Felix Mendelssohn-Bartholdy und seine Lieder

  • Im Unterschied zu seiner Schwester Fanny, die, wie aus den schriftlichen Quellen hervorgeht, Heinrich Heine als Menschen wohl nicht so recht mochte, als Lyriker aber überaus schätzte (wie ihm zugehörigen Thread nachzulesen ist), konnte ich bei Felix Mendelssohn bis jetzt kein schriftliches Quellenzeugnis finden, das Auskunft darüber gibt, wie er auf der menschlichen Ebene zu Heinrich Heine stand. Was die politische Einstellung anbelangt, gibt es aber sehr wohl eindeutige Äußerungen.


    Was Felix Mendelssohn, einem recht konservativ eingestellten Menschen, wohl nicht so ganz geheuer gewesen sein muss, das war die „liberale“, sogar in einer gewissen Nähe zum „Revolutionären“ stehende Grundhaltung Heines. Während seines Aufenthaltes in dem revolutionär brodelnden Paris von 1830 fand Mendelssohn keinen so rechten Anschluss an andere deutsche Emigranten. Das galt auch für die Anhänger des „Jungen Deutschland“ Ludwig Börne und Heinrich Heine.


    Diesbezüglich findet sich in einem Brief Mendelssohns die Bemerkung: „Dr. Börne, der mir mit seinen langsamen Impromptus, feinen abgequälten Einfällen, seiner Wuth auf Deutschland und seinen französischen Freiheitsphrasen ebenso zuwider ist, wie Dr. Heine mit allen ditos.“

    Über seinen Freund Hermann Franck stellt er ein wenig verärgert fest: „Er ist sehr viel mit Heine und schimpft auf Deutschland wie ein Rohrsperling.“

    Die politisch-reflektierte und in diesem Zusammenhang äußerst kritische Grundhaltung Heinrich Heines, insbesondere den Verhältnissen in Deutschland gegenüber, muss Felix Mendelssohn zutiefst bedenklich erschienen sein. Heine war ihm von daher wohl nicht ganz geheuer. Gleichwohl fühlte er sich, wie auch seine Schwester, von dessen Lyrik ganz unmittelbar angesprochen und zur Liedkomposition motiviert.

  • Ich weiß auch nicht, warum mich das Verhältnis von Felix und Fanny Mendelssohn (-Hensel) zu Heinrich Heine immer wieder erneut beschäftigt, - ja in Bann schlägt. Auch im Thread „Fanny Mendelssohn-Hensel“ bin ich ja schon mehrfach darauf eingegangen. Es ist eine wirklich interessante und reizvolle, weil das Thema Rezeption von Lyrik in der Liedkomposition ganz unmittelbar betreffende Angelegenheit.


    Da liegt der Fall eines – wie mir scheint – singulären Zusammentreffens von Anziehung und Abstoßung zugleich vor. Heine schlägt mit seiner dichterischen Sprache den lyrisch empfänglichen Musiker (bzw. die Musikerin) in Bann, - der Mensch in ihm (ihr) will ihr aber nicht wirklich bedingungslos und uneingeschränkt folgen. Also wird bei der Liedkomposition in diese Sprache radikal eingegriffen, oder es werden sogar wesentliche Bestandteile von ihr einfach ignoriert.


    Das wurde schon mehrfach bei Liedern von Fanny und Felix Mendelssohn aufgezeigt. Hier nun noch einmal ein besonders eindrucksvolles Beispiel. Es betrifft das Lied „Wenn der Frühling kommt“ von Fanny Hensel. An sich sollte ich das in dem ihr zugehörigen Thread besprechen, aber ich möchte mich gar nicht so sehr auf den musikalischen Aspekt einlassen, sondern auf den Aspekt „Umgang der Mendelssohns mit der Lyrik Heines“. Also gehört das hierher.


    Heines Gedicht „Wahrhaftig“ (Nr.20 aus dem Zyklus „Neue Leiden“) lautet so:


    Wenn der Frühling kommt mit dem Sonnenschein,
    Dann knospen und blühen die Blümlein auf;
    Wenn der Mond beginnt seinen Strahlenlauf,
    Dann schwimmen die Sternlein hintendrein;
    Wenn der Sänger zwei süße Äuglein sieht,
    Dann quellen ihm Lieder aus tiefem Gemüt; -
    Doch Lieder und Mondglanz und Sonnenschein,
    Wie sehr das Zeug auch gefällt,
    So machts doch noch lang keine Welt.


    Daraus macht Fanny Hensel ein Lied, dem sie folgende Montage aus diesen Heine-Versen zugrundelegt:


    Wenn der Frühling kommt mit dem Sonnenschein,
    so knospen und blühen die Blümelein auf;
    Wenn der Mond beginnt seinen Strahlenlauf
    So schwimmen die Sternlein hinterdrein.
    (Diese Verse werden wiederholt)
    Wenn der Sänger zwei süße Äuglein sieht,
    Dann quellen ihm Lieder aus tiefem Gemüt;
    Wenn der Frühling kommt mit dem Sonnenschein,
    Wenn der Mond beginnt seinen Strahlenlauf,
    Wenn der Sänger zwei süße Äuglein sieht
    So quellen ihm Lieder aus tiefem Gemüt.


    Doch Lieder und Sterne und Blümelein
    Und Äuglein und Mondglanz und Sonnenschein
    Sind alle nur tändelnder Scherz
    Und meine Welt ist dein liebendes Herz.


    Der schroffe, bewusst desillusionierende und als Denkimpuls von Heine eingesetzte Schluss seines Gedichts wird von Fanny Hensel nicht nur einfach weggelassen. Sie formuliert sich einen neuen zurecht, der die lyrische Aussage des Gedichts von Heine regelrecht verfälscht, ja pervertiert.


    Das ist hier also ein ähnlicher – eigentlich gewaltsamer! - liedkompositorischer Umgang mit Heines Lyrik, wie er bei ihrem Bruder Felix bei Heines Gedicht „Meerfahrt“ zu beobachten ist: Der Einbruch der existenziellen Einsamkeit des lyrischen Ichs in die Idyllik der lyrischen Bilder einer „Meerfahrt“ an der Seite der Geliebten will Felix Mendelssohn genauso wenig liedkompositorisch akzeptieren wie seine Schwester den Einbruch der dichterisch-selbstkritischen Reflexion in die Abfolge idyllischer Frühlingsbilder.


    Und was geschieht? Beide schaffen sich ihren eigenen, ungebrochen idyllischen Heinrich Heine.

  • Insgesamt sieben Lieder Mendelssohns auf Texte von Heinrich Heine wurden hier besprochen. Auf die Frage, wie weit er dabei dem Lyriker Heine kompositorisch gerecht geworden ist, wurde mehrfach eingegangen.


    Fischer-Dieskau meinte hierzu in seinem Buch „Töne sprechen, Worte klingen“:
    „Es fand eine erste Übereinstimmung mit einem befreundeten Dichter statt. Aus Heine filterte Mendelssohn die Welt der Naturgeister heraus, die beide faszinierte. Im Lied >Gruß< manifestierte sich das Verbindende an ihrem Hang, schlicht und volksliedhaft zu stilisieren. Die Impulsivität beider kommt in >Reiselied< zum Vorschein. Aber leider hat eine dem Anschein nach ideale Kombination zweier Künstler doch nur wenig Musik nach sich gezogen.“(S.97)

    Mit dem Hinweis auf die Neigung, „schlicht und volksliedhaft zu stilisieren“, ist sicher ein Wesensmerkmal des Liedkomponisten Mendelssohn getroffen. Was Heine anbelangt, so ist diese Perspektive aber einseitig. Sie wird dessen gleichsam „dunkler“ Seite, der ganz spezifischen inneren Gebrochenheit seiner lyrischen Sprache und der ihr eigenen Metaphorik nicht voll gerecht. Diese Seite – womit noch gar nicht der Aspekt der „Ironie“ einbezogen sein soll - ist in den sechs Heine-Vertonungen Schuberts („Schwanengesang“) oder in Schumann „Dichterliebe“ musikalisch zu vernehmen. Mendelssohn verweigert sich ihr. Und das ist, wie man seiner Auswahl der Heinegedichte und den gleichsam kompositorisch-redaktionellen Eingriffen in sie entnehmen kann, eine ganz bewusste menschliche und künstlerische Entscheidung gewesen.


    Man ist, was die kompositorische Grundhaltung Mendelssohns betrifft, so weit gegangen, dass man der allgemein menschlichen Komponente darin eine übergroße Bedeutung zumaß. Der englische Mendelssohn-Kenner Eric Werner ging in seiner Monographie von 1980 sogar so weit, in Mendelssohns klassizistischer Ästhetik einen Reflex seines häuslichen Glückes, insbesondere nach seiner Eheschließung mit Cécile, zu sehen. Er vertrat – etwa mit Blick auf die Quartette op.44 - die Auffassung, die „Konventionalität Céciles“ habe eine „Wertminderung seiner Leistungen“ zur Folge gehabt. Dieses Bild des Komponisten Mendelssohn entwickelte eine Art Eigenleben und ist weit verbreitet.


    Ich halte das für ein Fehlurteil. Es wird der Tatsache nicht gerecht, dass hinter dieser kompositorischen Grundhaltung Mendelssohns, die sich ja auch in seinen Liedern niederschlägt, eine ganz bewusste und in differenzierter Weise reflektierte musikästhetische Grundentscheidung steht. Er wollte als Komponist die innere Zerrissenheit und tiefgreifende Gebrochenheit romantischer Musik mit dem Rückgriff auf das Phänomen der musikalischen Klassizität überwinden. Wenn er sich in der Liedkomposition an der musikstrukturellen Schlichtheit der Melodik des Volksliedes orientiert, so steckt dasselbe Motiv dahinter. Ich meine deshalb, dass Fischer-Dieskau ihm hier nicht gerecht wird, wenn er von „Stilisierung“ spricht.


    Im Grunde hat Robert Schumann, hellsichtig wie er in seiner musikalischen Urteilskraft war, das Wesen des Komponisten Mendelssohn sehr klar erfasst, wenn er ihn als „Mozart des neunzehnten Jahrhunderts“ bezeichnete und hinzufügte, dass er „die Widersprüche der Zeit am klarsten durchschaut und zuerst versöhnt“ habe.


    Die „Widersprüche der Zeit“ artikulieren sich lyrisch u.a. in den Gedichten Heinrich Heines. Mendelssohn hat in seinen Liedern auch hier eine Art von musikalischer „Versöhnung“ zustandezubringen versucht. Ich meine, dass ihm das gelungen ist, - jenseits der Frage, ob er damit dem Dichter Heine kompositorisch voll und ganz gerecht wurde.

  • Dieses Lied auf ein Gedicht von Nikolaus Lenau ist klanglich und rhythmisch ganz und gar vom großen Atem des Frühlings getragen. Fast möchte man sagen: Es wird von ihm davongetragen. Der Neunachteltakt und die Tempoanweisung „Allegro assai vivace“ sind nur die gleichsam formalen Rahmenbedingungen dafür. Der rhythmische Impetus geht von der Klavierbegleitung und von der sich wie verströmend wirkenden Vokallinie aus.


    Durch den Wald, den dunkeln,
    Geht holde Frühlingsmorgenstunde.
    Durch den Wald vom Himmel weht
    Eine leise Liebeskunde.


    Selig lauscht der grüne Baum,
    Und er taucht mit allen Zweigen
    In den schönen Frühlingstraum,
    In den vollen Lebensreigen.


