasch abgetane Frage. Der Lindenbaum jedenfalls bewahrt auch im tiefsten Winter seine Stimme.
    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Hallo,


    zur Musik "Der Lindenbaum"



    Vorausschicken möchte ich als grundsätzliche Bemerkung zu meinen Beiträgen (siehe auch "Gott und die Liebe" oder "wer hat die Trennung verursacht"):
    Erst der Text - siehe mein Betrag Nr. 66 - dann die Musik. Und für Beide gilt: Ich lese und höre immer zuerst mit meinen Augen, mit meinen Ohren - dann ist mein Gehirn dran - und versuche dabei, möglichst objektiv zu bleiben. Wenn ich in Beiträgen hier auf andere Meinungen oder auf entspr. Literatur verwiesen werde, ist dies für mich Anlass, nachträglich meine Meinung zu hinterfragen.


    "Der Lindenbaum", "Wasserfluth" (auch Teile von "Auf dem Flusse" und "Rückblick") sind für mich von der Musik wie ein Innehalten, Reprise, Rückschau halten - und das Alles noch im "örtlichen" (gefühlten!) Bannkreis "der Stadt, des Hauses" (erst bei "Rückblick" wird diese Zone end/lich/gültig verlassen).
    Hier nun zur Begründung, warum ich die Musik des Lindenbaumes so empfinde (und dabei in den Beiträgen über Harmonik und Melodieführung zu diesem Beitrag keinen Bruch höre):


    Ich höre sehr viele kürzere oder längere Pausen (incl. lang ausgehaltener Töne mit anschl. Pausen) in verschiedenen Variationen: Rechte Klavierhand ½ Note, linke Hand Pause + anschließend ½. Note über den ganzen Takt - Singstimme ½ Note + 1/8 Pause - linke Klavierhand ½ Note + 1/8 Pause + 1/8 Pause rechte Klavierhand + 1/8 Atempause - 1/8 Atempausen in der Singstimme, die nicht gesangstechnisch notwendig sind - linke Klavierhand 2/4 Pause + ½. Note über den ganzen Takt - Singstimme 1/8 Pause, dazu Klavier 1/8, dann Singstimme 1/8 dazu Klavier 1/8 Pause.


    Dieses "Spiel" mit Pausen wird in vielen weiteren Variationen fortgeführt - es entsteht ein immer wieder un..ter..broch..ener Lied- und Klavierfluss, auch im Vor-, Zwischen- und Nachspiel. Es kling für mich nicht stockend, aber zögerlich, fast abwartend ("kommt hier als Nachhall etwas zurück"), nachdenklich "in sich hinein hörend" - das gilt auch für die 3. + 4. Textstrophe in Moll und die wiederholte 6. Textstrophe, wieder in Dur, nur in der 5. Textstrophe haben die Atempausen in der Singstimme eine andere Bedeutung , was aus dem Klavierpart (und dem Text, "Anstrengung") ersichtlich ist.


    Viele Grüße
    zweiterbass


    Nachsatz, lieber farinelli,


    ich hatte meinen Beitrag erstellt, bevor ich Deinen Beitrag lesen konnte, daher:
    Muss man die 3. Textstrophe realitätsnah verstehen?
    Der Wanderer musste in tiefer Verzweiflung (seelischer Nacht) vorbei wandern, hat dann durch das Schliessen der Augen (das Ausblenden seines momentanen Zustandes - "noch im Dunkel") die alten Bilder zurück geholt?
    Erst die "kalten Winde" holen ihn wieder in die Realität zurück - und die 6. Strophe kann zeitlich und örtlich interpretiert werden?

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Zweiterbass fragt:


    "...und die 6. Strophe kann zeitlich und örtlich interpretiert werden? "


    Die sechste Strophe ist in der Tat diejenige, die letzten Endes die Größe dieses Liedes ausmacht und zugleich - wahrscheinlich genau deshalb - die meisten Fragen aufwirft.


    Ich würde die zentrale Frage allerdings anders formulieren (ohne dass es deshalb eine wirklich andere ist):


    Passt die Musik, die da zu hören ist, eigentlich zum Text, der ihr zugrundeliegt?

  • Ja-------die Musik passt zum Text,
    allerdings nur deswegen, weil im Text (6. Strophe) diesmal keine Aussage erfolgt, was der Wanderer empfindet, wenn er i m m e r DAS im "Rauschen" hört (das kann im Wahnsinn enden, im Suizid, im Verstricktsein in ein hoffnungsloses, entseeltes Erdulden einer lebensfeindlichen, unmenschlichen Vorherbestimmng des Daseins-------Leiermann


    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Die Frage, wie das Versprechen des Lindenbaums "Du fändest Ruhe dort" letzten Endes zu verstehen sei, lässt sich nicht eindeutig beantworten, und man darf vermuten, dass Wilhelm Müller das auch so wollte. Es gibt allerdings einige durchaus gut begründete Argumente dafür, dass hier die Ruhe im Tod gemeint ist. Das lässt sich nicht unmittelbar aus dem Text erschließen, wohl aber aus dem Kontext, in dem das Gedicht "der Lindenbaum" zu lesen und das zugehörige Lied zu hören ist.


    Wilhelm Müller hat seine Gedichtsammlung "Die Winterreise" ja als in sich geschlossenes lyrisches Werk gedichtet und nicht etwa aus zufällig herausgegriffenen Gedichten aus seinem lyrischen Gesamtwerk zusammengestellt. Das bedeutet, dass das im Zentrum stehende lyrische Ich eine literarische Figur ist, der ganz bestimmte persönliche (seelische, charakterliche ) Eigenschaften zukommen. Man muss also alles, was dieses lyrische Ich in den einzelnen Gedichten und Liedern artikuliert, im Kontext der Äußerungen dieses Ichs in den übrigen Gedichten interpretieren.


    So ist hier zum Beispiel unterstellt worden, der Wanderer verfolge mit dem Anschreiben von "Gute Nacht" an die Tür des Mädchens auch den Gedanken, ihr "einen Denkzettel" zu verpassen. Eine solcher Gedanke passt nicht zu dieser Figur, wie sie sich in den folgenden Liedern darstellt. An ihr ist keinerlei Hinterhältigkeit oder Bösartigkeit zu beobachten. Das einzige, was der Wanderer außer den Äußerungen des Leidens am Scheitern seiner Liebesbeziehung von sich gibt, ist Verbitterung und eine Art Anklage gegenüber der Mutter des Mädchens.


