Leonard Bernstein schrieb 1967 eine, den musikalischen Gehalt würdigende, Analyse zur 6. Sinfonie h-moll, op. 74 "Pathétique". Die Zitate habe ich kursiv in Anführungszeichen gesetzt. Er beginnt mit der "anzüglichen" Frage "mancher Intellektueller und seriöser Musikliebhaber": "Ist Tschaikowsky wirklich ein Symphoniker?" und "warum er nicht dabei blieb, Lieder oder bestenfalls Opern zu komponieren.", "der unübertreffliche Themenbildner' ... 'Modelleur' wirkungssicherer Melodien." Zu finden im Buch "Von der unendlichen Vielfalt der Musik" auf den Seiten 171 bis 195. Antiquarisch oder in einer Bibliothek ist das 1968 deutsch erschienene Buch sicherlich noch erhältlich.
In seinem Text weist Bernstein nach, dass absteigende Tonskalen, (Teile von Tonleitern) das verbindende Element der vier Sätze bildet. "Aus ihnen heraus wachsen Themen, Motive, Figurationen, Kontrapunkt, Basslinien und sogar Melodien." Auch die Quart kommt in der Sinfonie als "vereinender Faktor durch das ganze Werk hindurch" vor. Ebenso der "durchgreifende Gebrauch der Dissonanzen", "welche über die ganze Musik Schmerz verbreiten." oder "die ständige Verwendung dunkelgefärbter Töne in den Bratschen, Celli und Fagotten, und die besonders düsteren tiefen Hörner, was dem Werk ein ausserordentliches Pathos verleiht."
Als musikalisch ungebildeter Teenager, der erstmals mit dieser Sinfonie in Kontakt kam, hatte mich die gut nachvollziehbare Analyse dieses mir damals unbekannten Dirigenten beeindruckt. Sie half mir, die erwähnten Skalen zu erkennen und mir die Musik aus diesem "Hörwinkel" anzuhören. Eine der ersten Aufnahmen war dann auch die Pathétique in Bernsteins Auslegung. Auch heute noch, nachdem ich eine musikalische Ausbildung genossen habe, bewundere ich Tschaikowskys Meisterschaft mit einfachstem musikalischem Material eine solche bewegende Aussage zu schaffen. ich wünsch mir, dass dieser Komponist in den Konzertprogrammen und CD-Katalogen weiterhin gepflegt wird.
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