BERLIOZ, Louis Hector: L'ENFANCE DU CHRIST


  • Louis Hector Berlioz (1803-1869):


    L'ENFANCE DU CHRIST
    (Die Kindheit Christi)

    Trilogie sacrée op. 25 für Soli (STTBarBarBB), Chor (SATB) und Orchester, op.25
    Libretto vom Komponisten auf Grundlage der Evangelien-Berichte


    Erstaufführung des Hirtenchores aus dem zweiten Teil am 12. November 1850
    Erstaufführung des gesamten zweiten Teils am 1. Dezember 1853 in Leipzig
    Uraufführung der vollständigen Trilogie am 10. Dezember 1854 in Paris


    DRAMATIS PERSONAE


    Die Heilige Maria, Sopran
    Der Heilige Joseph, Bariton
    König Herodes, Bariton
    Ein ismaelitischer Hausvater, Baß
    Der Erzähler, Tenor
    Polydorus, Baß
    Ein Centurio, Tenor
    Vierstimmiger Chor, verkörpernd Magier, Hirten, Engel, Ägypter, Ismaeliten



    INHALTSANGABE


    Erster Teil: Le songe d’Hérode (Der Traum des Herodes).


    Das Oratorium hat keine Ouvertüre; ein Erzähler, als Nachfolger des altitalienischen „Testo“ anzusehen, eröffnet das Werk mit einem schlicht gehaltenen, von Holzbläsern und Streichern begleiteten Rezitativ, in dem die Zuhörer mit der Situation im Heiligen Land zur Zeitenwende vertraut gemacht werden.


    Plötzlich kündigt sich ein musikalischer Umschwung an, es wird langsam orchestral ein Stimmungsbild erzeugt, das eine nächtliche Straße abbildet, auf dem ein Trupp Römer zu einem „Marche nocturne“ seine Runde dreht. Das Marschthema läßt allerdings durch Holzbläser und sordinerte Streicher keinen Gedanken an einen modernen Militärmarsch aufkommen, sondern sich tatsächlich eine antike Szene vorstellen. Naturalistisch ist allerdings der plötzliche Ruf des Centurios „Wer da?“, worauf er sich mit der Wache dem mißmutig gelaunten alten Bekannten Polydorus gegenübersieht, den er in Rom glaubte. In der rezitativisch geführten Unterhaltung erfährt der Centurio, daß man Polydorus zur Bewachung des Herodes im königlichen Palastes eingeteilt hat. Und der, berichtet der Übelgelaunte, träume und zittere, weil er überall nur Verräter sehe - für den Centurio keine neue Botschaft, auch er kennt den Wahn des Herodes. Zu den Klängen des Marsches setzt sich der Trupp dann wieder in Bewegung und entfernt sich. Dieses Szenario ist mit einem Diminuendo vom Pianissimo bis zum wesenlosen Echo gezeichnet - die Straße ist wieder leer.


    Die Szene wechselt nun in den Königspalast, wo Herodes gerade aus einem Traum erwacht: „Schon wieder dieses Kind, das mich entthronen soll“- eine Arie von düsterem, ausdrucksstarken Charakter, in der Herodes sich „nur eine Stunde Frieden“ wünscht und sein Los als König bedauert und lieber „mit den Hirten im Waldesdunkel leben“ möchte.


    Polydorus unterbricht die von Selbstmitleid gekennzeichnete Szene des Königs und meldet die Ankunft der Priester und Schriftgelehrten, die Herodes hat rufen lassen. Der König erzählt den Männern seinen Traum und will ihre Deutung hören. Sie beschwören mit geheimnisvollen Zeremonien die Geister, die Berlioz mit einer aufregenden „Hexenmusik“ versah. Ihre gewonnenen Erkenntnisse verkünden sie dem König: Es wurde ein Kind geboren, das ihn vom Thron stürzen und aller Herrschaft berauben werde - doch „niemand kennt das Kind mit Namen“! Der Ratschlag, den die Gelehrten Herodes geben, ist für ihn einleuchtend, wenn auch grausam: alle Neugeborenen müssen getötet werden. Ohne irgendwelche Skrupel zu zeigen, befiehlt der König eben diesen Tod aller neugeborenen Kinder in Bethlehem, Nazareth und Jerusalem: „Schönheit, Anmut, Alter können meinen Sinn nicht ändern: Mein Schrecken muß ein Ende haben.“ Aus seinem wilden Gesang wird eine Chorstretta von geradezu opernhafter Dämonie, die leise verklingt und in eine Generalpause mündet, um dann zur neuen Szene im Stall von Bethlehem zu führen.