    Das, was er beim Rauschen des Lindenbaums empfindet, ist nun wiederum aus der seelischen Verfassung zu interpretieren, in der er sich in diesem Augenblick des Vorbeiwanderns an diesem Baum befindet. Er nimmt das Rauschen als ein Versprechen auf, das er im Konjunktiv formuliert. Du "fändest" , - das heißt: Falls du dich zu mir hinbegibst, kann du bei mir Ruhe finden. Diese Ruhe kann nicht eine Rückkehr in das alte Leben beinhalten, in dessen Zentrum dieser Baum - nach den eigenen Aussagen des Wanderers - ehemals stand. Aus diesem Leben fühlt er sich ein für allemal "hinausgetrieben" ("Gute Nacht").


    Ein Sich-Ausruhen unter diesem Baum, möglicherweise in der Form, dass er seinem alten Leben dort nachträumt, scheidet für ihn ebenfalls aus, - was das Versprechen von Ruhe anbelangt. Schon das erste Lied lässt unmissverständlich erkennen, dass dieser Mensch zum "Wandern" verdammt ist, - im Sinne eines existenziellen Getriebenseins, das keine Richtung und kein Ziel kennt. Ruhe, im Sinne von Ausruhen, kennt dieses Leben nicht mehr. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf das Lied "Rast". Besonders aussagekräftig sind hier die Verse: "Doch meine Glieder ruh´n nicht aus: So brennen meine Wunden."

    Wenn also sowohl die Möglichkeit einer Rückkehr in das alte Leben, als auch die andere Möglichkeit einer Ruhe unter dem Baum im Sinne eines Sich-Ausruhens und Frieden-Findens ausscheiden, dann bleibt nur eine Interpretation übrig: Der Wanderer versteht in diesem Augenblick das Versprechen des Baumes als die Verheißung einer Ruhe im Tod, im Sinne einer endgültigen Erlösung von allen seinen Leiden.


    Diese Deutung liegt durchaus auf der Linie der anderen Gedichte, in denen der Tod als einzige Form der Erlösung aus der existenziellen Grenzsituation empfunden wird, in der Wanderer sich gestellt sieht. Ich verweise auf folge Verse:


    Lied 9 (Irrlicht): "Jedes Leiden hat sein Grab"
    Lied 14: (Der greise Kopf): "Wie weit noch bis zur Bahre"
    Lied 15 (Die Krähe): "Treue bis zum Grabe"
    Lied 20 (Der Wegweiser): "Eine Straße muß ich gehen, Die noch keiner ging zurück"
    Lied 21 (Das Wirtshaus): "Auf einen Totenacker hat mich mein Weg gebracht"


    Es wäre ein Missverständnis der "Winterreise", wenn man Müller (und Schubert) unterstellte, dass in diesem Liederzyklus der Gedanke des Suizids als Lösung existenzieller Grundprobleme reflektiert würde. Dass aber die "Winterreise" ein Werk ist, das sich künstlerisch mit dem Them "Leben und Tod", - im Sinne einer Aussage über das Wesen der menschlichen Existenz - beschäftigt, das ist schwer von der Hand zu weisen.


    Der Todesgedanke, der immer wieder in einzelnen Liedern auftaucht (s. oben!), ist bei dem Wanderer ein typisch romantischer. Es ist der eines langsamen Eingehens in eine Natur, die hier nicht nur als menschenfeindlich, sondern auch als für den Menschen tödlich dargestellt wird. Aus diesem Grund wendet sich der Wanderer ja von dem Lindenbaum ab: Er weist den Gedanken des Suizids von sich.


    Ich verweise in diesem Zusammenhang noch einmal auf die Winterbilder Caspar David Friedrichs. Hierzu merkt Hermann Beenken ("Das neunzenn te Jahrhundert in der deutschen Kunst, München 1944) an:


    "So wird nun auch der Tod der Natur selber zu einem dem zeitlichen Werden entrückten Zustande, in dem sich nicht anders als in den Zuständen des lebendigen Erdenlebens das Ewige dem Menschen auf seine eigene und besondere Weise enthüllt. (...) Das Polarmeer, die Welt der grenzenlosen, menschenfernsten Einsamkeit, die sich denken lässt, die des absoluten Todes, ist hier bei Friedrich zum ersten Mal in den Bereich der Kunst einbezogen."


    Ich würde hinzufügen: Und das erste Mal im Bereich der Musik im Falle von Schuberts Zyklus "Winterreise".

  • ut nocte silenti
    fallere custodes foribusque excedere temptent,
    cumque domo exierint, urbis quoque tecta relinquant,
    neve sit errandum lato spatiantibus arvo,
    conveniant ad busta Nini lateantque sub umbra
    arboris: arbor ibi niveis uberrima pomis,
    ardua morus, erat, gelido contermina fonti.


    Mit leisem Geflüster
    Klagen sie lang und beschließen sodann, die Hüter zu täuschen
    Mitten in schweigender Nacht und sacht aus der Türe zu schleichen;
    Wenn sie entkommen dem Haus, die Gebäude der Stadt zu verlassen,
    Dann, dass draußen sie nicht fehlgingen im weiten Gefilde,
    Beide zu kommen zum Grab des Ninus und sich zu verbergen
    Unter dem schattigen Baum. Dort ragte beladen mit weißen
    Früchten ein Maulbeerbaum ganz nahe bei kühlender Quelle..


    (Ovid, Metamorphosen, Pyramus und Thisbe)


    Um Helmuts These zu stützen: Aus den langen Schatten der Intertextualität hebt sich bereits bei Ovid die Zweideutigkeit von amoenem Gefilde und gefährdertem Stelldichein, von Baumschatten, Quelle und Grab.
    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Lieber Helmut, du schreibst:


    Der Todesgedanke, der immer wieder in einzelnen Liedern auftaucht (s. oben!), ist bei dem Wanderer ein typisch romantischer.


    Tristis est anima mea usque ad mortem
    „Meine Seele ist betrübt bis an den Tod.“ (Matth. 26, 38 )


    Lied 15 (Die Krähe): "Treue bis zum Grabe"


    "Esto fedelis usque ad mortem et dabo tibi coronam vitae"
    Sei getreu bis an den Tod und ich werde dir die Krone des Lebens geben. (Apokalypse 2/10)


    ab incunabulis usque ad sepulchrum
    (von den Wiege bis zum Grabe)


    Lied 9 (Irrlicht): "Jedes Leiden hat sein Grab"


    est modus matulae.
    (Jeder Kessel hat ein Mass.)