    Blüht ein Blümchen irgendwo,
    Wird´s vom hellen Tau getränket,
    Das Versteckte zittert froh,
    Daß der Himmel sein gedenket.


    In geheimer Laubesnacht
    Wird des Vogels Herz getroffen
    Von der Liebe Zaubermacht,
    Und er singt ein süßes Hoffen.


    All das frohe Lenzgeschick,
    Nicht ein Wort des Himmels kündet,
    Nur sein stummer, warmer Blick
    Hat die Seligkeit entzündet.


    Also in den Winterharm,
    Der die Seele hielt bezwungen,
    Ist dein Blick mir, still und warm,
    Frühlingsmächtig eingedrungen.


    Mitten im eintaktigen Klaviervorspiel, das aus arpeggienhaft aufsteigenden Sechzehnteln besteht, die in triolisch klopfende Achtelakkorde münden, fällt die Singstimme mit einem Vorhalt ein. Das wirkt, als könne sie nicht an sich halten, und das ist ja auch der Geist, der dieses Lied durchweht.


    Die melodische Linie der Singstimme wirkt in ihren Bewegungen lebhaft, nicht auf einer Tonebene verbleibend, sondern über größere Intervalle in die Höhe drängend. Das ist gleich beim ersten Vers zu hören: Bei den Worten „den dunkeln, geht“ erfolgt ein rascher Aufstieg in Form von Achteln hoch zu einem „f“, und die melodische Linie will eigentlich auf dieser strahlenden Höhe bleiben.


    Denn kaum hat sie sich wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurückbegeben, geht es beim dritten Vers („Durch den Wald vom Himmel weht“) schon wieder in die Höhe, und diese wird beim vierten Vers regelrecht ausgekostet. Die Vokallinie verbleibt bei den Worten „Eine leise Liebeskunde“ auf einer Tonebene (einem hohe „d“, bzw. „e“), und das in Form einer sich über mehr als drei Takte erstreckenden melodischen Dehnung. Das Klavier begleitet mit sich lebhaft auf und ab bewegenden Sechzehntel-Arpeggien.


    Das Bild vom „selig lauschenden grünen Baum“ wird mit einer beseligt wirkenden melodischen Linie musikalisch aufgegriffen, und diese erfährt eine Steigerung in ihrer Ausdrucksintensität, indem sie beim dritten und vierten Vers der Strophe immer weiter nach oben ausgreift. Dabei benutzt Mendelssohn das Mittel der Wiederholung. Nicht nur dieses Verspaar wird noch einmal gesungen, sondern der letzte Vers („In den vollen Lebensreigen“) wird ebenfalls wiederholt.


    Hierbei liegt auf dem Wort „vollen“ eine lange, sich über fast zwei Takte erstreckende melodische Dehnung, wobei die Vokallinie dabei sogar noch einen Sprung von einem hohen „g“ zu einem „h“ macht, um danach einen Oktavfall zu vollziehen. Das lyrische Bild gewinnt dabei eine aufs höchste gesteigerte musikalische Expressivität.


    Die dritte und die vierte Strophe sind in ihrer musikalischen Faktur mit der ersten und zweiten identisch. Auch die letzten Strophen weichen in der Struktur der melodischen Linie und im Klaviersatz nur in kleinen Details von den vorangehenden Strophenpaaren ab. Man nimmt diese Abweichungen hörend gar nicht wahr, so dass sich der Eindruck eines Strophenliedes, genauer: eines Strophenpaarliedes einstellt.

  • Das 1839 veröffentlichte „Frühlingslied“ ist das erste von insgesamt vier Liedern auf Gedichte von Nikolaus Lenau. Die drei anderen, auf die noch eingegangen werden soll, finden sich in Mendelssohns 1847 publiziertem Opus 71, - insgesamt sechs Lieder, erschienen bei Breitkopf und Härtel.


    Mit Nikolaus Lenau begegnete Mendelssohn einem Lyriker, der dichterisch eine andere Sprache spricht als sie den zuvor besprochenen Liedern auf Texte von Heinrich Heine zugrundeliegt. Der 1802 in Ungarn geborene und 1850 in der Nähe von Wien gestorbene Dichter, der aus einer alten preußisch-schlesischen Familie stammt und eigentlich Nikolaus Franz Niembsch, Edler von Strehlenau heißt, ist ein Spätromantiker, dessen Lyrik von tiefem Weltschmerz und schwer lastender Melancholie geprägt ist. Das in seinen lyrischen Bildern sich artikulierende Naturgefühl ist Ausdruck eines zutiefst einsamen lyrischen Ichs, das in der Natur Heimat und Geborgenheit sucht und erfährt, dass es sie dort letzten Endes dort nicht finden kann.


    Mendelssohn wurde ganz offensichtlich von der ausgeprägten Expressivität der lyrischen Sprache Lenaus kompositorisch ganz unmittelbar angesprochen. Er greift sie in diesem Lied („Frühlingslied“) nicht nur mit einer weit ausgreifend phrasierten melodischen Linie auf, sondern auch mit einem Klaviersatz, der mit seiner klanglichen Flut von aus dem Bass in den Diskant und wieder zurück strömenden Sechzehnteln fast impressionistisch wirkt.

  • Diesem Lied liegt ein Gedicht von Nikolaus Lenau zugrunde. Es steht im Zweivierteltakt und ist mit „Andante leggiero“ überschrieben. Der Form nach handelt es sich um ein variiertes Strophenlied. Die erste und die zweite Strophe sind in der musikalischen Faktur identisch, die dritte Strophe weicht im vierten Vers von dieser Faktur ab, weil ein musikalischer Anschluss an die vierte geschaffen werden muss, die sich in der Struktur der melodischen Linie deutlich von den drei vorangehenden Strophen abhebt.


    Diese Rose pflück´ ich hier
    In der weiten Ferne,
    Liebes Mädchen, dir, ach dir,
    Brächt´ ich sie so gerne!


    Doch bis ich zu dir mag zieh´n
    Viele weite Meilen,
    Ist die Rose längst dahin;
    Denn die Rosen eilen!


    Nie soll weiter sich ins Land
    Lieb´ von Liebe wagen,
    Als sich blühend in der Hand
    Läßt die Rose tragen;


    Oder als die Nachtigall
    Halme bringt zum Neste,
    Oder als ihr süßer Schall
    Wandert mit dem Weste.


    Heiterkeit, mit einem leichten Einschlag von Wehmut, - mit diesen Worten könnte man den klanglichen Eindruck beschreiben, den das Lied macht. Zu dem Eindruck von Heiterkeit trägt ganz wesentlich der tänzerische Rhythmus bei, der sich aus dem Zweivierteltakt und den auf einen Vorhalt folgenden Achtelakkorden der Klavierbegleitung ergibt.


    Die melodische Linie der Singstimme, die ohne Klaviervorspiel einsetzt, greift diesen tänzerischen Rhythmus auf. Auch hier ist es die Abfolge von punktierten Achteln, auf die in Sechzehntel und ein weiteres Achtel gleichsam nachschlagend folgt, das diesen Eindruck des Tänzerischen hervorbringt.


    Klanglich prägend für dieses Lied ist die melodische Linie, die auf dem ersten Verspaar liegt: Sie ist bogenförmig angelegt, steigt – in dieser eben beschriebenen Rhythmisierung – über eine ganze Oktave an, hält auf dem höchsten Tin (einem „f“) kurz inne, um dann wieder in dieser wie spielerisch klingenden Weise herabzusteigen. Dies allerdings nicht auf den Ausgangston, sondern jetzt auf ein „g“, denn diese melodische Bewegung soll ja fortgesetzt werden, damit die ganze Strophe in eine große Melodiezeile eingebettet ist.


    So volksliedhaft schlicht diese melodische Linie wirkt, sie reflektiert doch die lyrische Aussage. Schon das Innehalten bei dem Wort „hier“ lässt das erkennen. Deutlicher wird das aber noch an der Stelle „Brächt ich sie so gerne“. All die Gefühle, die in diesem konjunktivisch formulierten Wunsch mitschwingen, greift die melodische Linie mit einem eindrucksvollen Septfall auf, dem sofort wieder ein melodischer Sextsprung folgt. Seelische Bewegtheit bildet sich hier musikalisch ab.


    Wunderschön gelingt Mendelssohn auch die kompositorische Gestaltung der letzten Strophe, die eine eigene Faktur aufweist. Das Wort „oder“, das ja eine neue lyrische Perspektive in das Gedicht bringt, wird wieder durch einen Septfall musikalisch akzentuiert. Bei dem Wort „Nachtigall“ erfolgt, ganz dem lyrischen Bild gemäß, eine lieblich wirkende melodische Abwärtsbewegung. Eine Steigerung der melodischen Expressivität ist bei den Worten „Oder als ihr süßer Schall“ zu vernehmen. Die melodische Linie steigt in Terzschritten hoch zu einem „f“, bewegt sich dann mit einer kleinen Sekunde wieder zu einem „es“ herab (bei dem Wort „Schall“), auf dem sie dann mit einem Ritardando einen ganzen Takt lang verharrt. Man hört den „Schall“ an dieser Stelle förmlich nachklingen.


    Eindrucksvoll auch wieder der Septfall, den die Vokallinie noch einmal bei dem Wort „wandert“ am Anfang des letzten Verses macht. Auch hier wird dem lyrischen Bild durch eine Bewegung der melodischen Linie über große Intervalle und eine sie tragende tänzerische Rhythmisierung große Expressivität verliehen.

  • "An die Entfernte" ist eines der zugegeben wenigen Lieder Mendelssohns, die sich mir eingeprägt haben und die ich sehr schätze. Aufmerksam geworden darauf bin ich durch Adornos Radiosendung "Schöne Stellen", in der er das Lied diskutiert (als eines der wenigen vokalen Beispiele, ich weiß nicht, ob er ein Lied von Schubert oder Schumann dabei hat). Die hervorgehobene "schöne Stelle" ist natürlich die variierte letzte Strophe mit der Erweiterung der Phrase bei "süßer Schall". Aber auch abgesehen von dieser kleinen, aber wirkungsvollen Erweiterung gefällt mir das Lied sehr gut. (Weil es auf zwei Recital-CDs, die ich hatte, nicht drauf war, habe ich mir hauptsächlich deswegen die Fi-Di/Sawallisch-Anthologie (EMI) zugelegt.)


    Die Beschreibung als "tänzerisch" kann ich zwar nachvollziehen, ich sehe ungeachtet der leichten Beschwingtheit aber eher einen Marsch/Wandergestus. punktiertes Achtel-Sechzehntel, dann Achtel hat für mich fast immer diese Assoziation. Auch wenn es vom Inhalt kein Wanderlied ist, wobei freilich sowohl die Rose unterwegs gepflückt als auch die Distanz zu Fuß zurückgelegt worden sein mag. Eine kulturhistorische Trivialität, die man leicht vergisst: Wie trennend vor dem Eisenbahnzeitalter Entfernungen waren und wie viele davon per pedes zurückgelegt wurden...