    Hier wird Berlioz pastoral-lieblich, denn Maria singt ihrem Kind ein Wiegenlied, in das Joseph einstimmt und es sich so zu einem Duett mit tonmalerischen Weisen, hüpfenden Holzbläserfiguren, die springende Lämmer symbolisieren könnten, ausweitet. Dieses Familienidyll wird alsbald vom Chor der Engel unterbrochen, die zu vergeistigt wirkenden Orgel- und Streicher-Akkorden Maria und Joseph auffordern, ihr Kind vor einer großen Gefahr zu retten und nach Ägypten zu fliehen. Dabei verkünden die Himmlischen der Heiligen Familie jegliche Hilfe auf dem Weg in das fremde Land. Berlioz schreibt dem vierstimmigen Chor ein nur zart begleitetes „Hosianna“ (das „hinter der Bühne zu singen“ ist) und beendet damit den ersten Teil der „Trilogie sacrée“.



    Zweiter Teil: La fuite en Égypte (Die Flucht nach Ägypten).


    Dieser kurze Abschnitt ist sozusagen die Keimzelle des Oratoriums; Berlioz ließ sich vom Kompositionsstil alter Meister inspirieren. Das wird schon im langen, polyphonen Orchestervorspiel deutlich, dessen archaisches fis-Moll-Thema eine eindringliche Wirkung erzeugt.


    Die Hirten, die das Jesuskind schon kurz nach der Geburt kennengelernt haben, sind gekommen, um sich zu verabschieden. Ihnen kam zu Ohren, daß die Familie weiterreisen will; sie wünschen den Eltern nicht nur, daß sie ihr Kind stets liebhaben mögen, damit es blühe und gedeihe, sie hoffen auch, daß ihnen das Hirtenvolk immer in guter Erinnerung bleiben werde. Wenn sie nun den ärmlichen Stall verlassen, soll ein guter Engel jede Gefahr von ihnen fernhalten. Schalmeienhaft zart begleiten den Hirtenchor die Stimmen des Orchesters.


    Der „Testo“ erzählt, einem Romanzenton gleich, von einem „lieblichen Plätzchen“ mit „dichtbelaubten Bäumen“ und „reichlich Wasser“, was Berlioz schon in der Einleitung mit einem Sechsachtel-Allegretto von Holzbläsern und Streichern musikalisch anzeigt. Während der Esel, der Maria mit dem Kind in der Zeit der Wanderung trug, munter umherspringt (von Berlioz tonmalerisch ausgedrückt), läßt sich die Heilige Familie unter einer schattenspendenden Palme zur Ruhe nieder, von den Engeln beschützt, die das Kind anbeten.



    Dritter Teil: L’Arrivée à Sais (Die Ankunft in Sais).


    Wesentlich größer und kontrastreicher ist dieser Abschnitt. So wird zunächst mit einem sich monoton und müde wirkenden „Marche“ die Wüstenwanderung geschildert. Dann weiß der Erzähler zu berichten, daß die Familie durch Sand und Hitze wanderte, und der Esel als geduldiger Lastenschlepper auch schon mal in den Wüstenstaub fiel. Joseph aber ist durch Qualen des Durstes am Ende seiner Kräfte, Maria dagegen wirkt weder erschöpft noch müde; sie macht den Eindruck einer unbekümmerten jungen Frau, die sich an den Locken des Kindes und mit dem kleinen Köpfchen an ihrer Brust erfreut. Das Baby scheint ihr auf eine besondere Weise Halt und Kraft zu geben. Schließlich aber kann auch Maria nicht mehr, doch mit einer letzten verzweifelten Anstrengung gelangen sie an ihr Ziel: Sais.