    Lied 14: (Der greise Kopf): "Wie weit noch bis zur Bahre"


    mors certa, hora incerta.
    Der Tod ist uns gewiss, seine Stunde aber ungewiss.


    ibd.: Da glaubt ich schon ein Greis zu sein


    Quam cito (me miserum!) laxantur corpora rugis.
    Weh mir Armen, wie bald wird schlaff der Körper von Runzeln! (Ovid)


    usw.
    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • In meinem Beitrag "Gedanken zu ´Der Lindenbaum´ (3)" ging es mir um die Frage, wie die Todessehnsucht des Wanderers in der "Winterreise" zu verstehen ist. Die "Winterreise" ist ja Gegenstand dieses Threads. Es ging mir demnach nicht um das Thema "Leben und Tod, Gott und die Welt".


    Zu dieser Frage stellte ich fest: "Der Todesgedanke, der immer wieder in einzelnen Liedern auftaucht (s. oben!), ist bei dem Wanderer ein typisch romantischer."


    Ich meinte damit, dass sich bei vielen Vertretern der Romantik die Vorstellung des Todes als eines Eingehens in die allumfassende Natur findet. Ich verweise in diesem Zusammenhang - beliebiges Beispiel - auf die Erzählung "Der blonde Eckbert" von Ludwig Tieck. Auf diese Weise Ruhe vor dem Leiden an den Folgen der Individuation zu finden, gehört zu den literarisch-philosophischen Topoi romantischen Weltverständnisses.


    Man höre sich unter diesem Aspekt doch bitte einmal Eichendorff/Schumann: "Aus der Heimat hinter den Blitzen rot" an. Das Wort "Ruhe" taucht hier in ähnlich ambivalenter Bedeutung auf wie im "Lindenbaum": "Da ruhe ich auch, und über mir rauscht die schöne Waldeinsamkeit".

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • Ich erlaube mir eine kleine Zwischenbetrachtung; angeregt durch Reflexionen Helmuts wie etwa die hier folgenden:


    "als ein Vorgang darstellt, bei dem sich der Protagonist immer mehr in die deprimierende Trostlosigkeit der Bilder verstrickt, denen er sich gegenübersieht."


    "Wie sehr er inzwischen schon auf sich selbst zurückgeworfen ist und die Außenwelt aus der Perspektive der seelischen Innenwelt wahrnimmt,"


    "mit dem kompositorischen Mittel der modifizierten Wiederholung von Textpassagen die Besessenheit des Wanderers von den Bildern seiner seelischen Innenwelt ins Extreme steigert."


    "War in den beiden ersten Liedern der Blick des Wanderers noch deutlich auf die Außenwelt gerichtet, auf das Haus des "Mädchens" und auf die "Wetterfahne" oben drauf, so nimmt er schon im dritten Lied die Beobachtung eines Phänomens der Außenwelt zu Anlass, sich sofort in seine seelische Innenwelt zu vertiefen und darüber nachzudenken, wieso denn seine Tränen gefrieren können, wenn sie aus einem derart glühenden Herzen kommen."


    Man glaubt zwar ungefähr zu verstehen, was Helmut hier sagen möchte, aber der Teufel steckt, wie so oft, im Detail.


    In der berühmten Todesfurchtszene aus Kleists "Prinz Friedrich von Homburg" ruft dieser aus:


    "Oh Gottes Welt, oh Mutter, ist so schön!"


    Ist er da auf die Außenwelt bezogen, rauschhaft die Schönheit der Schöpfung preisend? Oder ist dieses Lobpreis des Lebendigen kondensiert im eigenen, nackten Leben; meint der Gefangene gar, das Standgericht vor Augen, das alles, sogar der Kerker schöner wäre als der Tod?


    Wie würde man das inszenieren - würde die Tontechnik Louis Armstrongs "What a wonderful World" einblenden, während an die Wände des Kerkers Bilder projiziert würden, wie wir sie aus der Krombacher-Werbung kennen? "Sail away"? - Oder würde man die Bühne verdunkeln und bloß einen Scheinwerfer auf den Prinzen heften, wie er da flehend am Boden liegt?


    Gott, welch Dunkel hier!


    Helmuts Lösung operiert mit einem erkenntnistheoretischen Modell, das zwischen der Außenwelt und der Innenwelt differenziert. Das Besondere daran ist, daß man zwischen beiden hin und her switchen kann - es existiert eine Art Scharnier, das allerdings im Falle des Winterreisenden quasi zu klemmen scheint. Das ist aber halb so schlimm, da der Analytiker immer genau weiß, wo er sich befindet.


    Die Reise findet eigentlich im Kopf statt; draußen ist dafür Winter, drinnen im Haus, das auch draußen steht, schläft das Mädchen einen imaginierten Schlaf unirritierter Zuneigung, ein im Spiegel erträumter Traum; draußen auf dem Dach klirrt die Wetterfahne, und drinnen im Haus, das nun böse ist (also innen), sind die Frauen treulos. Draußen an den Wangen gefrieren Tränen, von denen man inwendig nichts gewußt haben will; aber die gefrornen Tränen sind wieder nur ein Bild dafür, daß das eisige Draußen nach drinnen gelangt ist, indem das heiße Innere nur mehr schockgefrostet nach außen dringt. Auch das Herz, innen, ist bereits wie gefroren, und das Bild des Mädchens darin auch, droht aber zu schmelzen und endgültig mit Stumpf und Stiel herauszukommen.


    Ich gestehe, daß ich Helmuts Modell faszinierend, aber auch ein wenig verwirrend finde für den Laien.


    "Ich will den Boden küssen,
    durchdringen Eis und Schnee
    mit meinen heißen Tränen,
    bis ich die Erde seh ..."


    Diese Stelle läßt Helmut sich entgehen, obwohl er hier beinahe kantisch triumphieren könnte mit einer Durchbruchsphantasie, eines Kleists würdig, der sich ja auch an der unerkennbaren Wirklichkeit die Stirne blutig stieß. Denn eigentlich will der Winterreisende ja hinausgelangen aus seiner selbstreferentiellen Innenwelt.


    Wie schrieb Rilke doch gleich in den Duineser Elegien?


    "Wie kennen den Kontur
    des Fühlens nicht; nur, was ihn formt von außen."