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zit. Johannes Roehl:
    "An die Entfernte" ist eines der zugegeben wenigen Lieder Mendelssohns, die sich mir eingeprägt haben und die ich sehr schätze.“

    Das ist für jeden unmittelbar nachzuvollziehen, der dieses Lied einmal aufmerksam auf sich hat wirken lassen. Die melodische Linie ist in ihrer bogenförmigen, durch die Aufeinanderfolge von Achteln und Vierteln leicht tänzerisch rhythmisierten Anlage überaus eingängig. Sie weist einen im Grunde lieblichen Ton auf, in den sich ganz leicht ein wenig Wehmut einschleicht. Letzteres ergibt sich daraus, dass die einzelnen Melodiezeilen jeweils auf einer fallenden melodischen Linie enden, in die zuweilen ein größeres Intervall eingefügt ist.


    Der Eindruck des Leichtfüßig-Tänzerischen wird vorwiegend durch die Grundstruktur des Klaviersatzes bewirkt. Auf einen Vorhalt im Klavierbass folgen jeweils vier Akkorde, von denen drei einen Wert von Achteln haben, der zweite jedoch jeweils den eines Sechzehntels. Das hüpft rhythmisch ein wenig, und Mendelssohn hat mit dieser Rhythmisierung des Liedes wohl ohne Zweifel auf die Lieblichkeit der lyrischen Bilder des Lenau-Gedichts reagiert. Dass man – wie Johannes Roehl – darin auch einen Wanderschritt hören kann, ergibt sich aus dem zugrundeliegenden Zweivierteltakt. Das ist aber dann eher ein ruhig leichtfüßiges Dahinschreiten.


    Adorno hat mit gutem Grund die musikalische Faktur der Worte „oder als ihr süßer Schall“ als ein Beispiel für „schöne Stellen“ in der Musik angeführt. Die melodische Linie steigt hier, mit einem Crescendo versehen, in zwei Terzschritten in Form von Achteln hoch zu einem „f“, verharrt dort (im Wert von einer Viertelnote) und steigt danach, in zwei kleinen Sekundschritten herab zu einem „es“. Diese Abwärtsbewegung erfolgt ungeheuer behutsam, - nicht nur weil sie kleinschrittig ist, sondern auch weil sie verzögert erfolgt: Erst eine Viertel- , dann als Ruhepunkt eine halbe Note, und das Ganze auch noch mit einem Ritardando versehen. Das ist, getragen von einer wechselnden Harmonisierung, melodischer Zauber pur.

  • Eine Notiz möchte ich mir erlauben, die zwar recht persönlich ist, gleichwohl aber etwas über die Eigenart der Lieder Mendelssohns aussagt - und deshalb wohl erlaubt sein dürfte. Angeregt hat mich dazu die oben zitierte Bemerkung Johannes Roehls.


    Mendelssohns Melodik ist auf eine ungewöhnlich intensive Art eingängig und einprägsam. Ich erlebe das auf eine sehr subjektive Weise. Da ich alle Liedbesprechungen erst einmal als Manuskript erstelle und in der Regel viele Tage später erst in den Computer tippe, erlebe ich bei eben diesem Abtippen meines Manuskripts, wie sich bei jedem Vers des jeweiligen lyrischen Textes die melodische Linie so konkret einstellt, als hörte ich sie eben gerade aus den Lautsprechern.


    Das habe ich in dieser Weise nur noch bei einem einzigen anderen Komponisten erlebt: Franz Schubert. Nun will ich damit nicht behaupten, dass Mendelssohn als Liedkomponist mit Franz Schubert vergleichbar wäre. Was die dialogische Interaktion von Singstimme und Klavier und das musikalische Ausloten der Aussage des lyrischen Textes anbelangt, ist dieser ihm sicher weit voraus. Im Bereich der Melodik des Liedes erinnert mich bei Mendelssohn aber vieles an Franz Schubert: Beide haben den unmittelbaren Zugriff auf den Zauber des Melos.

  • Dieses Lied auf ein Gedicht von Nikolaus Lenau steht im Sechsachteltakt und ist mit der Tempoanweisung „Andante con moto“ versehen. Es gehört zu jenen Liedern Mendelssohns, die durch ihre Melodik und die klangliche Faszination, die von ihnen ausgeht, den Hörer vom ersten Augenblick an ganz unmittelbar in Bann zu schlagen vermögen.


    Auf dem Teich, dem regungslosen,
    Weilt des Mondes holder Glanz.
    Flechtend seine bleichen Rosen
    In des Schilfes grünen Kranz.


    Hirsche wandeln dort am Hügel
    Blicken durch die Nacht empor;
    Manchmal regt sich das Geflügel
    Träumerisch im tiefen Rohr.


    Weinend muß mein Blick sich senken;
    Durch die tiefste Seele geht
    Mir ein süßes Deingedenken,
    Wie ein stilles Nachtgebet.


    Schon im Klaviervorspiel klingt der wiegende Rhythmus auf, der das ganze Lied trägt und ganz wesentlich zu seiner Eingängigkeit beiträgt. Über einen Vorhalt im Klavierbass entfalten sich Sechzehntel, die sich am Ende des Taktes zu einem akkordischen Doppelschlag verdichten. Pianissimo perlt das alles wiegend-tänzerisch dahin, und die Singstimme schmiegt sich schon im zweiten Takt behutsam in dieses klangliche Gewoge ein.


    Die melodische Linie zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich über lange Strecken auf nur einer Tonebene bewegt, mit Abweichungen allenfalls in der Größenordnung einer Terz, zumeist aber nur einer Sekunde. Die lyrischen Bilder scheinen auf diese Weise, getragen von der Flut der Sechzehntel im Klavier, im Pianissimo dahinzuschweben, zumal nur eine Achtelpause zwischen den Melodiezeilen, die auf je einem der Verspaare liegen, diese schwebende Melodik kurz unterbricht. Der letzte Vers der ersten Strophe wird wiederholt, um die melodische Linie abzurunden und zu einem vorläufigen Ruhepunkt zu führen.


    Das Lied ist durchkomponiert. Die Vokallinie weist zu Beginn der zweiten Strophe in ihrer Bewegung jetzt größere Intervalle auf. Das Bild von den „Hirschen dort am Hügel“ findet auf diese Weise sein musikalisches Äquivalent. Bei den Worten „Blicken durch die Nacht empor“ steigt dann auch, ganz dem lyrischen Bild entsprechend, die melodische Linie, versehen mit einem Crescendo, hoch zu einem „d“ und verharrt dort über fast zwei Takte. Das wirkt, als würde die melodische Linie hier für einen Augenblick innehalten, - sozusagen dem Blick in die Nacht empor folgend.


    Auch bei dieser Strophe setzt Mendelssohn das Mittel der Wiederholung ein, und zwar auf eine höchst eindrucksvolle Weise: Bei den Worten „Träumerisch im tiefen Rohr“ verharrt die melodische Linie im Pianissimo über fast zwei Takte auf einem Ton (einem „fis“), beschreibt dann noch einmal einen kleinen Bogen von nur einer Sekunde, um schlie0lich wieder auf eben diesem „fis“ zur Ruhe zu kommen. Das lyrische Wort „träumerisch“ wird so auf eindrucksvolle Weise musikalisch suggestiv aufgegriffen.


    Beim ersten Vers der dritten Strophe („Weinend muß mein Blick sich senken“) steigt die Vokallinie langsam, im kleinen Sekundschritt an. Bei den Worten „durch die tiefste Seele“ erfolgt eine deutliche Steigerung der melodischen Emphase, und diese Worte werden mit einer Deklamation auf einer Tonhöhe auch noch einmal wiederholt. Bei dem Wort „geht“ am Ende des zweiten Verses hält die melodische Linie mit einem Sekundschritt von „cis“ auf „h“ kurz inne. Der Neuansatz erfolgt mit einem Tonartwechsel, wodurch er einen starken Nachdruck erhält.


    „Poco piu lento“ ist jetzt vorgegeben, und die Vokallinie, die sich jetzt auf den beiden letzten Versen entfaltet, wird dem lyrischen Bild von dem „süßen Deingedenken“ voll gerecht. Man kann sie ganz ohne Frage als „ klanglich süß“ charakterisieren. Bei dem Wort „Deingedenken“ macht sie erst einen Quartsprung, und danach fällt sie um eine Quinte ab.


    Bei dem Wort „stilles“ verharrt die Vokallinie über mehr als einen Takt auf einem „h“, derweilen im Klavierdiskant ein Sekundtremolo (pianissimo) erklingt. Klanglich überaus eingängig ist der melodische Bogen über dem Wort „Nachtgebet“. Die beiden Schlussverse werden noch einmal wiederholt, wobei die melodische Linie auf einer Tonebene bleibt, um dann mit einem neuerlichen kleinen Bogen über „Nachtgegebt“ in einem träumerischen Fis-Dur auszuklingen.

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  • Dieses Lied, das zu der Gruppe von Liedern gehört, die auf wirklich beeindruckende Weise die Genialität des Liedkomponisten Mendelssohn hör- und erfahrbar werden lassen, weist einen interessanten biographischen Hintergrund auf. Es erschien zwar im Jahre 1847 als Nummer vier des Opus 71, ist aber schon fünf Jahre früher entstanden, am dritten November 1842. Es war Bestandteil eines Liederheftes, das als Geschenk für Jenny Lind von ihm zusammengestellt worden war.


    Mendelssohn muss wohl, wie man seinem Briefwechsel entnehmen kann, eine recht tief reichende Zuneigung für diese große Sängerin empfunden haben. Das „Schilflied“ wurde zwar nicht explizit für sie komponiert, aber es ist doch recht naheliegend, dass ihn die lyrischen Worte vom „süßen Deingedenken“ bewogen haben, dieses Lied in das Geschenk aufzunehmen.


    An vielen Stellen wird einem beim aufmerksamen Hören die Großartigkeit dieses Liedes bewusst. Es ist ja auch ein lyrisch durchaus gelungenes Gedicht, das ihm zugrundliegt. Wunderbar die in fis-Moll eingebettete und um das hohe „cis“ gleichsam schwebende melodische Line, mit der das lyrische Bild vom „regungslosen Teich“ am Anfang musikalisch eingefangen ist. Wunderbar auch, wie Melodik und Harmonik mit dem Bild von den am Hügel wandelnden Hirschen mit einem Mal Leben gewinnen: Die Vokallinie umgreift größere Intervalle; das fis-Moll wird von Dur abgelöst, und das wirkt klanglich wie eine Ausweitung des Horizonts vom engen Raum des Teiches in die Offenheit der Landschaft.


    Klanglich regelrecht in Bann schlagend ist die kompositorische Gestaltung der beiden Schlussverse. Die überaus emphatische Dehnung der melodischen Linie bei den Worten „wie ein stilles Nachtgebet“ wird in der ihr ohnehin schon eigenen klanglichen Eindringlichkeit noch dadurch gesteigert, dass die lebhaften Bewegungen im Klavierdiskant, einschließlich Tremolo, wie eine nachdrückliche Intensivierung dessen wirken, was sie musikalisch zu sagen hat.

  • Dieses Lied – ein variiertes Strophenlied auf ein Gedicht von Nikolaus Lenau – gehört wohl zu den ausdrucksstärksten, die Mendelssohn komponiert hat. Es steht in h-Moll, weist einen Dreivierteltakt auf und ist mit „Allegro moderato“ überschrieben.


    Ich wandre fort ins ferne Land;
    Noch einmal blickt´ ich um bewegt,
    Und sah, wie sie den Mund geregt,
    Und wie gewinket ihre Hand;


    Wohl rief sie noch ein freundlich Wort
    Mir nach auf meinem trüben Gang,
    Doch hört´ ich nicht den liebsten Klang,
    Weil ihn der Wind getragen fort.