    Hier müssen sie jedoch feststellen, daß man Flüchtlinge nicht mag, denn Joseph klopft an viele Türen und bittet mit der Schilderung ihrer langen Flucht aus Judäa um freundliche Aufnahme. Aber sie werden immer wieder abgewiesen, wenn man ihnen nicht sogar die Türe vor der Nase wieder zuschlägt.


    Dann aber kommen sie zur bescheidenen Hütte eines Ismaeliten, der auf Marias Bitten hin die Tür öffnet und sie mit freundlichen Worten einläßt. Auch des Hausherrn Kinder und Diener zeigen ihre Herzensgüte, geben den Müden erst einmal Mich und Trauben und dem Kind ein Ruhelager. Das freundliche Entgegenkommen der ismaelitischen Familie schildert Berlioz mit einem Gesang von biedermeierlicher Schlichtheit, das geschäftige Hin und Her aller Personen mit einem lebhaften Orchester-Fugato.


    Man macht sich in einem behaglichen, rezitativischen Ton miteinander bekannt: Der Hausherr samt Familie und Gesinde stammen aus dem Libanon und sie empfinden sich als Brüder der Israeliten. Natürlich stellen sich auch Joseph und Maria vor, natürlich nennen sie den Namen des Kindes, Jesus, und Joseph berichtet auch von seinem Beruf als Zimmermann. So ein Beruf, hört Joseph vom Gastgeber, ist hier gefragt und er bekommt sogleich eine Arbeit. Áls Ergebnis dieser Unterhaltung darf Joseph mit seiner Familie also bleiben und der kleine Jesus soll zu einem tüchtigen Jungen erzogen werden, schlägt das ismaelitische Familienoberhaupt vor.


    Nun bietet der Hausherr eine Musikdarbietung durch seine Kinder und Diener dar, die ihre Musikinstrumente, Flöten und Harfe, herbeiholen, um mit der Macht der süßen Töne die Gäste nach all den erlittenen Strapazen aufzuheitern. Berlioz komponiert ein Trio für Flöten und Harfe, das vor allen Dingen durch den cembaloartigen Klang seinen besonderen Reiz erhält. Es ist eine tänzerische Weise, umrahmt von einem pastoralen Andante, woraus sich eine dreiteilige Anordnung ergibt. Es schließt sich ein vielstimmiger Nachgesang an, gestaltet von Maria, Joseph und dem Ismaeliten, dem Chor und dem vollen Orchester, der eigentlich das Ende des Oratoriums erwarten ließe, doch es kommt noch einmal der Erzähler zu Wort. Er schließt seinen Bericht mit dem Hinweis, daß der „Heiland“ von Heiden vor dem Tode bewahrt wurde, die Heilige Familie demutsvoll zehn Jahre lang im Hause der Ismaeliten blieb, dann aber in ihre Heimat zurückkehrte. Eine mystisch-entrückte Melodie auf die Worte „Meine Seele, für dich, was bleibet noch zu schaffen, als in Demut zu knien vor diesem Wunder“ wird vom Vollchor zunächst frei imitierend übernommen, ehe das Oratorium mit einem ruhigen A-capella-Satz im Stile eines Palestrina, pianissimo gehaucht, ausklingt.



    INFORMATIONEN ZUM WERK


    Bereits 1767 meinte Jean-Jacques Rosseau in seinem „Dictionnair de Musique“ feststellen zu müssen, daß Frankreich keine Oratorien hervorgebracht habe. Und tatsächlich läßt sich zunächst als einziges Werk dieser Gattung „La mort d'Adam“ von Jean-Francois Lesueur (1760-1837) festhalten. Daß Lesueur der Lehrer von Berlioz war, könnte gleichsam den Weg für den Schüler bedeutet haben, auch auf diesem Gebiet Gewichtiges zu hinterlassen. So ist tatsächlich „Des Heilands Kindheit“ nicht nur ein bedeutender musikalischer Beitrag zum Genre des Oratoriums und von hohem poetischen Wert, sondern im Gesamtwerk des Komponisten auch mit an die vorderste Stelle zu setzen.