    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

    2 Mal editiert, zuletzt von farinelli ()

  • Persönliche Notiz:


    Ich bitte um Verständnis dafür, dass ich mich, die "Winterreise" betreffend, auf den liedanalytischen Ansatz beschränke und auf allgemeine Aspekte des Themas "Winterreise" nicht eingehen möchte.


    Das ist für mich gerade genug!


    Es ist tatsächlich Arbeit, und sie überfordert mich!

  • Schon das erste Lied lässt unmissverständlich erkennen, dass dieser Mensch zum "Wandern" verdammt ist, - im Sinne eines existenziellen Getriebenseins, das keine Richtung und kein Ziel kennt.


    Lieber Helmut,



    wenn Du dies so deutest, der Wanderer sei ein für sein Leben vorherbestimmtes Wesen, das veranlagungsbedingt als existenziell Getriebener wandern muss, so sehe ich im Text dazu keinen Bezug.


    Das bedeutet, dass das im Zentrum stehende lyrische Ich eine literarische Figur ist, der ganz bestimmte persönliche (seelische, charakterliche ) Eigenschaften zukommen.


    Ich habe ihn früheren Beiträgen schon mein Sicht dargelegt: "Fremd bin ich eingezogen…" verstehe ich, dass der Wanderer als "naiver Tor", der die fiesen bürgerlichen Gebräuche nicht kennt, fremd einzieht und Folge dessen auch fremd auszieht. Man kann wohl nicht sagen, dass, wer sich in den "fiesen…" nicht auskennt und deswegen als fremd ausgegrenzt wird, ein von Anfang an existenziell Getriebener sei.
    Das Liebesleid des Wanderers, an dem ein für ihn erfülltes Leben zerbricht, ist das Produkt einer (schon damals - nicht so stark wie Heute?) kapitalorientierten Gesellschaft, die auf das Individuum keine Rücksicht nimmt; die "im Haus Herrschenden" nicht gegenüber ihrem eigenen Kind und schon gar nicht gegenüber dem Wanderer.


    Herzliche Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Lieber Helmut,


    du schreibst:


    So ist hier zum Beispiel unterstellt worden, der Wanderer verfolge mit dem Anschreiben von "Gute Nacht" an die Tür des Mädchens auch den Gedanken, ihr "einen Denkzettel" zu verpassen. Eine solcher Gedanke passt nicht zu dieser Figur, wie sie sich in den folgenden Liedern darstellt. An ihr ist keinerlei Hinterhältigkeit oder Bösartigkeit zu beobachten. Das einzige, was der Wanderer außer den Äußerungen des Leidens am Scheitern seiner Liebesbeziehung von sich gibt, ist Verbitterung und eine Art Anklage gegenüber der Mutter des Mädchens.


    Das scheint mir ein wenig Wortklauberei zu sein, denn der gesunde Menschenverstand lehrt doch, daß ein Ressentiment, wie es aus der Wetterfahne spricht, auch die Gedanken an das Mädchen im ersten Stück kontaminieren möchte. Da braucht es keine "Bösartigkeit" oder "Hinterhältigkeit", die im übrigen in der "Wetterfahne" sehr wohl zu beobachten sind, wofern man das nicht so herunterspielt wie Du im obigen Zitat.


    Es ist Dir aber vielleicht entgangen, daß ich nun auch mit der Faktur des Schubertliedes meine Argumentation zu stützen versucht habe. Die Durwendung, die das erste Mal zu den Worten "Das Mädchen sprach von Liebe" usw. eintritt, hat in ihrer sequentiellen Abfolge und melodischen Aufwärtsgipfelung etwas latent Triumphierendes, Auftrumpfendes, was nun ausgerechnet in der komplett nach Dur gewendeten Schlußstrophe zum Tragen kommt.


    Das musikalische Genre, das Schubert an dieser und anderen Stellen der Winterreise wählt, ist der Marsch oder speziell der Trauermarsch (ähnlich wie in "Auf dem Flusse" und vielleicht auch in "Wasserflut"). Bücher haben ihre Schicksale und Duraufhellungen ihre Kontexte, wodurch die Klangwirkung auch schneidend, nicht bloß tröstlich sein möchte.


    Auf das Verfahren der Versumstellung in der vorletzten Strophe habe ich oben bereits hingewiesen - Schubert gibt erst die allgemeine Aussage:


    "Die Liebe liebt das Wandern [Von einem zu dem andern]
    Gott hat sie so gemacht"


    in der Duraufhellung, um diese Aussage dann mit dem fatalen Gruß "Fein Liebchen, Gute Nacht" förmlich zu verflechten (ganz anders als der Wortlaut bei Müller), und zwar in der Molleintrübung.


    Hinzu kommt jetzt die Textumstellung der Verse in ihrer Melodiezuordnung in der letzten Strophe, die ja sogar Modifikationen der Melodie erforderlich macht: Das erste "An dich hab ich gedacht" springt zurück in die Quart und endet nicht auf der Tonika, sondern, eine Sext tiefer, auf der Terz. - Das ist (gegenüber dem Abschluß etwa der Versfolge bei "die Mutter gar von Eh´") weniger entschieden, als sei der Wanderer mit diesem "Abschiedsgruß" noch nicht fertig; und wirklich wird ja nun nicht Halbstrophe für Halbstrophe, sondern wörtlich die ganze Phrase wiederholt. Der, wie mein Notentext sagt, erste und einzige Akzent des Vokalteils (um die Sforzati des Vor- und Zwischenspiels außer Acht zu lassen) fällt auf den punktierten Ton e von Gu-te Nacht (T 124).


    Das Stück begann auf: (f) - e - d - a. Wie ein sonderbares Echo lautet das "ans Tor dir Gu-te Nacht" nun auf a - d - e. - Wie man das interpretiert, ist natürlich jedem selbst überlassen.


    Wenn man nun Schuberts Komposition Zeile für Zeile ins Auge faßt, ergibt sich, in meinen Augen, das Folgende:
    (T 111 ff):


    "Schrieb im Vorübergehen
    ans Tor dir Gute Nacht,
    damit du mögest sehen ..."


    - bis hier her ist die melodische Abfolge erwartbar, da sie dem Strophenschema des Liedes folgt. Die im sequentiellen Sich-Höherschrauben der Melodie empfundene Intensivierung des Textes bricht nach "Sehen" indessen ab; und Schubert formuliert es fast wie eine Zurücknahme, als spreche der Wanderer nicht aus, was er denkt:


    "... an dich hab ich gedacht"


    Dieser ganz unerwarte Quartensprung fis -cis und der kadenzierende Versschluß auf dem um eine Oktav nach unten versetzten Terz-fis, also die ganze unerwartete Abwärtsbewegung der Melodieführung an dieser Stelle haben doch etwas Unentschiedenes, Vorläufiges und fast Erzwungenes.