    Daß ich mein Glück verlassen muß,
    Du rauher, kalter Windeshauch,
    Ist´s nicht genug, daß du mir auch
    Entreißest ihren letzten Gruß?


    Wehmut liegt über der ganz und gar in h-Moll eingebetteten melodischen Linie, die sich in diesem Lied entfaltet. Sie setzt ohne Klaviervorspiel mit einem Vorhalt auf den Worten „Ich wandre“ ein. Ihre Grundbewegung ist die von immer wieder neu ansetzenden melodischen Bögen, bei denen freilich die fallende Linie deutlich stärker ausgeprägt ist. Daher dieser klangliche Eindruck von Wehmut und stiller Klage.


    Bei den Worten „ins ferne Land“ greift die Vokallinie nur mit einem kleinen Schritt von einem „fis nach einem „h“ aus; bei „noch einmal blickt ich um“ kommt aber schon deutlich mehr Emphase in sie: Jetzt erfolgt ein Ausgriff hinauf ins hohe „fis“. Der gleichlautende melodische Fall, diese Abwärtsbewegung von einem hohen „d“ herab zu einem „fis“, die auf den Worten „und sah wie sie“ und „den Mund geregt“ legt, ist der Inbegriff von musikalisch expressiver Klage. Und diese steigert sich noch einmal beim letzten Vers der Strophe dadurch, dass die gleiche melodische Fallbewegung nun höher ansetzt.


    Die zweite Strophe weist die gleiche musikalische Faktur auf wie die erste. Bei der dritten Strophe ist diese jedoch deutlich anders angelegt. Sie weist in ihrer Struktur keine Ähnlichkeit mit der der beiden vorangehenden Strophen auf. Auffällig ist, dass sie jetzt etwas rhythmisch Stockendes aufweist: Dieser Eindruck kommt dadurch zustande, dass die Melodiezeile, die auf den Versen liegt, am Ende in den Wert einer halben oder sogar einen ganzen Note mündet.


    Langsam steigt die Vokallinie auf den ersten beiden Versen an, über jeweils zwei Takte auf einem Ton verharrend. Das wirkt klanglich eindringlich und greift die in das Bild vom „kalten Windeshauch“ mündende Aussage der Verse auf. Überaus expressiv wirkt die Melodik bei der Frage „Ist´s nicht genug?“. Sie steht isoliert, weil von einer Pause von der nächsten Bewegung der Vokallinie abgetrennt. Insistierend klingt das, weil syllabisch exakt auf einer Tonhöhe deklamiert wird. Das Klavier, das bislang die Singstimme mit dem Auf und Ab der Sechzehntel begleitet hat, schlägt hier drei Akkorde an und verstärkt damit diesen Klageton.


    Die Schlussphase des Liedes besteht aus einer Zusammenfassung des zweiten Teils des zweitletzten Verses mit dem letzten: „daß du mir entreißest ihren letzten Gruß?“. Die melodische Linie bewegt sich dabei in silbengetreuer Deklamation in hoher Lage, macht aber dann bei dem Wort „Gruß“ einen Sextsprung hinaus zu einem hohen „fis“, auf dem sie dann über zwei Takte verharrt. Auf diese Weise wird dieser Frage eine starke musikalische Expressivität verliehen.


    Der letzte Vers wird dann noch einmal wiederholt. Dieses Mal auf einer zunächst fallenden melodischen Linie. Diese erhebt sich aber bei dem Wort „letzten“ noch einmal wie in einer Art schmerzlichem Aufbäumen, um dann bei dem Wort „Gruß“ zur Ruhe auf der Tonika zu kommen.

  • Das ist wieder eines der großen und überaus beeindruckenden Lieder Mendelssohns, - eines von jenen, bei denen die melodische Linie so innig mit dem lyrischen Text verschmolzen ist, dass sie sich sofort einstellt, wenn dieser einem beim Blättern im Gedichtband zufällig unter die Augen kommt.


    Warum?
    Ich meine, dass Mendelssohn der Schmerzlichkeit dieser lyrischen Bilder des Abschiedes in Lenaus Gedicht musikalisch vollkommen gerecht geworden ist. Wie sehr er darauf abzielt, bei all seinem Bemühen um einen liedhaft-schlichten Ton dennoch der spezifischen Aussage des lyrischen Textes kompositorisch gerecht zu werden, ist daran zu erkennen, dass er bei der dritten Strophe die musikalische Faktur der beiden vorangehenden Strophen nicht nur nicht beibehält oder eine nur minimal invasive Variation vornimmt, sondern statt dessen die melodische Linie gänzlich neu strukturiert.


    Das überaus expressive lyrische Bild vom „Entreißen“ der letzten Grußworte durch den „kalten Windeshauch“ machte für ihn eine solche kompositorische Umdisposition erforderlich. Und das Verhallen der melodischen Linie bei dem Wort „Glück“ am Ende zeigt: Das ist ihm auf wunderbare Weise gelungen!

  • Bei Nikolaus Lenau habe ich mir dieselbe Frage gestellt wie bei Heinrich Heine: Ist Mendelssohn diesem Lyriker mit seinen Liedern kompositorisch gerecht geworden.?


    Ich weiß natürlich, dass diese Frage im Grunde unberechtigt, ja eigentlich unsinnig ist. Denn ein Liedkomponist greift in seinem musikalischen Aussagebedürfnis nach den Gedichten, die ihn ansprechen und diesen kompositorischen Aussagewillen gleichsam evozieren. Das ist ein wesenhaft singuläres Ereignis, das da stattfindet: Die Begegnung mit dem Gedicht und die daraus hervorgehende Liedkomposition. Der Komponist sieht sich ja nicht dem dichterischen Gesamtwerk und der dahinterstehenden dichterischen Grundhaltung verpflichtet. Warum auch sollte er?


    Und dennoch. Es gibt da einen Aspekt, der des Nachdenkens wert ist. Wenn man unterstellt, dass der Komponist nicht nur dieses eine Gedicht eines Autors kannte, das er zur Grundlage seiner Komposition gemacht hat, sondern mehrere, vielleicht sogar eine ganze Buchausgabe, - dann stellt sich die Frage nach dem Motiv der Auswahl, die er getroffen hat. Und das ist sehr wohl eine legitime, denn sie sagt etwas über die allgemein menschliche und speziell liedkompositorische Grundhaltung desjenigen aus, der diese Auswahl getroffen hat.


    Im Falle von Felix Mendelssohn und Nikolaus Lenau stehe ich dabei aber vor einem für mich nicht lösbaren Problem: Ich weiß nicht, wie umfangreich die Kenntnisse des einen vom dichterischen Werk des anderen waren. Kannte Mendelssohn das lyrische Werk Lenaus, als er die Gedichte für seine Liedkomposition auswählte, - ganz bewusst aus der Fülle dessen, was ihm da vorlag? Oder sind die Texte seiner vier Lenau-Lieder ihm zufällig in die Hand geraten, und er hat gar nicht ausgewählt?


    Es ist wie so oft. Man liest umfangreiche Biographien, aber sie lassen einen in solchen Fragen im Stich. Es wird fein säuberlich aufgelistet, was der Komponist da und dort getrieben hat und welche Werke er in diesem oder jenem Jahr verfasst hat, aber was ihn in seinem Innern beschäftigt und umgetrieben hat, das erfährt man selten. So ist das auch bei der Frage, ob sich Mendelssohn ausführlicher auf die Lyrik Lenaus eingelassen und sich mit ihr auseinandergesetzt hat.


    Immerhin konnte ich herausfinden, dass er ihn persönlich gekannt haben muss. Denn nachdem er am 13. Juli 1844 in Bad Soden angekommen war und seine Frau gesundet und seine Kinder „braun wie die Mohren“ vorgefunden hatte, machte er mit Nikolaus Lenau und Hoffmann von Fallersleben Spaziergänge im Taunus.


    Sollte Mendelssohn den Lyriker Nikolaus Lenau in mehr als den vier Gedichten gekannt haben, die seinen Liedern zugrundliegen, so läge auch hier der gleiche Fall vor wie bei Heinrich Heine: Er hat die „dunkle Seite“ des Dichters kompositorisch nicht aufgegriffen. Er ist ihr ausgewichen, weil sie in seiner kompositorischen Ausrichtung auf die Bewahrung einer künstlerisch heilen Welt störend und verstörend gewirkt hätte.


    Nikolaus Lenau war ein innerlich zutiefst zerrissener Mensch, ein Heimatloser, der in der Natur Geborgenheit suchte, aber nicht fand, der in den Wäldern Nordamerikas ein existenzielles Zuhause zu gestalten versuchte und scheiterte, der neben Leopardi und Byron zum großen dichterischen Exponenten des Weltschmerzes wurde und am Ende in der Irrenanstalt landete.


    Typisch für ihn sind Verse wie diese:


    Am Himmelsantlitz wandelt ein Gedanke,
    Die düstre Wolke dort, so bang, so schwer;
    Wie auf dem Lager sich der Seelenkranke,
    Wirft sich der Strauch im Winde hin und her.“


    Dass Mendelssohn diese dunkle Seite des Lyrikers Lenau nicht kompositorisch aufgegriffen und sich allenfalls, in dem Lied „Auf der Wanderschaft“ nämlich, ihr vorsichtig angenähert hat, kann, darf und soll ihm nicht angelastet werden. Immerhin sind aus der Begegnung mit Lenaus Lyrik vier seiner bedeutendsten Lieder hervorgegangen.


    Und der Grund: Es war die Musikalität der lyrischen Sprache Lenaus und die starke Expressivität seiner lyrischen Bilder, die Mendelssohn zu kompositorischen Höhenflügeln inspirierte.

  • Bei diesem Lied handelt es sich um ein – nur leicht variiertes – Strophenlied auf ein Gedicht von Eichendorff. Es steht im Vierviertelakt, und die Tempoanweisung lautet „Allegro vivace assai“. Ein „Wanderlied“, das den Titel wörtlich nimmt und den Wanderrhythmus musikalisch aufgreift, ist das nicht. Dafür rauscht es viel zu hurtig dahin, - mit einer Dynamik, die mitreißend ist. Es ist ein „Wanderlied im Geiste“: Hier singt einer, der vom Geist des Wanderns ergriffen ist und sich kaum mehr halten kann.


    Laue Luft kommt blau geflossen,
    Frühling, Frühling soll es sein!
    Waldwärts Hörnerklang geschossen,
    Muth´ger Augen lichter Schein,


    Und das Wirren, bunt und bunter,
    Wird ein magisch wilder Fluß,
    In die schöne Welt hinunter
    Lockt dich dieses Stromes Gruß.


    Und ich mag mich nicht bewahren!
    Weit von Euch treibt mich der Wind;
    Auf dem Strome will ich fahren,
    Von dem Glanze selig blind,


    Tausend Stimmen lockend schlagen,
    Hoch Aurora flammend weht;
    Fahre zu! Ich mag nicht fragen,
    Wo die Fahrt zu Ende geht.


    Fast ohne Vorspiel setzt die Singstimme mit einem Vorhalt ein. Nur einmal klingen im Klavier davor die Triolen auf, die die Vokallinie wie voranzutreiben scheinen und ganz wesentlich diesen Klangeindruck einer rasanten Bewegung prägen. Sie laufen durch fast das ganze Lied, nur vorübergehend einmal durch alternierende, zwischen Bass und Diskant hin und her springende Achtelfiguren unterbrochen.


    Schon die melodische Linie, die auf den ersten beiden Versen liegt, wirkt wie ein Losspringen, das einen mitreißt. Bei dem Wort „Luft“ macht sie einen Terzsprung, bewegt sich danach erst einmal nach unten, um dann bei „Frühling soll es sein“ wieder anzusteigen und am Ende auf einem hohen „e“ zu landen, das, mit einem Sforzato versehen, einen halben Notenwert lang gehalten wird.


    Bei dem nachfolgenden Verspaar der ersten Strophe hüpft die Vokallinie munter hin und her, um danach bei dem Wort „Schein“ erst einmal innezuhalten, von einer Pause nur vorübergehend ein wenig beruhigt. Vorübergehend, weil die Worte „echter Schein“ wiederholt werden.


    Auch die darauf folgende Pause bringt keine wirkliche Ruhe in die Bewegung der Vokallinie. Im Gegenteil: Jetzt verbleibt sie zwar erst einmal auf einer Tonebene, deklamiert aber in Form von Achteln und Vierteln, die im Sekundenintervall hin und her springen, die ersten beiden Verse der zweiten Strophe. Danach geht es schon wieder aufwärts, und erst bei dem Vers „Lockt dich dieses Stromes Gruß“ kommt ein leicht lieblicher Ton in die melodische Linie. „Dolce“ und „piano“ schreibt der Komponist an dieser Stelle vor.


    Aber auch hier wird wiederholt. Nicht nur einmal, sondern zweimal werden die beiden Verse gesungen, und dabei erfolgt eine Steigerung der Emphase. Am Ende liegt auf dem Wort „dieses“ ein weit ausholender und mit einer Dehnung über mehr als einen Takt versehener melodischer Bogen, der klanglich strahlend wirkt.


    Strophe drei und vier sind in ihrer musikalischen Faktur mit den beiden ersten Strophen identisch. Beim letzten Vers des Gedichts („Wo die Fahrt zu Ende geht“), erfolgt eine Steigerung der Emphase, die diejenige auf dem letzten Vers der zweiten Strophe noch übertrifft. Auch jetzt liegt bei der letzten Wiederholung wieder ein melodischer, bis zum hohen „g“ ausgreifender Bogen auf dem Wort „Fahrt“. Dieses Mal aber ist die Dehnung noch länger, da auf jedem melodischen Schritt der Wert einer halben Note liegt. Das Wort „Ende“ wird dann mit einem klanglich eindrucksvollen Sextsprung musikalisch akzentuiert

  • Mit dem Lied „Wanderlied“ wurde das erste der insgesamt fünf Lieder Mendelssohns auf Gedichte von Eichendorff vorgestellt. Es erschien 1843 als Nummer sechs der „Sechs Lieder für Singstimme und Klavier“, veröffentlicht bei Breitkopf und Härtel, Leipzig. Den übrigen fünf Liedern liegen Texte von Tieck, Uhland, Marianne von Willemer und – neben dem aus einem Volkslied – Th. Moore zugrunde.


    Fragt man nach der zentralen dichterischen Aussage des Eichendorff-Gedichts, das Mendelssohn in seinem „Wanderlied“ kompositorisch aufgegriffen hat, so ist das zweifellos der Vers „Und ich mag mich nicht bewahren“. Das existenziell-poetische Grundproblem Eichendorffs ist damit angesprochen. Er mochte sich – vom Geist der Romantik beflügelt - eigentlich nicht „bewahren“, sich der Entgrenzung seines Ichs überlassen, - aber er hat es dann doch nicht getan. Das „Leben eines Taugenichts“ mündet in eine ordentliche bürgerliche Existenz.


    Hört man nun Mendelssohns Lied gleichsam aus der Perspektive dieses poetischen Angelpunkts, so wird man ganz unzweifelhaft feststellen: Er hat den Geist des Gedichtes musikalisch voll erfasst. Diese Verszeile mit einer sprunghaft aufsteigenden melodischen Linie musikalisch aufgegriffen: Ein Quartsprung gleichsam mit „Anlauf“ ( ein punktiertes Viertel mit nachfolgendem Achtel auf gleicher Tonhöhe). Der fast atemraubende melodische und rhythmische Schwung, der einem da entgegenkommt, nein entgegenbrandet, ist – so empfindet man das als Hörer – die musikalische Realisation einer lyrisch-seelischen Befindlichkeit, die in die Worte mündet: „Weit von euch treibt mich der Wind“.


    Im Grunde, so denke ich, ist Mendelssohn dem Dichter Eichendorff im tiefsten Innern seelenverwandt. Darauf wird noch einmal einzugehen sein.

  • Bei diesem durchkomponierten Lied auf ein Gedicht von Eichendorff drängt sich einem wieder einmal die Frage auf, worin der klangliche Zauber nun letzten Endes gründen mag, der von ihm ausgeht. Das Lied steht im Zweivierteltakt und ist mit der Tempoanweisung „Adagio“ versehen.


    Vergangen ist der lichte Tag,
    Von ferne kommt der Glocken Schlag;
    So reist die Zeit die ganze Nacht,
    Nimmt manchen mit, der´s nicht gedacht.


    Wo ist nun hin die bunte Lust,
    Des Freundes Trost und treue Brust,
    Der Liebsten süßer Augenschein?
    Wird keiner mit mir munter sein?


    Frisch auf denn, liebe Nachtigall,
    Du Wasserfall mit hellem Schall,
    Gott loben wollen wir vereint,
    Bis daß der lichte Morgen scheint.


    Mit einem Vorhalt setzt die Vokallinie schon im ersten Takt ein, nachdem im Klavier vier Achteloktaven aufgeklungen sind. Beim ersten Vers bewegt sie sich ruhig auf einer Tonebene (einem „g“), von der sie nur um eine Sekunde nach unten und nach oben abweicht. Auch der zweite Vers wird mit einem Vorhalt gesungen, wobei die Vokallinie einen Quartsprung macht und danach in langsamen Schritten bis hin zu dem Wort „schlag“ wieder herabsteigt.


    Diese Bewegung der melodischen Linie ist – und darauf beruht wohl ihr Zauber – in vollkommener Weise textgemäß. Der erste Vers besteht aus einer sprachlich schlichten Feststellung, in der die Zeitlichkeit des menschlichen Lebens angesprochen wird. Die melodische Linie verbleibt dabei ruhig. Dann aber, im zweiten Vers, kommt Bewegung in das lyrische Bild: Von fern her – typisch für Eichendorff – kommt ein Glockenschlag, - wieder ein Symbol von Zeitlichkeit. Nun kommt auch in die melodische Linie Bewegung. Der Quartsprung greift musikalisch den Schlag der Glocke auf und danach verklingt er in der fallenden Bewegung der Vokallinie.


    Das langsame Ansteigen derselben beim nächsten Vers („So reist die Zeit…“) hat klanglich den Charakter eines Hinweises und einer Hinführung zu der zentralen lyrischen Aussage: „Nimmt manchen mit, der´s nicht gedacht“. Diese ist dann auch prompt, um ihr den angemessenen musikalischen Akzent zu verleihen, durch eine Pause abgesetzt, und die melodische Linie, die einen ausdrucksstarken Sextfall aufweist, mündet in ein tiefes „e“, das den ganzen Takt lang gehalten wird. Das ist ein musikalisch ungemein expressives Umsetzen der lyrischen Aussage.


    Die zweite Strophe weist – mit nur leichten Variationen im Klaviersatz – die gleiche kompositorische Faktur auf wie die erste. Zu einem strahlenden Ton hebt die melodische Linie dann aber mit Beginn der dritten Strophe an. Der Quartsprung von „b“ nach dem hohen „es“ drückt musikalisch das lyrische „Frisch auf“ in eindrucksvoller Weise aus. Und im Verlauf ihrer Bewegung steigt die Vokallinie noch höher bis zu dem „f“ bei dem Wort „Nachtigall“.


    Der appellative und in Gottvertrauen wurzelnden Lebensmut ausstrahlende Charakter der dritten Strophe wird insbesondere im dritten Vers in höchst expressiver Weise kompositorisch umgesetzt. Dieses Mal setzt die Vokallinie bei dem Wort „Gott“ ohne Vorhalt und mit einem Sforzato versehen auf einem hohen „as“ ein und bewegt sich danach langsam, in silbengetreuer Deklamation nach unten, um bei dem letzten Vers („Bis daß der lichte Morgen scheint“) in einer Tonhöhe zu verharren.


    Denn das Lied ist noch nicht zu Ende. Dieser Appell muss noch einmal, seiner lyrischen Bedeutung gemäß, musikalisch artikuliert werden. Dieses Mal aber in melodisch weniger expressiver, ruhigerer Form. Bei dem Wort „vereint“ verharrt die Vokallinie lange (über einen ganzen Takt) auf einem hohen „c“, allerdings mit einem Crescendo versehen. Und bei der Wiederholung des letzten Verses steigt sie mit großen, ruhigen Schritten über eine ganze Oktave herab zum Grundton. Der Ruhepunkt aller melodischen Bewegung ist erreicht.

  • Mendelssohns „Nachtlied“ gehört zu jenen seiner Liedkompositionen, die mich immer wieder in Bann schlagen, wenn ich sie höre. Das Lied ist ja Teil von Mendelssohns Opus 71. Im Oktober 1847 ließ er sich alle Lieder daraus von Livia Frege vorsingen, und diese meinte, dass mit Ausnahme des zweiten, also des „Frühlingslieds“ auf eine Text von Klingemann, alle Lieder „zutiefst melancholisch“ seien.


    Das würde nun auch für dieses „Nachtlied“ gelten. Ich gestehe, dass ich diese Einschätzung nicht teilen kann. Von „Melancholie“ vernehme ich in diesem Lied keine Spur. Eichendorff hat hier die Zeitlichkeit der menschlichen Existenz lyrisch thematisiert. Sie wird sinnlich greifbar im „Glockenschlag“ und gefühlt in der „eilenden Zeit“ der Nacht, die für manchen den Tod mit sich bringen kann, der innerlich gar nicht darauf eingestellt war. Das alles wird von Eichendorff ohne die Beimischung eines larmoyanten Tones, vielmehr fast „sachlich“ lyrisch artikuliert.


    Und so setzt Mendelssohn dies auch in Musik. Es ist ja auffällig, dass dieses Lied in ES-Dur steht, - nicht etwa in Moll. Die melodische Linie bewegt sich ruhig. „Adagio“ ist vorgeschrieben. Es gibt nur eine Stelle, in die Chromatik in die Harmonisierung der Vokallinie eindringt. Das geschieht nun allerdings auf beeindruckende Weise, und es macht – neben anderen Besonderheiten der Faktur – die Größe des Liedes aus.


    Bei dem Vers „So reist die Zeit die ganze Nacht“ steigt die melodische Linie, mit einem Crescendo versehen, langsam an. Man hat das Gefühl, dass da ein kleiner musikalischer Spannungsbogen aufgebaut wird. Bei dem Wort „Nacht“ hält sie dann auf einem hohen „es“ inne. Eine Pause folgt. Und jetzt setzen im Klavier die rasch repetierenden chromatischen Sechzehntel-Akkorde ein, in die die melodische Linie wie stockend einfällt, - vom hohen „es“ um eine kleine Sekunde herabgestiegen. Das „Nimmt manchen mit“ wirkt, eben wegen dieser stockend deklamierten und zugleich isolierten – durch Pausen vom melodischen Fluss getrennten – Form, mit der es klanglich in Erscheinung tritt, wie eine Mahnung, ein Hinweis auf die permanente Bedrohung der menschlichen Existenz durch den Tod.


    Gerade wegen der stillen Klage über die Vergänglichkeit, die auch die zweite Strophe von Eichendorffs Gedicht bis zum letzten Vers durchzieht und von Mendelssohn mit einer von Fallbewegungen dominierten melodischen Linie musikalisch vollinhaltlich aufgegriffen wird, wirken der Quartsprung und im Forte nach oben ausgreifende Vokallinie, mit denen die dritte Strophe einsetzt, als sei der Bann, den die Dunkelheit der Nacht auf die ersten beiden Strophen gelegt hat, abgeschüttelt und die strahlende Helligkeit des Tages trete in das Lied. Das tut sie ja nicht wirklich. Aber es ist eine faszinierende musikalische Beschwörung, die sich da ereignet.

  • Dieses Lied auf ein Gedicht von Eichendorff steht im Dreivierteltakt und ist mit der Tempoanweisung „Sehr gemässigt“ versehen. Es ist zwar durchkomponiert, aber wie so oft bei Mendelssohn bietet es den klanglichen Eindruck eines Strophenliedes. Das ist ganz wesentlich darauf zurückzuführen, dass die melodischen Linien der ersten und der zweiten Strophe identisch sind und nur der Klaviersatz differiert. Selbst die Vokallinie des ersten Verses der dritten Strophe ist die, die auch auf den Anfangsversen der beiden vorangehenden Strophen liegt.


    Wo noch kein Wand´rer gegangen,
    Hoch über Jäger und Roß
    Die Felsen abendrot hangen,
    Als wie ein Wolkenschloß,


    Dort zwischen Zinnen und Spitzen,
    Von wilden Nelken umblüht,
    Die schönen Waldfrauen sitzen
    Und singen im Wind ihr Lied.


    Der Jäger schaut nach dem Schlosse:
    „Die droben, das ist mein Lieb!“
    Er sprang vom schäumenden Rosse,
    Weiß keiner, wo er blieb.


    Im Unisono klingt im Vorspiel ein musikalisches Motiv auf, das wie ein Jagdsignal wirkt. Und es ist interessant zu beobachten, wo es noch einmal auftaucht: Bei der Wiederholung der Schlussverse der beiden ersten Strophen nämlich. Zweifellos ist das als ein Akt musikalischer Interpretation des lyrischen Textes zu sehen. Die lyrischen Bilder vom „Wolkenschloß“ und von den „schönen Waldfrauen“ werden musikalisch mit der Lebenswelt des Jägers verbunden, und es deutet sich damit schon das Ende an: „Weiß keiner, wo er blieb“.


    Bemerkenswert ist auch, dass die melodische Figur, die in der Singstimme auf dem ersten Vers liegt, in ihrer Struktur dem Jagdruf-Motiv ähnlich ist: Auch hier eine aufsteigende melodische Linie, die in eine Triolenfigur „h“ – „e“ – „c“ mündet und danach wieder abfällt. Es steckt in diesem Lied mehr kompositorische Raffinesse, als man beim ersten Hören bewusst zu registrieren vermag, die aber sehr wohl ihre klangliche Wirkung im Sinne einer musikalischen Aussage entfaltet.


    Wieder ist hörend zu erfahren, wie gut Mendelssohn es versteht, lyrische Bilder in ihrer Aussage allein mit der Struktur der melodischen Linie einzufangen. Bei dem Vers „Die Felsen abendrot hangen“ bewegt sich die Vokallinie wie in gewichtigen („Felsen“), weil aus einer Kombination von Vierteln, Achteln und Sechzehnteln bestehenden Schritten abwärts und beschreibt dann bei dem Wort „hangen“ erneut eine Abwärtsbewegung in Form von Terzen. Und beim Bild vom „Wolkenschloß“ kommen lange Dehnungen in die melodische Linie, die dabei auf einer Tonhöhe verbleibt, so dass dieses lyrische Bild in seiner Aussage musikalisch akzentuiert wird.


    Die dritte Strophe setzt mit der bekannten aufsteigenden und in eine Triole mündenden melodischen Linie ein, die man schon kennt. Das Klavier begleitet mit den – ebenfalls bekannten – nachschlagend rhythmisierten Akkorden. Bei dem Vers „Die da droben, das ist mein Lieb“ bleibt die rhythmische Bewegung der Vokallinie zwar erhalten, sie weist aber, weil sie mit einer Terz einsetzt, einen ausgeprägteren Aufstiegscharakter auf, und zudem mündet sie in eine Dur-Harmonisierung.


    Im Forte und wiederum mit einem Terzsprung hoch zu einem „d“ wird der Vers „Er sprang vom schäumenden Rosse“ eingeleitet. Hier, an der einzigen Stelle des Gedichts, wo so etwas wie eine Aktion stattfindet, kommt auch deutlich mehr Bewegung in die melodische Linie, die von rhythmisierten Oktaven im Klavier „sforzato“ akzentuiert wird.


    Der Vers „Weiß keiner, wo er blieb“ wird zunächst auf der gleichen melodischen Linie (einer fallenden) deklamiert. Diese mündet aber in ein hohes „e“, das einen halben Notenwert lang gehalten wird. Was nachfolgt, ist eine Wiederholung dieses Verses, dieses Mal aber in ruhiger, von halben Noten getragenen Abwärtsbewegung, die in den Grundton mündet.

  • Mendelssohn komponierte dieses Lied im Jahre 1835. Es erschien 1838 als Beilage zur „neuen Zeitschrift für Musik“ (Heft 8). Im Jahre 1850, also nach dem Tod Mendelssohns, wurde es zusammen mit dem „Pagenlied“ unter dem Titel „Zwei Gesänge“ veröffentlicht.


    Warum Mendelssohn ihm keine Opus-Nummer gegeben hat, konnte ich nicht herausfinden. Es ist mir auch nicht recht erklärlich, handelt es sich bei diesem Lied doch um eine überaus gelungene Komposition. Klanglich fesselnd und kompositorisch subtil ist die Art und Weise, wie er hier mit dem musikalischen Jagdhorn-Motiv arbeitet, das gleich in der Einleitung aufklingt. Es verbindet ja nicht nur die Strophen miteinander, es prägt auch den Klaviersatz beim jeweils letzten Vers der Strophen. Und noch mehr: Sogar die melodische Linie selbst ist beim Strophenanfang in ihrer Struktur von diesem Motiv deutlich hörbar beeinflusst.


    Höchst beeindruckend ist nun, wie Mendelssohn unter dem Aspekt der durchgängigen Prägung des Liedes durch dieses Motiv den Schluss gestaltet. Hier erlischt diese Prägung nämlich gleichsam. Bei der Wiederholung des Verses „Weiß keiner, wo er blieb“ erklingen im Klaviersatz nur noch zwei repetierende Achtelakkorde, durch Pausen, also klangliche Leerstellen, voneinander getrennt.


    Die Musik reflektiert die Aussage des lyrischen Textes. Der Jäger ist der zauberischen Verlockung durch die schöne Waldfrau zum Opfer gefallen. Er ist verschwunden, - und mit ihm das Motiv, das ihn durch das ganze Lied begleitet hat. Zurück bleiben nur noch fahle Akkorde und die schwankenden Terzen, die eine Art Nachklang des Jagdmotivs waren.

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  • Dieses Lied auf ein Gedicht von Eichendorff steht im Sechsachteltakt und ist mit „Bewegt“ überschrieben. Obgleich es, und das ist ja häufig bei Mendelssohn so, durchkomponiert ist, macht es den Eindruck eines Strophenliedes. Seine Ursache hat das darin, dass es durchgehend von einer melodischen Figur geprägt ist, die schon in der Klaviereinleitung aufklingt und von der Singstimme in den ersten beiden Versen aufgegriffen wird. Diese melodische Figur ist überaus einprägsam, so dass man meint, es könne gar keine andere auf diesen lyrischen Versen liegen.


    Wenn die Sonne lieblich schiene
    Wie in Welschland, lau und blau,
    Ging ich mit der Mandoline
    Durch die überglänzte Au.


    In der Nacht das Liebchen lauschte
    An dem Fenster, süß verwacht;
    Wünschte ihr und mir, uns Beiden,
    Heimlich eine schöne Nacht.


    Ein tänzerisch-hüpfender Rhythmus liegt dem Lied zugrunde. Nicht nur der Klaviersatz weist ihn auf, auch die Singstimme bewegt sich in ihm, und das Klavier folgt ihr dabei über lange Strecken mit Unterstützung der silbengetreuen Deklamation durch Akkorde. Verantwortlich für diesen rhythmischen Eindruck ist der permanente Wechsel zwischen Vierteln und Achteln in der Bewegung der melodischen Linie. Wobei, gleichsam zur Steigerung der inneren Lebhaftigkeit, an bestimmten Stellen noch melismenartige Verzierungen in die melodische Linie eingeflochten sind, - und zwar durchaus nicht willkürlich, sondern durch den lyrischen Text motiviert.


    So findet sich etwa bei dem Wort „Welschland“ ein kleiner, abwärtsgerichteter und mit einer Kombination aus punktiertem Viertel und nachfolgendem Sechzehntel rhythmisierter Bogen. Und in ähnlicher Weise wird auch der Vers mit der „Mandoline“ durch melodische Verzierungen der lyrischen Musikalität gleichsam angepasst.


    Die beiden Melodiezeilen, die auf den Verspaaren der Strophen liegen, münden in all ihrer inneren Bewegtheit am Ende in eine Art Ruhepunkt in Form eines über zwei, bzw. eineinhalb Takte gehaltenen Notenwerts. Das ist kompositorisch gut durchdacht, denn es nimmt phasenweise die Lebhaftigkeit aus dem Lied, die, würde sie ununterbrochen durchgehalten, der Aussage des lyrischen Textes nicht voll angemessen wäre.


    Denn dieses Gedicht schildert ja keinen realen Vorgang, sondern entwirft imaginative Bilder, denen, weil sie in lyrischen Konjunktiven formuliert sind, etwas Statisch-Gedankliches innewohnt. Diese phantastischen Entwürfe müssen musikalisch durch Pausen getrennt werden, in denen die Phantasie ihnen gleichsam weiter zu folgen vermag. So würde ich die Faktur dieses Liedes lesen und dabei wieder einmal die kompositorische Kreativität Mendelssohns bewundern.


    In diesem Zusammenhang wäre auch noch auf die Art und Weise einzugehen, wie hier das Prinzip der Wiederholung gehandhabt wird. Die beiden letzten Verse der Strophe werden musikalisch noch einmal aufgegriffen, aber in Form einer modifizierten melodischen Linie und unter abermaliger Wiederholung des letzten Verses. Das imaginative Potential, das diesen Versen innewohnt, wird auf diese Weise musikalisch voll ausgeleuchtet und verstärkt. Denn bei der Wiederholung bewegt sich die melodische Linie bei den Worten „ging ich“ jetzt nach oben, um die in Moll harmonisierte Fallbewegung zu intensivieren und auf diese Weise die Irrealität des Bildes zum Ausdruck zu bringen, - mitsamt der Schmerzlichkeit des Wissens darum. Auch das ist kompositorisch großartig gemacht.


    Dieses Prinzip der Steigerung des musikalischen Ausdrucks durch das Ausgreifen-Lassen der melodischen Linie in höhere Lagen wird auch bei der kompositorischen Gestaltung des Schlusses angewendet. Jetzt sitzt der lang gehaltene Ton am Ende der ersten Melodiezeile nicht auf ein „a“ in mittlerer Lage, sondern auf einem hohen „e“, - und das mit einem Sforzato versehen. Die musikalische Expressivität der nachfolgenden Fallbewegung wird dadurch gesteigert.


    Und die melodische Pendelbewegung bei der Wiederholung des letzten Verses lässt die imaginative Irrealität des lyrischen Bildes noch einmal auf höchst eindrucksvolle Weise aufklingen.

  • Ich sehe gerade: Mir ist im letzten Beitrag ein sprachlicher Fehler unterlaufen.
    Er betrifft den Satz: "
    Obgleich es, und das ist ja häufig bei Mendelssohn so, durchkomponiert ist, macht es den Eindruck eines Strophenliedes."


    Diese Formulierung legt nahe, Mendelssohns Lieder seien in der Regel durchkomponiert. Und das ist natürlich falsch. Das Gegenteil ist der Fall.
    In sprachlich exakter Form muss es heißen: Obgleich es durchkomponiert ist, macht es, wie das ja häufig bei Mendelssohn der Fall ist, den Eindruck eines Strophenliedes.
    Ich bitte um Nachsicht.

  • Wenn D. Fischer-Dieskau im Falle der Begegnung Mendelssohns mit dem Lyriker Heinrich Heine bedauerte, dass nicht mehr Lieder daraus hervorgegangen sind, weil sich hier zweifellos eine Inspiration des Musikers durch das lyrische Wort ereignete, so möchte ich das eigentlich auch für Mendelssohns Lieder auf Gedichte von Eichendorff gelten lassen. Auch hier wünscht man sich, dass es mehr davon gebe als jene fünf, von denen vier hier vorgestellt wurden. Diese gehören ganz sicher zu Mendelssohns großen Liedschöpfungen, und das deshalb, weil auch hier das dichterische Wort auf unüberhörbare Weise musikalisch inspirierend wirkte.


    Es sind wohl jene beiden, die Lyrik Eichendorffs auf eine ganz spezifische Weise prägenden Seiten, die Mendelssohn angesprochen haben. Und ich meine, dass dies mit einer tieferen inneren Verwandtschaft der beiden Künstler zu tun haben könnte. Es ist auf der einen Seite diese zutiefst romantische Sehnsucht nach Entgrenzung des Ichs in der Sehnsucht nach der Ferne, - dieses „Und ich mag mich nicht bewahren“, von dem Adorno meint, es „präludiere in der Tat sein gesamtes Oeuvre“. In den Liedern „Wanderlied“ und „Pagenlied“ hat Mendelssohn dieses Thema aufgegriffen.


    Vor allem aber ist das Angesprochensein von dieser Entgrenzungssehnsucht in dem Lied „Es weiß und rät es doch keiner“ (op.99, 6) zu vernehmen. Von der letzten Strophe des Gedichts, jenem „Ich wünschte, ich wäre ein Vöglein…“, lässt sich Mendelssohn derart beflügeln, dass die melodische Linie emphatisch in große Höhen ausgreift und in ungewöhnlich großem Umfang das Mittel der Wiederholung eingesetzt wird.


    Da gibt es aber noch diese andere Seite Eichendorffs: Das Wissen um die inneren Gefahren jener urromantischen Sehnsucht nach der Überwindung der Individuation, - die Angst, sich in der Entgrenzung selbst zu verlieren. Der nach der Versöhnung von Klassik und Romantik strebende und sich um Form und Maß der Klassizität mühende Mensch und Komponist Mendelssohn muss sich auch in diesem Punkt von Eichendorff angesprochen gefühlt haben. In den Liedern „Das Waldschloß“ uns „Nachtlied“ kann man das hörend nachempfinden.


    Jene große Emphase, die das Lied „Nachtlied“ am Schluss entfaltet, bei den Versen „Gott loben wollen wir vereint, / Bis daß der lichte Morgen scheint“ verweist aber auf eine noch weitere innere Verwandtschaft Mendelssohns mit Eichendorff: Die Hoffnung und die Gewissheit, dass der Glaube den Menschen davor bewahren könne, sich selbst zu verlieren. Viele Werke Mendelssohns setzen sich inhaltlich mit Themen des Glaubens auseinander. Es sei in diesem Zusammenhang nur auf die Oratorien „Paulus“ und „Elias“ verwiesen. Auch seine lebenslange Beschäftigung und musikalische Auseinandersetzung mit Bach ist davon geprägt.

  • Eine Anmerkung zum Thema „Mendelssohn und Eichendorff“ ist vielleicht noch nachzutragen. Auch bei diesem Dichter kann man den Sachverhalt beobachten, der schon bei Heinrich Heine und Nikolaus Lenau festgestellt wurde, - hier freilich in geringerem Umfang: Auch bei Eichendorff greift Mendelssohn in den lyrischen Text ein, ohne dass es dafür einen erkennbar rein musikalischen Grund gibt.


    Er greift ein, weil ihm ein lyrisches Bild oder ein Wort unangenehm ist, auf ihn verstörend oder gar irritierend wird. Wie bei Heine und Lenau wurzelt das Motiv für den Eingriff in den lyrischen Text offensichtlich in der menschlichen Grundhaltung des Komponisten Mendelssohn, nicht in rein sachlicher Weise in den Erfordernissen der musikalischen Faktur, wie das eigentlich der Regelfall ist, - siehe etwa Schubert oder Schumann.


    In dem Lied „Die Nacht“ (op.71 Nr.6) heißt es im dritten Vers der zweiten Strophe:


    „Der Liebsten süßer Augenschein“

    Das ist aber nicht der Original-Wortlaut, denn bei Eichendorff heißt es: „Des Weibes süßer Augenschein“. Und diese lyrische Aussage zielt auf etwas anderes ab, als Mendelssohn daraus macht. Und sie ist im Kontext der dichterischen Aussage des ganzen Gedichts auch viel sinnvoller. Es geht Eichendorff ja nicht um „die Liebste“, sondern um den Verlust dessen, was die Frau dem Mann bedeuten kann.


    So wie ich inzwischen Felix Mendelssohn als Menschen kennengelernt habe – bei aller Einschränkung, die die historische Distanz mit sich bringt – war ihm das Wort „Weib“ an dieser Stelle ganz einfach zu ordinär.


    Er hat übrigens bei diesem Lied zwei Strophen des Gedichts ausgeklammert. Dieses weist nämlich insgesamt fünf auf. Ob er das aus rein musikalischen Gründen tat, etwa um eine zu große Länge des Liedes zu vermeiden, ist nicht mehr zu klären. Ich habe freilich ein wenig den Verdacht, dass auch hier die lyrische Aussage mit eine Rolle gespielt haben könnte. Eichendorff entfaltet in diesem Gedicht nämlich eine ausgeprägtere Radikalität in der Aussage über die „falsche Welt“, die Mendelssohn möglicherweise so nicht in sein Lied übernehmen wollte. Da finden sich – lyrisch höchst interessante und gewichtige! - Verse wie:


    „Und Feld und Baum besprechen sich, -
    O Menschenkind! Was schauert dich?“


  • Mit „Andante“ ist dieses durchkomponierte Lied auf ein Gedicht von Ulrich von Lichtenstein überschrieben. Es steht im Zweiviertelakt. Ein leises, heiter-stilles Lied ist das, in dem sich die melodische Linie über fließenden Achteln und Sechzehnteln im Klavier zwar ruhig, aber doch von innerem Leben getragen bewegt.


    In dem Walde süße Töne
    Singen kleine Vögelein,
    Auf der Aue Blumen, schöne,
    Blühen gen des Maien Schein.


    Also blüht mein hoher Muth
    Im Gedanken ihrer Güte,
    Die mir reich macht mein Gemüthe,
    Wie der Traum dem Armen thut.


    Im Klaviervorspiel, das aus einem rhythmischen Wechsel von Sechzehnteln in Form von Einzeltönen und Akkorden besteht, klingt eine melodische Linie auf, in der sich der Geist dieses Liedes ausdrückt: Ein heiteres, ganz und gar diatonisch sich entfaltendes Besingen des Frühlings.


    Die melodische Linie der Singstimme ist, wie so oft bei Mendelssohn, von eingängiger Schlichtheit. Gleichwohl reflektiert sie auf musikalisch dezente Art die Aussage des lyrischen Textes. So beschreibt sie bei den Worten „süße Töne“ einen Bogen, in dem die eingelagerten Sechzehntel wie eine melodische Verzierung wirken. Und bei dem Wort „Vögelein“ macht sie einen Quintfall, der es mit einem musikalischen Akzent versieht.


    Die Melodiezeile, die auf dem zweiten Verspaar der ersten Strophe liegt, setzt zwar ein wie die erste, bei den Worten „Blühen gen des Maien Schein“ fällt die melodische Linie jedoch um eine Sekunde ab und mündet in die Terz. Dies deshalb, weil dieser letzte Vers der Strophe wiederholt werden soll, und zwar mit einer langen Dehnung in Form einer bogenförmigen Bewegung aus Achteln und Sechzehnteln über dem Wort „Maien“.


    Mit der zweiten Strophe kommt ein etwas frischerer Ton in das Lied. Die melodische Linie steigt an, mit einem Wechsel der Tonart und einer Steigerung der Dynamik versehen. Die Worte „hoher Mut“ werden auf einem hohen „d“ deklamiert, und Mendelssohn schreibt an dieser Stelle ein Sforzato vor. Auch bei dem Vers „Die mir reich macht mein Gemüte“ bewegt sich die Vokallinie in hoher Lage, senkt sich aber zum letzten Vers hin wieder ab und kehrt in den Piano-Bereich zurück, der für dieses Lied dynamisch-klanglich prägend ist.


    Auch der letzte Vers der zweiten Strophe wird wiederholt, wobei wieder das kompositorische Prinzip der melodischen Dehnung zum Einsatz kommt. In beiden Fällen liegt diese auf dem Wort „Traum“, und in beiden Fällen mündet die melodische Linie dabei in eine bogenförmige Aufwärtsbewegung.


    Bei der Wiederholung, also im zweiten Fall, erfährt diese Bewegung jedoch noch eine Steigerung, insofern sie weiter nach oben ausgreift (bis zu einem „fis“, dem höchsten Ton des ganzen Liedes) und zudem durch die Einbeziehung von Sechzehnteln lebhafter wird.


    Das Lied weist ein für Mendelssohn ungewöhnlich langes Nachspiel auf, in dem das melodische Motiv des Vorspiels wieder aufklingt, dieses Mal aber von Oktaven im Diskant geprägt und deshalb klanglich weiträumiger wirkend.

  • Der Verfasser des Gedichts, das diesem Lied zugrundliegt, Ulrich von Lichtenstein also, wurde 1198 in der Steiermark geboren, woselbst er, nach seinem Stand ein sogenannter Ministeriale, später auch Truchsess wurde. Er gehört also einer Zeit und einer Kultur an, die Mendelssohn schon sehr fern stand.