    Das Schreiben eines Priesters an den Komponisten mag stellvertretend als wahrhaftiges Urteil zitiert werden:


    Man kann nicht genügend bewundern, wie ein Künstler, der mit so viel Treue die stürmischen Leidenschaften menschlicher Herzen gezeichnet hat, den reinen, ruhigen Stil der Erhabenheit des Evangeliums zu finden und sich in der religiösen Betrachtung zu solcher Höhe zu erheben in der Lage war.


    Die Trilogie entstand in mehreren Arbeitsschritten. So wurde während eines geselligen Abends bei Berlioz' Freund Joseph-Louis Duc, der ihn kurzerhand aufgefordert hatte, ein Musikstück zu schreiben, ein „vierstimmiges Andantino für Orgel“ entworfen, das Berlioz hinterher auf den Gedanken brachte, der Musik einen Text zu unterlegen, womit der Hirtenchor fertig war. Dann schrieb Berlioz „Die Rast der Heiligen Familie“ und band damit jenen Hirtenchor in eine Handlung ein. Dem Komponisten schien es notwendig, noch eine Ouvertüre hinzuzufügen, womit die „Flucht nach Ägypten“ fertiggestellt war.


    Für ein Konzert am 12. November 1850 brachte Berlioz diesen Hirtenchor als Lückenfüller unter, und gab ihn als Werk eines im 17. Jahrhundert in Paris als Kapellmeister tätig gewesenen Pierre Ducré aus. Am 1. Dezember 1853 wurde „Fuite en Égypte“ vollständig in Leipzig aufgeführt. Durch den überwältigenden Erfolg angeregt, begann Berlioz noch im Dezember eine Fortsetzung zu komponieren, die von der Ankunft der Heiligen Familie in Sais erzählt. Im Frühjahr 1854 kam dann noch die Vorgeschichte „Der Traum des Herodes“ hinzu. Die vollständige Trilogie wurde am 10. Dezember 1854, ebenfalls in Paris, uraufgeführt.


    © Manfred Rückert für Tamino-Oratorienführer 2012
    unter Hinzuziehung folgender Quellen:
    Deutsches Libretto von Peter Cornelius
    Oratorienführer von Harenberg, Pahlen und Oehlmann

    .


    MUSIKWANDERER

    2 Mal editiert, zuletzt von musikwanderer ()

  • Der Blick in die Angebotslisten der Tamino-Werbepartner bestätigt die allgemeine Wertschätzung von Berlioz' Oratorium, dementsprechend reichlich ist das Angebot. Daher hier nur eine kleine Auswahl, die allerdings keine Art Ranking darstellt:



    unter Herreweghes (barockisierender) Leitung sind u.a. Veronique Gens und Paul Agnew zu hören; es singen die Chapelle Royale und das Collegium Vocale, es spielt das Orchestre des Champs Elysees.


    André Cluytens dirigiert das Oratorium mit Victoria de los Angeles, Nicolai Gedda, u.a. es spielt das Conservatoire Orchestra; Carlo Maria Giulini dirigiert das Chicago SO mit den zusätzlich beigegebenen Orchesterstücken aus Romeo und Julia.


    Anne Sofie von Otter, Gilles Cachemaille, Jules Bastin, Anthony Rolfe-Johnson, Jose van Dam; Monteverdi Choir, Lyon Opera Orchestra, John Eliot Gardiner.


    unter Norringtons Leitung singen u.a. Christiane Oelze und Michael Padmore; SWR- Vokalensemble und das Radio Sinfonie-Orchester Stuttgart.


    eine DVD mit Charles Munch als Dirigenten des Berlioz-Oratoriums.

    .


    MUSIKWANDERER