    In der Wiederholung dieser Phrase fällt der Akzent nun nicht wiederum erst auf das "An dich hab ich gedacht!", sondern ganz unerwartet bereits auf das "Gute Nacht!" (T 124; T 114f blieb es melodisch unakzentuiert).


    Das "Fein Liebchen, Gute Nacht" klang schon in der vorangehenden Strophe nicht so besonders zartfühlend. Erstmalig erklang dazu die Tonfolge a - d - e, also die Umkehrung des Melodiekerns, mit dem das Lied einsetzt, allerdings dort als Mollkadenz (T 92f).


    Nach Dur gewendet, wird dieser Gutenachtgruß immer aufgeladener. Wenn Müller tatsächlich intendierte, daß der Wanderer das Mädchen schonen möchte, daß er sich ihr gegenüber auf ein liebevolles "Lebewohl" beschränkt, so tut Schubert doch alles, um zwischen den Zeilen durchblicken zu lassen, wie es wahrhaft um den Winterreisenden steht. Er zwingt sich dazu, nicht deutlicher zu werden, und mit einem seltsamen Lächeln auf den Lippen wiederholt er seinen Gruß, der im Kontext des Liedes aber auch gar nichts Schmeichelhaftes mehr hat.


    Die Doppelbeleuchtung ist ja nicht erst im überdeutlichen Schlußvers des Liedes zu beobachten, sondern konstitutiv für das ganze Stück, das aus lauter Doppeldeutigkeiten im Wortsinn besteht und entsprechend seine Phrasen melodisch und harmonisch mehrfach belichtet.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Nun aber zurück zum "Lindenbaum." Helmut schreibt:


    Man höre sich unter diesem Aspekt doch bitte einmal Eichendorff/Schumann: "Aus der Heimat hinter den Blitzen rot" an. Das Wort "Ruhe" taucht hier in ähnlich ambivalenter Bedeutung auf wie im "Lindenbaum": "Da ruhe ich auch, und über mir rauscht die schöne Waldeinsamkeit".


    Ich kann diese Ambilvalenz bei Eichendorff nicht entdeken; die rückblickende Rede vom Ableben der Eltern ("... sind lange tot") und der Vorausblick aufs eigene Schicksal ("... wie bald kommt die stille Zeit") lassen das in die Ich-Form gewendete Goethe-Zitat ("Bald ... ruhe ich auch") nur als beschönigende Umschreibung des eigenen Todes und Gestorbenseins lesen. Ambivalente Lesarten im Sinne des "Lindenbaums" müßten bei Eichendorff ja eine Deutung zulassen, als gedächte das lyrische Ich hier zugleich etwa des baldigen Feierabends und eines schönen Waldspaziergangs.


    Dennoch ist der Hinweis auf "In der Fremde" sehr lohnend und fruchtbar. Unmerklich nämlich hat sich in die Bildlichkeit Eichendorffs ein kleiner Bruch eingeschlichen:


    "... da ruhe ich auch; und über mir
    rauscht die schöne Waldeinsamkeit ..."


    Zwei nicht kongruente Räume überlappen sich hier und werden zur Deckung gezwungen - Das Totsein im Grab, unter der Erde des Kirchhofs, und die topische und Eichendorff-typische Waldeinsamkeit darüber. Man mag diese Überlappung und scheinbare Kongruenz in der Tätigkeit der Waldeinsamkeit begründet sehen - dem "Rauschen", das ja den Raum des Waldes zu einem akustischen ausweitet, in den das Ich einbezogen bleibt (und zwar in der widersinnigen Annahme, daß dem Rauschen ein Lauschen entspräche).


    Auch andere Dichter haben diesen Widerspruch in der Selbsttröstung gestaltet:


    ... Ein schlichtes Holzkreuz gebt mir, und als Text
    Die Jahreszahl, die mit dem Regen schwindet,
    Und wilden Efeu, der darüberwächst,
    wenn es sich neigt, bis niemand es mehr findet.


    Dann habe ich noch eine kleine Frist
    Und habe Wolken, Erde, Wind und Schatten,
    Und in den Bäumen regt sich das Genist
    Wie in den Jahren, die mein Lauschen hatten.



    Und somit hat Helmut doch recht, die Gedichte Müllers und Eichendorffs zu vergleichen. Denn die Selbstaufgabe der Individuation als Rückkehr zur Natur und Wiedereintritt in ihren organisch-vegetativen Kreislauf ist ja nie eine bruchlose Utopie, sondern eine Wunsch-Vorstellung, durch die wie ein Riß das factum brutum des Todes verläuft.


    Mein persönlicher Eindruck vom "Lindenbaum" war immer der, daß es das am meisten individuelle Stück des Zyklus sei, also genau so herausragend, wie es schon die Zeitgenossen empfunden hatten. Es beginnt mit einem unvergeßlichen poetisch-klangmalerischen Vorspiel, das nicht, wie sonst im Zyklus, die Bewegung des Stücks vorgibt, sondern sich selbst mit einem Hornmotiv unterbricht, das allererst in die Atmosphäre der volksweisenhaften Melodie überleitet.


    In dieser musikalischen Formulierung, die zunächst etwas Phantastisches und fast Willkürliches hat, versteckt sich indessen, kaum merklich, eine bekannte Tonfolge (ich wähle jeweils den Diskant der rechten Hand):


    e - dis - e - gis - fis - e - h [- cis - h]


    Es ist das Kopfmotiv aus "Gute Nacht", das ja bereits dort, in anderer Tonart, auch in der Durwendung auftauchte. Also bereits hier, in der lieblichsten Evokation der rauschenden Lindenkrone echot es von "Fremd bin ich ein[gezogen]" bis zu "Will dich im Traum nicht [stören]" irrlichtend nach.


