In diesem Lied spielt Mendelssohn auf eine faszinierende Weise mit dem Volksliedton. Die melodische Linie ist schlicht und kunstvoll zugleich, so dass man fast geneigt ist, hier von einem Fall von Wiederherstellung von naturhafter Ursprünglichkeit mit den Mitteln der Kunst zu sprechen, wie dies als kunsttheoretisches Konzept in der Romantik entwickelt wurde.
Wunderbar einschmeichelnd in ihrer bogenförmigen Anlage ist die melodische Linie auf den Worten „Du zartes Jungfräulein, du bist mein Augenschein“. Man empfindet sie als der Aussage des lyrischen Textes vollkommen angemessen. Dabei fällt einem aber gar nicht auf, dass Mendelssohn zwei im Gedicht eigenständige, in eigenen Versen artikulierte Aussagen musikalisch zu einer Aussage zusammengefasst hat. Zudem wird der zweite Teil dieser Aussage noch einmal wiederholt, dann aber in Form einer anderen, nun nach oben ausgreifenden Vokallinie.
Dahinter steckt eine durchaus hochreflektierte kompositorische Absicht: Die Schönheit und Zartheit dieses weiblichen Wesens soll viel stärker in den Vordergrund gestellt werden, als dies im „Volkslied-Text“ selbst der Fall ist. Dort reihen sich nämlich die Bekenntnisse des lyrischen Ichs gleichgewichtig aneinander. Mendelssohn gewichtet sie aber in seinem Lied musikalisch. Und dieses ist nun gar nicht volksliedhaft.
Man sieht das auch an den folgenden Versen: „Wär ich bei dir allein, / Kein Leid sollt´ mich anfechten“. Im lyrischen Text schließen sie sich gleichgewichtig an den Vers „Du bist mein Augenschein“ an. Mendelssohn fügt aber nach diesem Vers eine Pause in die melodische Linie ein. Und das, was dann melodisch nachfolgt, eben die Vokallinie auf „Wär ich bei dir allein“, wirkt musikalisch völlig neu: Es ist ein Abstieg der melodischen Linie in großen Schritten über fast eine Oktave mit einem nachfolgenden Quintsprung nach oben und einem nachfolgenden Verharren auf dem Wort „allein“.
Auch dies ist wieder ein Fall von kompositorisch reflektiertem Vorgehen. Man könnte es so formulieren: Der Konjunktiv wird hier regelrecht komponiert. Der im „Volkliedtext“ fast beiläufig ausgesprochene Gedanke, dieses „Wäre ich…“, wird hier musikalisch gleichsam weitergedacht. Der Hörer soll sich in diese konjunktivische Situation hineinversetzen und sie einen Augenblick lang selbst weiterdenken. Deshalb die halbe Note auf der Silbe („al-) „-lein“ und die im folgenden Takt noch nachfolgende Achtelpause. Erst danach kommt die Antwort des lyrischen Textes selbst: „Kein Leid sollt´ mich anfechten.“
Es ist wirklich so: Ein melodisch und harmonisch überaus einschmeichelndes, volkliedhaft schlicht wirkendes Lied erweist sich bei näherem Hinblick, dem liedanalytischen nämlich, als ein kompositorisches Kunstwerk von hochreflektierter musikalischer Binnenstruktur.
Gibt es einen schöneren Beweis für die Genialität des Liedkomponisten Felix Mendelssohn?