    Ein wenig merkt man das an der lyrischen Sprache: Eine leicht geziert wirkende Diktion liegt ihr zugrunde. Noch mehr aber lassen die lyrischen Bilder und insbesondere das Bild der Frau das erkennen. Letzteres ist in seiner Überhöhung der Frau das des Minnesangs, - allerdings schon gleichsam aus der „Post-Perspektive“ dichterisch gestaltet. Der Begriff „hoher Muth“ ist – rein etymologisch betrachtet – der „hohe muot“ der Lyrik des Minnesangs. Aber er ist hier inzwischen seiner ursprünglichen inhaltlichen Strenge ein wenig entfremdet, gleichsam lyrisch aufgeweicht.


    Mendelssohn ist aber dem lyrischen Grundton dieses schon sehr alten Gedichts kompositorisch voll gerecht geworden. Das ist ein schöner Belegt für seine hohe Sensibilität gegenüber lyrischer Sprache. Das Lied repräsentiert auf klanglich faszinierende Weise den zugleich schlichten wie auch gezierten sprachlichen Gestus seiner dichterischen Vorlage. Die melodische Linie ist in ihrer Grundstruktur volksliedhaft schlicht. Schon die kurze Klaviereinleitung setzt den diesbezüglichen musikalischen Akzent.


    Die Art, wie Mendelssohn diese melodische Schlichtheit dann aber als „kompositorisches Material“ benutzt, zeigt, dass er den Autor des Gedichts als „Minnesangs-Nachkömmling“ sehr wohl verstanden hat. Zu hören und zu erfassen ist das zum Beispiel an der musikalischen Faktur der Wiederholung des Verses „Blühen gen des Maien Schein“. Hier wird ein lyrisch altes Bild in melodisch und harmonisch durchaus „moderner“ Weise musikalisch „ausgekostet“.

  • Das Gedicht, das diesem Lied zugrundliegt, stammt von Egon Ebert, einem 1801 in Prag geborenen und 1882 gestorbenen Dichter. Es scheint die Intensität der lyrischen Bilder gewesen zu sein, insbesondere der Gegensatz von frühlingshaftem Leben und nachfolgendem Tod, die Mendelssohn kompositorisch besonders angesprochen haben mag. Denn die musikalische Binnenspannung zwischen erster und zweiter Strophe des Liedes lässt das hören. Es steht in F-Dur, weist einen Viervierteltakt auf und ist mit „Andante con moto“ überschrieben.


    Als ich das erste Veilchen erblickt,
    Wie war ich von Farben und Duft entzückt!
    Die Botin des Lenzes drückt´ ich voll Lust
    An meine schwellende, hoffende Brust.


    Der Lenz ist vorüber, das Veilchen ist tot;
    Rings steh´n viele Blumen, blau und rot,
    Ich stehe inmitten und sehe sie kaum,
    Das Veilchen erscheint mir im Frühlingstraum.


    Das Klaviervorspiel deutet klanglich schon an, was sich lyrisch in diesem Lied ereignen wird. Der in aufsteigenden und dann fallenden Akkorden lieblich sich artikulierende Ton mündet in verminderte Akkorde, in die sich die Singstimme einfügt. Die Begegnung mit dem toten Veilchen wird hier schon klanglich vorweggenommen.


    Heiter und beschwingt wirkt auch zunächst die Bewegung der melodischen Linie. Bei den Worten „Wie war ich von Farben und Duft entzückt“ schwingt sie sich, mit einem Sforzato versehen, in einer Art Jubelton zu einem hohen „f“ auf, und bei dem Wort „Lust“ verharrt sie lange, fast inbrünstig, auf einem hohen „d“. Die beiden letzten Verse der ersten Strophe werden noch einmal wiederholt, wobei die Ausdrucksintensität dadurch gesteigert wird, dass nun in das lang gehaltene „d“ auch noch ein zum hohen „f“ ausgreifender melodischer Bogen eingelagert ist.


    Nach einem kurzen Klavierzwischenspiel, das das musikalische Motiv des dritten Verses aufgreift und mit „dim. ritard“ überschrieben ist, setzt die zweite Strophe auf höchst eindrucksvolle Weise ein: Wieder erklingt diese melodische Figur, nun aber ohne Klavierbegleitung pianissimo deklamiert und in f-Moll harmonisiert.


    Diese melodische Linie, die auf dem ersten Vers der zweiten Strophe liegt, weist einen ausgeprägt schmerzlichen Ton auf. Dies nicht nur wegen des Übergangs von F-Dur zu f-Moll, sondern auch deshalb, weil sie zunächst mit einem Quintfall einsetzt, dann bei dem Wort „Veilchen“ einen zum hohen „es“ ausgreifenden Bogen beschreibt und danach in eine lange, den ganzen Takt und den Anfang des nächsten übergreifende Dehnung mündet. Die Worte „das Veilchen ist tot“ werden danach noch einmal wiederholt und dadurch musikalisch besonders akzentuiert.


    Wiederholt wird auch der dritte Vers, wobei nun eine deutliche Steigerung der musikalischen Expressivität dadurch erfolgt, dass die Worte „ich stehe“ und „inmitten“, durch eine Pause voneinander getrennt, auf einem Ton (einem „h“) deklamiert werden, bevor dann eine Quintsprung bei „sehe“ folgt und die melodische Linie wieder in einer langen Dehnung endet, die zudem noch mit einem Diminuendo versehen ist.


    Überaus ausdrucksvoll ist der Schluss des Liedes gestaltet. Auch der letzte Vers wird wiederholt, und innerhalb der Wiederholung werden die Worte „erscheint mir“ zweimal deklamiert. Das ist wiederum mit einer Steigerung der melodischen Emphase verbunden, denn auf dem letzten „erscheint“ liegt eine so lange Dehnung, dass die melodische Linie für einen Augenblick in ihrer Bewegung wie erstarrt wirkt. Mit einem abwärts gerichteten Bogen auf dem Wort „Frühlingstraum“ endet das Lied.

  • Notiz in Klammern (weil persönlich):


    (Dieser Thread sollte eigentlich schon seit zwei Tagen fortgesetzt werden. Vielleicht wird er das ja irgendwann einmal auch noch. Im Augenblick fühle ich mich aber mit der Art von Beiträgen, wie ich sie zum Thema Kunstlied hier mache, fehl am Platz. )

  • Noch eine Notiz in Klammern:


    Die letzte dieser Art entsprang einer Erfahrung, die mich ziemlich getroffen hat. Sie wurzelt in Alfred Schmidts Threaderöffnung: "Die Zeit bleibt nicht stehen". Das klang in meinen Ohren so wie jener Spruch: "Das Leben geht weiter". Und ich hatte plötzlich das Gefühl, dass ich mit meinen - möglicherweise recht abstrakten - liedanalytischen Betrachtungen diesem "Leben", den lebendigen Aktivitäten im Tamino-Liedforum, im Wege stehe. Ich dachte: Tritt zurück, lass dem Leben seinen Lauf.


    Warum ich nun doch diesen Thread - und meine sonstigen Aktivitäten hier im Liedforum - fortsetzen möchte, hat zwei Gründe:


    Erstens: Es geht mir gegen die Natur, etwas anzufangen und es dann liegen zu lassen;
    Zweitens: Das "Leben" in diesem besagten Thread kann ich nicht sehen. Was nicht heißt, dass ich es mir nicht wünschen würde. Ganz im Gegenteil.

  • Das ist das erste der insgesamt sechs Lieder des 1837 erschienenen Opus 34 Mendelssohns. Zugrunde liegt ihm ein Gedicht aus „Des Knaben Wunderhorn“. Es steht in G-Dur, weist einen Zweivierteltakt auf und ist mit „Con moto“ überschrieben. Die Form ist die eines Strophenliedes.


    Leucht´t heller als die Sonne,
    Ihr beiden Äugelein!
    Bei Dir ist Freud´ und Wonne,
    Du zartes Jungfräulein,
    Du bist mein Augenschein.
    Wär ich bei dir allein,
    Kein Leid sollt´ mich anfechten,
    Wollt´ allzeit fröhlich sein!


    Dein Reiz ist aus der Maßen,
    Gleich wie der Blumen Art;
    Wenn Du gehst auf der Straßen,
    Gar oft in Deiner wart´,
    Ob ich gleich lang muß steh´n
    In Regen, Sturm und Schnee;
    Kein Müh´ soll mich verdrießen,
    Wenn ich Dich, Herzlieb, seh!


    Ein Rezensent namens Fink ordnete dieses Lied bei einer Besprechung in der „Allgemeinen Musikalischen Zeitung“ eher dem häuslichen Musizieren als dem Konzertsaal zu. Dieses Urteil muss man nicht als Abwertung der musikalischen Qualität verstehen. Es wird dem Lied insofern gerecht, als dieses sich durch eine ausgeprägte klangliche Intimität auszeichnet.


    Mit einem Vorhalt steigt die Singstimme in das aus nur wenigen Achtelakkorden bestehende Vorspiel ein. Sie tut das mit einer Fallbewegung aus Quart- und Terzintervallen über fast eine Oktave, um danach aber gleich wieder einen Quintsprung mit nachfolgendem Quintfall zu machen. Das bringt eine große rhythmische Frische und Munterkeit in die melodische Linie, die damit ja durchaus den dichterischen Gehalt des lyrischen Textes reflektiert.


    So einfach und schlicht die melodische Linie am Anfang auch auftritt, sie ist es, was die Gestalt der Melodiezeilen und ihre Versstruktur anbelangt, keineswegs. Das ist ein Lied, das volksliedhafte Einfachheit suggeriert, in seiner musikalischen Faktur aber durchaus Raffinesse aufweist. Man erkennt dies an der Art und Weise, wie die Melodiezeilen strukturierend in den Versbau des Gedichts eingreifen.


    Die beiden ersten Verse der Strophen werden durch eine Melodiezeile zusammengefasst. Die nächste umfasst dann die drei nächsten Verse, wobei der letzte („Du bist mein Augenschein“) wiederholt wird, um eine Art musikalische Akzentuierung dieser lyrischen Aussage zu erreichen.


    In ähnlicher Weise sind die letzten drei Verse zu einer melodischen Einheit gefügt, nur dass dieses Mal der letzte Vers sogar zweimal wiederholt wird. Bei der Wiederholung arbeitet Mendelssohn mit dem Mittel der melodischen Dehnung über einem Bogen. Sowohl das Wort „Augenschein“ wird dabei musikalisch akzentuiert als auch die Worte „allzeit fröhlich sein“. Insbesondere hier gewinnt die melodische Linie durch weiten Ausgriff in hohe Lagen und eine lange Dehnung besondere musikalische Expressivität.


    So schlicht und lieblich die melodische Linie in diesem Lied auch wirkt, - an vielen Stellen bemerkt man bei genauerem Hinschauen, wie eindrucksvoll sie die lyrische Aussage reflektiert. Schon dass die Vokallinie bei dem ersten Wort „Leucht´t“ auf einem hohen „g“ einsetzt, lässt dieses Wort klanglich regelrecht aufleuchten. Auf dem Wort „Äugelein“ liegt ein melodischer Bogen. Im Anschluss an die Worte „Wär ich bei dir allein“ folgt eine Art Innehalten in der Bewegung der melodischen Linie durch einen halben Notenwert auf der letzten Silbe von „allein“. Das mutet klanglich an, als würde sich das lyrische Ich einen Augenblick lang diesem gerade geäußerten Gedanken überlassen.


    Man könnte noch weitere strukturelle Merkmale dieser Art hier auflisten. Es ist unnötig. Besser ist es, sich dem Lied hörend zu überlassen. Und man wird von seinem klanglichen Zauber in Bann geschlagen.

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