    Doch damit nicht genug. Wenn man das Notenbild von "Erstarrung" vergleicht, so fällt die von Triolen der rechten Hand umrauschte Baßführung auf, die Tonika und Leitton in ein eng sich umspielendes Verhältnis setzt*. Die gleichen in gebrochenen Dreiklängen schillernden Diskant-Triolen folgen im Vorspiel zum "Lindenbaum", Takt 5, einem ganz ähnlich geführten Baß ([his]-cis-his-cis-his-cis[-h]). Doch während damit in der "Erstarrung" auch ein ostensives Schema der Obsession gezeichnet wurde, wirkt die Modulation von "Lindenbaum", TT 5 und 6, als müsse hier diese Obsession, die gleichsam kurz anklingt, durchbrochen werden, als komme sie wirklich zum Stillstand und - insofern "Erstarrung" von der inneren Unruhe handelt - zur Ruhe.


    Mit diesen Befunden, wenn man sie denn akzeptiert, ließe sich also Helmuts These untermauern, daß der "Lindenbaum", vor allem so wie Schubert ihn in Töne setzt, unterschwellig vom Tod handelt, von den inneren Kräften des Getriebenseins, denen die Linde eine Art von Narkotikum entgegensetzt.


    Ich hatte ja weiter oben zu bedenken gegeben, daß im "Lindenbaum" die Vertonung von:


    "Die kalten Winde bliesen
    mir grad ins Angesicht,
    der Hut flog mir vom Kopfe,
    ich wendete mich nicht."


    nicht, wie es der Kontext ja eigentlich nahelegen würde, aus der dem "Lindenidyll" entgegengesetzten Winterlandschaft und ihren Motiven gewonnen wird, sondern aus dem betörenden Rauschen der Linde selbst. Geschenkt, daß die Linde als Teil dieser Landschaft auch eine Winteransicht bietet. Schuberts Konjektur, denn um eine solche handelt es sich (ohne daß er den Text antastete) verschiebt die Aussage des Gedichts von einem nostalgischen Sehnsuchts-Bild hin zu einem dämonischen Pflanzen-Wesen. Die vielsagende Zeile:


    Der Hut flog mir vom Kopfe


    fällt in der Vertonung auf die Noten h-c-h-c-h-c, also den gleichen (um einen Halbton nach unten versetzten) Noten, die sich wie ein Echo der "Erstarrung" in Takt 5 des "Lindenbaum"-Vorspiels in den Baß eingeschlichen haben.


    Ein weiteres Mal finde ich damit meine These bestätigt, daß die Anfänge der wagnerschen Leitmotivtechnik bei Schubert zu finden sind.



    *(eine letzte Anmerkung hierzu: der Beginn des Lindenbaum-Vorspiels e-dis-e-gis-fis-e entspricht recht genau der Baßlinie zu Beginn von "Erstarrung":
    c-h-c-es[-f]-es-d-c[-h-c].)


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Ich hatte in Beitrag Nr. 77 geschrieben:


    "Schon das erste Lied lässt unmissverständlich erkennen, dass dieser Mensch zum "Wandern" verdammt ist, - im Sinne eines existenziellen Getriebenseins, das keine Richtung und kein Ziel kennt."


    Zweiterbass hat darauf mit der Feststellung reagiert:


    "wenn Du dies so deutest, der Wanderer sei ein für sein Leben vorherbestimmtes Wesen, das veranlagungsbedingt als existenziell Getriebener wandern muss, so sehe ich im Text dazu keinen Bezug."


    So hatte ich das nicht gemeint. Ich muss aber zugeben, dass ich mich missverständlich ausgedrückt hatte. Was ich meinte, war dieses:


    Der Protagonist der "Winterreise" fühlt sich aus dem Haus, in dem sein Glück suchte, "hinausgetrieben" (Lied "Gute Nacht"). Für ihn ist dieses Hinausgetrieben-Sein verbunden mit der Notwendigkeit, jetzt "eine Reise" anzutreten, das heiißt sich auf den Weg zu machen, den die folgenden Lieder "beschreiben". Dieser Weg ist eine Wanderung, die in der Nacht angetreten wird und bei der er sich selbst "den Weg weisen" muss.


    Er erlebt diesen Vorgang nicht als einen äußerlichen, sozusagen die äußeren Umstände seines Lebens betreffenden, sondern er erfährt ihn als etwas, das ihn im Kern seiner Existenz getroffen hat. Dieses meinte ich mit dem Begriff des "existenziellen Getriebenseins", das nun den weiteren Weg des Wanderers bestimmt.


    Er wandert also nicht einfach durch die Gegend, sondern empfindet das Herumirren durch die winterliche und menschenfeindliche Landschaft als gleichsam als in der äußeren Welt sich zeigende, sinnliche Manifestation des Wesens seiner Existenz. Von einer "Veranlagung" zum Wandern war also nicht die Rede.

  • In Beitrag Nr.75 hatte ich in bezug auf sechste Strophe des Liedes "Der Lindenbaum" die (mehr rhetorische ) Frage gestellt: Passt die Musik, die da zu hören ist, eigentlich zum Text, der ihr zugrundeliegt?


    Dieser Frage möchte hier noch näher nachgehen. Wenn schon die erste Strophe des Liedes kein wirkliches Volkslied, sondern nur ein Zitat davon ist, - wie ist dann die letzte Strophe zu hören? Sie wäre ja dann sozusagen das Zitat eines Zitats. Von ihrer musikalischen Faktur her greift sie eindeutig die melodische Linie der ersten Strophe auf, allerdings mit einer deutlich anders strukturierten Klavierbegleitung. Die ist mit ihren sich wiegend auf- und abwärts bewegenden Achteln hörbar einschmeichelnder als die deklamatorisch gebundenen Akkorde der ersten Strophe.


    Der Wanderer singt, nun schon "so manche Stunde" vom Lindenbaum entfernt, immer noch die Melodie, die diesem zuegordnet ist. Sie ist aber in in hrer musikalischen Einkleidung dieses Mal noch weiter weg von jenem Volksliedton, der sich schon von Angang an als Zitat enthüllte ( siehe Beitrag 65 ). Wie ist das zu verstehen?


    Alles, was das Lied "Der Lindenbaum" besingt, ist in den ersten fünf Strophen aus der Retrospektive artikuliert. Zeitlicher "Ausgangspunkt" dafür ist die letzte Strophe mit ihrem "Nun bin ich...". Nur hier herrscht in der Sprache des lyrischen Ichs das Präsens. In allen anderen Strophen ist es das Präteritum: Der Wanderer "träumte", er "schnitt", es "zog ihn" und er "musste vorbei" an diesem Baum. Den ersten beiden Strophen ist musikalisch das Zitat des Volksliedtons zugeordnet.


    Das ist für den Wanderer aber Vergangenheit. Auch die Strophen drei und vier sind noch von diesem Volksliedton geprägt, wenn auch vorübergehend in der Brechung des hellen E-Dur durch ein e-Moll. Schließlich ist hier gerade die Gegenwart in die verträumten Erinnerungen an eine glückliche Zeit eingebrochen.


    In der vierten Strophe war das E-Dur zurückgekehrt, weil dieser Baum das "Komm her zu mir, Geselle" gerufen hatte. Eigentlich darf der Wanderer jetzt, nach dem schroffen Bruch in der Melodik der fünften Strophe, nicht mehr singend in den "alten Ton" zurückfallen. Wenn er es dennoch tut, wie ist das dann zu verstehen? Doch wohl so:


    Er hat keine wirkliche Gegenwart mehr, - Gegenwart im Sinne eines sich perspektivisch in die Zukunft öffnenden Leben in der Zeit. Seine Existenz ist eine, die sich ganz aus den Bildern der Vergangenheit speist, die in seiner seelischen Innenwelt aufsteigen. Das Rauschen des Lindenbaums gehört dazu, mitsamt dem Versprechen, das der Wanderer darin zu vernehmen meint.


    Mit welcher Eindringlichkeit dieses Versprechen im Rauschen des Lindenbaums aus der Vergangenheit immer noch zu ihm herüberkommt, das hat Schubert in Takt 74 durch eine spezifische musikalische Struktur hervorgehoben: In der Pause der Singstimme nach der halben Note auf dem Wort "dort" erklingt im Klavier im Unisono von Bass und Diskant ein Bogen von Achteltriolen. Man vernimmt ihn wie einen von weither kommenden Ruf.

  • ES ist ein wenig schwierig, hier einzusteigen, nachdem man so lange pausiert hat - aber dennoch will ich einiges anmerken, das mir aufgefallen ist und einige subjektive Eindrücke ins Spiel bringen - denn es handelt sich ja nicht um die Suche nach der Wahrheit - da es keine geben kann - es ist alles Fiktion


    Und da wäre ich schon bei einem Punkt des Lindenbaums. Der Lindenbaum "verspricht in Wahheit" gar nichts - es ist eine Imagination des Wanderers "... und immer hör ichs rauschen "Du fändest Ruhe dort"


    Somit ist ihm auch die Deutung vorbehalten - wir können nur drüber spekulieren was er darunter verstanden hat. Vermutlich hat er es selber nicht genau gewusst. Oder aber ar hat gewusst, daß er die Illusion zerstört, wenn er sich ihr zu nähern versucht. Eine gewisse Todessehnsucht ist unterschwellig sicher vorhanden - ob sie aber von anderen - positiveren Gefühlen überlagert wurde - das wird wohl immer ein Geheimnis bleiben - und ich gehe davon aus, daß dies vom Dichter beabsichtigt ist - und vom Komponisten unterstrichen wurde.


    Ob die Vertonung des "Lindenbaums" zum Text passt ? Ich würde das bejahen
    Ihre Kongenialität kommt besonders gut zum Ausdruck, wenn man Schuberts Vertonung mit jener (harmloseren) von Silcher vergleicht.......


    Nicht beipflichten möchte ich, wenn die Linde als "gesellschaftlicher Treffpunkt" gesehen wird - mir erschien sie eher ein Ort der Kontemplation zu sein, ein Ort, wohin sich der Wanderer zurückzog, um seine Phantasien zu entwickeln, denn ich gleube, seine "glücklichen Stunden" haben nur in der Phantasie existiert.... (?)

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Helmut Hofmann schreibt:


    Wenn also sowohl die Möglichkeit einer Rückkehr in das alte Leben, als auch die andere Möglichkeit einer Ruhe unter dem Baum im Sinne eines Sich-Ausruhens und Frieden-Findens ausscheiden, dann bleibt nur eine Interpretation übrig: Der Wanderer versteht in diesem Augenblick das Versprechen des Baumes als die Verheißung einer Ruhe im Tod, im Sinne einer endgültigen Erlösung von allen seinen Leiden.


    In seinem letzten Beitrag, "Gedanken zum 'Lindenbaum' (4)" stellt Helmut Hofmann vor allem auf die Zeitstrukturen im Gedicht ab. In der Tat steht erst in der letzten Strophe das "Nun bin ich ..." sowie "und immer hör ich´s ..." im Präsens. Und da das "bin ich" zuvorderst auf die räumliche Distanz abstellt ("entfernt von jenem Ort"), ist darin ebensowenig reine Gegenwart zu finden wie in dem "immer hör ich´s rauschen", da das, was eigentlich gehört wird, ein konjunktivisches Versprechen bleibt ("du fändest ... "). Fast möchte man sagen, dieses fortwährende Rauschen im Ohr sei ein Nachklang, eine Art Idée fixe der uneingelösten Ruhe unterm Baum, wie immer sie zu verstehen wäre.


    Innere Zerrissenheit, Getriebensein, also Unruhe und Ruheverlangen stehen nicht nur für den romantischen Menschen in einem dialektischen Zusammenhang. Ich denke an die Musik Gustav Mahlers, pars pro toto etwa den dritten Satz der IX. Sinfonie, an den Schlußmonolog der Walküre in der Götterdämmerung:


    Auch deine Raben hör´ ich rauschen;
    mit bang ersehnter Botschaft
    send´ ich die beiden nun heim.
    Ruhe, ruhe, du Gott!


    Liest man die Winterreise als einen Sationenweg, so steht der "Lindenbaum" in einiger Beziehung etwa zum "Wirtshaus", und zwar durch die Motive der Müdigkeit, des Wachenmüssens und Schlafenwollens sowie durch die Topik der Verweigerung.


    Jeder Hörer wird nun aber wahrnehmen, daß gerade der "Lindenbaum" etwas Lichtvolles und Tröstliches hat, das in der "Ruhe im Tod" nicht ganz aufgeht. Ich will die von Thomas Mann etwa beobachtete "Zweideutigkeit" des Liedes quasi unter der Wechseloptik seiner offenkundig positiven Klangwirkung betrachten und die Fragen der "Eigentlichkeit" und der Todesutopie einmal ausklammern.


    Wenn ich Helmuts Ausführungen in den Beiträgen Nr. 64 und 65 richtig verstehe, stellt er dort auf das Zitathafte der Volksliedanklänge ab und verweist in diesem Zusammenhang auf die Tonartwechsel sowie die in Bewegung geratenden variierenden Begleitfiguren im Klavier. Ich selbst empfinde den Wechsel von e-Moll nach E-Dur in der zweiten Strophe ("und seine Zweige rauschten ...") immer als besonders suggestiv; Schubert unterstreicht hier die Vergegenwärtigung, die Glücksverheißung durchbricht die Erinnerung an den trüben nächtlichen Gang und wird so übermächtig wie erfüllend.


    Ein kurzer Blick auf die aus Triolen und Punktierungen gebaute Begleitfigur läßt den Charakter des Schaukelnden oder Wiegenden in der Rhythmik erkennen. Schubert fügt dem Zitat einer Volksweise also Elemente eines Wiegenliedes hinzu, was den Assoziationsraum der Ruhe zunächst auf den naheliegenden entbehrten Schlaf und seine Erquickung sowie die liebevolle Zuwendung eines über den Schläfer wachenden Wesens ausdehnt. Der Lindenbaum sozusagen in der Rolle einer Mutter, die den Wanderer in den Schlaf singt (Brahms´ "Guten Abend, Gute Nacht" etwa weist die gleiche Mischung von Schaukelrhytmus und schlichtester Harmonik auf).


    Wenn Ruhe und erfüllte Gegenwart nur Wechselbegriffe unserer unerfüllbaren Sehnsucht wären, die conditio humana zu durchbrechen, dann wäre der "Lindenbaum" ein raffiniertes "Wiegenlied des Todes". Wenn wir aber ganz unmetaphorisch jeder Existenz die Gelegenheit (oder zumindest das Bedürfnis nach) einer erreichbaren Seinserfahrung zuerkennen, die das intensivierte Erleben ins Hier und Jetzt führt, und zwar als beglückende Erfüllung, als sorglose Selbsthabe, dann geht die Utopie des "Lindenbaums" im Tod allein nicht auf.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Alfred Schmidt meint:


    "Nicht beipflichten möchte ich, wenn die Linde als "gesellschaftlicher Treffpunkt" gesehen wird - "


    Für Schuberts Lied ist das sicher zutreffend. Welche Bedeutung der Lindenbaum für den Wanderer hat, das sagt er ja selber: Im Rückblick erscheint er ihm als eine Art Dingsymbol. Im Lindenbaum verdichtet sich für ihn sein vergangenes Leben, das ihm aus der Perspektive seines jetzigen als sinnerfüllt, weil reich an Glück und Leid erscheint. Wie eine Art Abdruck dieses erfüllten Lebens erscheinen die Spuren, die er davon in den Stamm der Linde geritzt hat.


    Wenn Wilhelm Müller den Lindenbaum zum Thema eines Gedichts macht, dann weiß er als belesener Poet natürlich, was er tut. Die Linde ist ein poetischer Topos. Sie findet sich in vielfältiger Weise schon in der mittelhochdeutschen Lyrik (Walther von der Vogelweide, Neidhart von Reuenthal, u.a.), und wenn man einen Gang durch die Lyrikgeschichte macht, dann findet man die Linde überall: Hölty, Uhland, Stolberg, Goethe, Heine... Sie ist für die Lyriker der Ort, an dem die Liebe als gleichsam naturhaftes Urphänomen poetisch gestaltet wird.


    Die Linde ist aber, historisch gesehen, auch Zentrum dörflichen Lebens (Goethe: "Denn wie ich bei der Linde das junge Völkchen finde..."). Das ist in Quellen vielfach belegt. Ein kleines Problem besteht hier im Lied Schuberts insofern, als von der Linde "am Brunnen vor dem Tore" die Rede ist. Ein Tor gibt es in einem Dorf nicht, sondern nur in der Stadt, weil die Stadtmauer konstitutives Merkmal der mittelalterlichen Stadt ist. Also handelt es sich hier nicht um den Fall einer "Dorflinde", und Alfred Schmit hat recht. Ein wenig unklar ist Müllers poetisches Bild, wenn man es historisch sieht, aber auch deshalb, weil in einer Stadt die Brunnen nicht außerhalb der Mauern lagen. Ohnehin wird ja schon im folgenden Lied ("Wasserflut") deutlich, dass sich das ehemalige Leben des Wanderers in einer Stadt abspielte. Aber Poeten genießen bekanntlich jede Freiheit der Phantasie.


    Die Frage Alfred Schmidts: "denn ich glaube, seine "glücklichen Stunden" haben nur in der Phantasie existiert.... (?)" habe ich mir auch schon gestellt. Man möchte denken, dass sie eigentlich beantwortet ist, denn der Wanderer beschreibt ja, welche Rolle die Linde in seinem früheren Leben spielte. Es ist aber nicht auszuschließen, dass er sich n der Situation, in der er sich jetzt befindet, Phantasien von einem Leben hingibt, das es so nie gegeben hat. Ohnehin vermengen sich bei ihm ja seelische Innenwelt und reale Außenwelt mehr und mehr und sind kaum mehr rational voneinander zu trennen.


    Die Frage, ob in der sechsten Strophe die Musik eigentlich zu dem Text passt, der ihr zugrundeliegt, hatte ich in meinem vorigen Beitrag aufgegriffen. Ich sehe, dass ich sie an seinem Ende gar nicht explizit beantwortet habe. Gleichwohl ergibt sich die Antwort aus meinen Ausführungen. An sich müsste der Wanderer in der sechsten Strophe eigentlich nach einer anderen Melodie singen, da hier das grammatische Präsens in das Lied kommt und der lyrische Text sich auf die gegenwärtige Situation des Protagonisten bezieht.


    Wenn Schubert aber die melodische Linie der Eingangsstrophe übernimmt und sie nur mit einer anderen Begleitung im Klavier versieht, dann artikuliert er auf diese Weise musikalisch die augenblickliche seelische Befindlichkeit des Wanderers: Gegenwärtiges Leben ereignet sich für den Wanderer existenziell als Leben in den Bildern der Vergangenheit, die hier an einer Melodie festgemacht sind, in der die Idylle des Volksliedtons zitiert wird. Wirkliche Gegenwart, im Sinne einer perspektivischen Öffnung des Lebens hin zur Zukunft, gibt es für den Wanderer nicht mehr.


    In diesem tieferen Sinne passt die Musik der sechsten Strophe sehr wohl zum Text. Hier zeigt sich wieder einmal die Größe des Liedkomponisten Schubert: Er vertont nicht die semantische Botschaft des lyrischen Textes, sondern er setzt diesen als solchen direkt in Musik um. In Musiksprache eben!

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose