Felix Mendelssohn-Bartholdy und seine Lieder

  • In diesem Lied spielt Mendelssohn auf eine faszinierende Weise mit dem Volksliedton. Die melodische Linie ist schlicht und kunstvoll zugleich, so dass man fast geneigt ist, hier von einem Fall von Wiederherstellung von naturhafter Ursprünglichkeit mit den Mitteln der Kunst zu sprechen, wie dies als kunsttheoretisches Konzept in der Romantik entwickelt wurde.


    Wunderbar einschmeichelnd in ihrer bogenförmigen Anlage ist die melodische Linie auf den Worten „Du zartes Jungfräulein, du bist mein Augenschein“. Man empfindet sie als der Aussage des lyrischen Textes vollkommen angemessen. Dabei fällt einem aber gar nicht auf, dass Mendelssohn zwei im Gedicht eigenständige, in eigenen Versen artikulierte Aussagen musikalisch zu einer Aussage zusammengefasst hat. Zudem wird der zweite Teil dieser Aussage noch einmal wiederholt, dann aber in Form einer anderen, nun nach oben ausgreifenden Vokallinie.


    Dahinter steckt eine durchaus hochreflektierte kompositorische Absicht: Die Schönheit und Zartheit dieses weiblichen Wesens soll viel stärker in den Vordergrund gestellt werden, als dies im „Volkslied-Text“ selbst der Fall ist. Dort reihen sich nämlich die Bekenntnisse des lyrischen Ichs gleichgewichtig aneinander. Mendelssohn gewichtet sie aber in seinem Lied musikalisch. Und dieses ist nun gar nicht volksliedhaft.


    Man sieht das auch an den folgenden Versen: „Wär ich bei dir allein, / Kein Leid sollt´ mich anfechten“. Im lyrischen Text schließen sie sich gleichgewichtig an den Vers „Du bist mein Augenschein“ an. Mendelssohn fügt aber nach diesem Vers eine Pause in die melodische Linie ein. Und das, was dann melodisch nachfolgt, eben die Vokallinie auf „Wär ich bei dir allein“, wirkt musikalisch völlig neu: Es ist ein Abstieg der melodischen Linie in großen Schritten über fast eine Oktave mit einem nachfolgenden Quintsprung nach oben und einem nachfolgenden Verharren auf dem Wort „allein“.


    Auch dies ist wieder ein Fall von kompositorisch reflektiertem Vorgehen. Man könnte es so formulieren: Der Konjunktiv wird hier regelrecht komponiert. Der im „Volkliedtext“ fast beiläufig ausgesprochene Gedanke, dieses „Wäre ich…“, wird hier musikalisch gleichsam weitergedacht. Der Hörer soll sich in diese konjunktivische Situation hineinversetzen und sie einen Augenblick lang selbst weiterdenken. Deshalb die halbe Note auf der Silbe („al-) „-lein“ und die im folgenden Takt noch nachfolgende Achtelpause. Erst danach kommt die Antwort des lyrischen Textes selbst: „Kein Leid sollt´ mich anfechten.“


    Es ist wirklich so: Ein melodisch und harmonisch überaus einschmeichelndes, volkliedhaft schlicht wirkendes Lied erweist sich bei näherem Hinblick, dem liedanalytischen nämlich, als ein kompositorisches Kunstwerk von hochreflektierter musikalischer Binnenstruktur.


    Gibt es einen schöneren Beweis für die Genialität des Liedkomponisten Felix Mendelssohn?

  • Mendelssohn hat noch ein zweites Lied mit dem Titel „Minnelied“ komponiert. Ihm liegt ein Gedicht von Ludwig Tieck zugrunde. Es steht in A-Dur, weist einen Zweivierteltakt auf und ist mit der Tempoanweisung „Andante“ versehen. Der klangliche Eindruck, den es macht, legt die Vermutung nahe, dass Mendelssohn sich von der Lieblichkeit der lyrischen Bilder inspirieren ließ, wie sie gleich mit dem ersten Vers des Gedichts evoziert wird. Entsprechend lieblich mutet auch der Klang der melodischen Linie an.


    Wie der Quell so lieblich klinget,
    Und die zarten Blumen küßt,
    Wie der Fink im Schatten singet,
    Und das nahe Liebchen grüßt!


    Wie die Lichter zitternd schweifen,
    Und das Gras sich grüner freut,
    Wie die Tannen weithin greifen,
    Und die Linde Blüten streut!


    In der Linden süß Gedüfte,
    In der Tannen Riesellaut,
    In dem Spiel der Sommerlüfte
    Glänzet sie als Frühlingsbraut.


    Aber Waldton, Vogelsingen,
    Duft der Blüten, haltet ein!
    Licht, verdunkle, nie gelingen
    Kann es euch, ihr gleich zu sein!


    Im viertaktigen Klaviervorspiel bewegen sich im Diskant Sechzehntel im Sekundenintervall über einfachen Terzen im Bass auf und ab. Hier wird wohl klanglich das Fließen von Quellwasser (erster Vers!) suggeriert. Diese Grundstruktur der Klavierbegleitung bleibt – mit nur wenigen Ausnahmen das ganze Lied über gewahrt und trägt ganz wesentlich zu dem Eindruck des tänzerisch-eleganten Fließens und Sich-Verströmens bei, der von diesem Lied ausgeht.


    Mit einem auftaktigen Vorhalt setzt die melodische Linie der Singstimme mitten im vierten Takt des Vorspiels ein. Sie wirkt in ihrer Bewegung sehr lebendig, da diese sich über größere Intervalle vollzieht. So erfolgt schon gleich bei dem Wort „Quell“ ein Quintfall, und danach steigt die Vokallinie in munteren Schritten (in Form von Achteln) in tiefere Lagen hinab.


    Die erste Melodiezeile umgreift die beiden ersten Verse der Strophe. Die zweite, die die beiden anderen Verse beinhaltet, ist in ihrer Struktur am Anfang identisch. Danach bewegt sich die melodische Linie jedoch nach oben, um bei dem Wort „grüßt“ auf einem hohen „cis“ über zwei Takte lang zu verharren. Es ist ein Innehalten der melodischen Bewegung auch deshalb, weil eine Viertelpause nachfolgt. Im Grunde erwartet man aber ein Weiterließen der Melodik, weil dieses Innehalten nicht auf dem Grundton, sondern auf der Terz erfolgt.


    Wieder in tänzerischer Bewegung setzt die melodische Linie mit dem ersten Vers der zweiten Strophe ein. Dieser Eindruck tänzerischer Heiterkeit stellt sich vor allem deshalb ein, weil am Ende der beiden ersten Verse die Vokallinie jeweils einen Quartsprung macht.


    Überaus eindrucksvoll ist die Bewegung der Vokallinie beim letzten Vers der zweiten Strophe („Und die Line Blüten streut“). Zunächst steigt sie im dritten Vers in dynamischer Aufwärtsbewegung (das lyrische Wort „weithin“ reflektierend) nach oben. Dann, bei dem Wort „greifen“, beschreibt sie einen mit einem Sforzato versehenen Bogen in hoher Lage und fällt danach über eine Septe ab. Nach einer Viertelpause werden die Worte „Und die Linde Blüten streut“ noch einmal wiederholt, - auf einer wiederum über ein großes Intervall fallenden melodischen Linie, mit der Vortragsanweisung „dolce“ versehen.


    Die melodische Linie, die auf den Versen der dritten und der vierten Strophe liegt, ist – bis auf den Schlussvers – mit der der beiden ersten Strophen identisch. Im Klaviersatz finden sich nur vereinzelt leichte Veränderungen. Es handelt sich also um ein leicht variiertes Strophenpaar-Lied.


    Beim Schlussvers arbeitet Mendelssohn wieder mit dem kompositorischen Mittel der Wiederholung. Diesmal wird die Wortgruppe „Kann es euch, ihr gleich zu sein“ wiederholt, beim zweiten Mal mit einem vorgeschalteten „nie gelingen“. Die melodischen Linien sind dabei identisch und nur durch kurze Pausen voneinander getrennt.

  • Mit diesem Lied greift Mendelssohn ein musikalisches Thema auf, dem er sich bereits dreimal gewidmet hatte, nur dass es dieses Mal „Worte“ dazu gibt, - eine Gedicht von Thomas Moore nämlich. Die anderen Werke mit diesem Thema waren „Lieder ohne Worte“.


    Wenn durch die Piazetta
    Die Abendluft weht,
    Dann weißt du, Ninetta,
    Wer wartend hier steht,


    Du weißt, wer trotz Schleier
    Und Maske dich kennt,
    Du weißt, wie die Sehnsucht
    Im Herzen mir brennt.


    Ein Schifferkleid trag´ ich
    Zu selbigen Zeit,
    Und zitternd dir sag ich:
    Das Boot ist bereit.


    O komm jetzt, wo Lunen
    Noch Wolken umzieh´n,
    Laß durch die Lagunen,
    Geliebte, uns flieh´n.


    Mit „Allegro non troppo“ ist dieses Lied überschrieben, das im Sechsachteltakt steht und klanglich ganz und gar von jenem Barkarolen-Rhythmus geprägt ist, der auch die entsprechenden „Lieder ohne Worte“ trägt. Hier meint man in der rhythmischen Bewegung der Achtelfiguren im Wechselspiel von Bass und Diskant das Plätschern des Lagunenwassers zu vernehmen.


    In h-Moll ist die melodische Linie der Singstimme harmonisiert, die mit einer leicht tänzerischen, weil im Wechsel von punktierten Vierteln und Achteln sich entfaltend, auf einem hohen „d“ (im Vorhalt) einsetzt. Obwohl in der Rhythmik dem wiegenden Barkarolencharakter der Begleitung angepasst, wohnt der melodischen Linie, eben durch die Moll-Harmonisierung und die Dominanz der fallenden Linie, ein leicht elegischer Ton inne. Je zwei Verse der Strophen werden von einer Melodiezeile umgriffen, jedoch sind diese in ihrer Struktur so angelegt, dass sie ineinandergreifen und mit dem lyrischen Text eine strukturell-melodische Einheit bilden.


    Nicht durchweg dominiert das h-Moll. Der klangliche Reiz dieses Liedes kommt nicht unwesentlich aus dem vorübergehenden Ausgreifen der Moll-Harmonik in den Dur-Bereich. Das geschieht keineswegs kompositorisch unmotiviert, vielmehr reagiert hier die Harmonik auf die Aussage des lyrischen Textes. In dem Augenblick, wo „Ninetta“ angesprochen wird (dritter Vers) klingen Dur-Harmonien auf.


    Die danach folgende Melodiezeile setzt so ein wie die erste. Dann aber, wenn es um das „Brennen der Sehnsucht im Herzen“ geht, greift die melodische Linie weit stärker nach oben aus. Auf dem Wort „brennt“ liegt eine lange Dehnung (mehr als ein Takt) auf einem hohen „fis“, das zudem mit einem Sforzato versehen ist. Die Worte „wie die Sehnsucht im Herzen mir brennt“ werden danach noch einmal auf fallender melodischer Linie wiederholt.


    Das Lied ist durchkomponiert. Die dritte Strophe, in der es um die Einladung an die Geliebte geht, das bereit stehende Boot zu betreten, ist durchweg in Dur gehalten. Die Vokallinie behält ihren tänzerisch-wiegenden Rhythmus zwar bei, wirkt aber jetzt klanglich heller und frischer. Bei „Und zitternd dir sag´ ich“ bewegt sie sich mit großer Emphase, ausdrücklich mit einem ins Forte mündenden Crescendo versehen, hoch zu einem „fis“, von dem aus sie bogenförmig wieder nach unten ausklingt. Die Worte „Das Boot ist bereit“ werden zweimal auf identischer melodischer Linie gesungen.


    Tief setzt die Vokallinie bei dem „O komm jetzt“ des ersten Verses der letzten Strophe an. Etwas rhythmisch Drängendes wohnt ihr inne, wohl deshalb, weil auf dem Wort „komm“ eine volle, zudem punktierte und damit den Takt ausfüllende halbe Note liegt. Das gibt dem Wort klangliches Gewicht. Zudem wird in der sprachlichen Fassung „o komm jetzt“ die Aufforderung wiederholt.


    Das kompositorische Prinzip der Wiederholung verschafft, zusammen mit dem Ausgreifen der melodischen Linie nach oben, der Aufforderung, die die beiden letzten Verse zum Ausdruck bringen, große musikalische Eindringlichkeit. Wie im Nachklang zur musikalischen Beschwörung der lyrischen Situation klingt am Ende des Liedes sein Anfang noch einmal auf: „Wenn durch die Piazetta …“. Auf dem Wort „wartend“ liegt aber dieses Mal eine Lange Dehnung, - wieder einmal auf einem hohen „fis“.

  • Im Gedicht von Thomas Moore stehen ja die Aussagen des lyrischen Ichs unter dem Vorbehalt des temporalen Konditionals „Wenn – dann“. Dieser – und das macht das Gedicht reizvoll – scheint sich beim Lesen scheinbar aufzulösen: Spätestens in der dritten Strophe, scheint sich das Fiktionale in gleichsam lyrische Realität zu verwandeln, und man nimmt das „O komm jetzt“ wörtlich, - im Sinne der Aufforderung zur „Flucht durch die Lagune“, die tatsächlich jetzt bevorsteht.


    Es ist interessant zu beobachten, wie Mendelssohn kompositorisch mit dieser Eigenart des Gedichts umgegangen ist. Klanglich ist das Lied geprägt von der Dualität des Tongeschlechts, dem Hin und Her zwischen Moll- und Dur-Harmonik. Man darf das sicher so verstehen, dass Mendelssohn dadurch, dass er in den ersten beiden Strophen die Moll-Harmonik dominieren lässt, musikalisch die Situation reflektiert, in der das lyrische Ich sich artikuliert: Die Situation des einsam Wartenden, dessen Herz vor Sehnsucht brennt. Das Neben- und Ineinander von leicht elegisch geprägtem Grundton der melodischen Linie und dem tänzerisch-wiegenden Barkarolenryhthmus greift diese Situation und die Befindlichkeit des lyrischen Ichs in musikalisch großartiger Weise auf.


    Dann aber der Umschlag in die Dur-Harmonik in der dritten Strophe und die damit einhergehende lebhaftere Bewegung der Vokallinie. Nicht nur dass in ihr die Achtel zahlreicher vertreten sind, sie greift auch in höhere Lagen aus und steigert sich ins Forte. Zudem wird mit dem Mittel der Wiederholung gearbeitet, um der Aufforderung „O komm (jetzt)“ angemessenen Nachdruck zu verleihen. Die Komposition folgt also dem scheinbaren Umschlag von Fiktion in Realität, den auch der lyrische Text suggeriert.


    Der Schluss des Liedes zeigt aber, dass Mendelssohn die Aussage des lyrischen Textes sehr wohl verstanden hat und ihr durch eben diese Gestaltung des Schlusses voll entsprechen will. Er wiederholt die erste Strophe, - und das mit der im wesentlichen gleichen musikalischen Faktur. Die Ausgangssituation ist zurückgekehrt: Das „O komm“ erweist sich als ein Sehnsuchtsruf, der aus der Einsamkeit eines Wartenden kommt. Und dementsprechend legt Mendelssohn auf das Wort „wartend“ am Ende eine lange, mit einer Fermate versehenen, melodische Dehnung. Kompositorisch ganz konsequent ist auch, dass das Lied mit dem Klaviersatz des Anfangs ausklingt: Dem Barkarolenrhythmus.

  • Dieses Lied gehört zu jenen Mendelssohns, die sich eines größeren Bekanntheitsgrades erfreuen. Das ihm zugrundeliegende Gedicht stammt von Emanuel Geibel. Das Lied steht in e-Moll, weist einen Zweivierteltakt auf und ist mit „Sostenuto“ überschrieben.


    Wenn sich zwei Herzen scheiden,
    Die sich dereinst geliebt,
    Das ist ein großes Leiden,
    Wie´s größer keines giebt.
    Es klingt das Wort so traurig gar:
    Fahr wohl, fahr wohl auf immerdar:
    Wenn sich zwei Herzen scheiden,
    Die sich dereinst geliebt.


    Da ich zuerst empfunden,
    Daß Liebe brechen mag,
    Mir war´s , als sei verschwunden
    Die Sonn´ am hellen Tag.
    Im Ohre klang mir´s wunderbar:
    Fahr wohl, fahr wohl auf immerdar:
    Da ich zuerst empfunden,
    Daß Liebe brechen mag.


    Es handelt sich um ein reines Strophenlied. Die Singstimme setzt ohne Klaviervorspiel ein, und die melodische Linie, in der sie sich bewegt, ist von volksliedhafter, höchst eindringlicher Schlichtheit. Je zwei Verse werden von einer Melodiezeile zu einem musikalischen Paar zusammengeschlossen. Auf dem letzten Verspaar liegt die Melodiezeile des ersten Paars. Auch das erinnert als kompositorisches Bauprinzip einer Strophe ein wenig an das Volkslied.


    Die melodische Linie bewegt sich in einem relativ engen Raum. Ihre klangliche Ausdrucksstärke bezieht sie ganz wesentlich aus ihren tonalen Aufgipfelungen an textlich relevanten Stellen. So etwa bei den Worten „Wie´s größer keines giebt“ und „Fahr wohl, fahr wohl auf immerdar“. Bei diesem Vers erreicht die Vokallinie ihren tonalen Gipfelpunkt, und Mendelssohn schreibt ein Crescendo vor, das in ein Forte mündet. Dieser emphatische Ausgriff mündet jedoch wieder in das klanglich trübe e-Moll der ersten Melodiezeile.


    Schlicht wie die melodische Linie ist in ihrer Faktur auch die Klavierbegleitung. Sie besteht im wesentlichen aus Akkorden, die der Deklamation genau folgen, diese stützen und klanglich akzentuieren. Seine größte Komplexität weist der Klaviersatz im Zwischenspiel auf, das zugleich das Nachspiel des Liedes ist.


    Vielleicht, so möchte man meinen, wurzelt gerade in dieser Schlichtheit der musikalischen Faktur die klangliche Eindringlichkeit dieses Liedes. Auch der lyrische Text ist in seiner sprachlichen Struktur im Grunde ja schlicht. Gleichwohl artikuliert er eine menschliche Grunderfahrung von großer existenzieller Relevanz: Scheiden und Abschied, - ein Leiden, wie es größer keines gibt.


    Dieser Kontrast zwischen der existenziellen Gewichtigkeit des lyrischen Themas und der Schlichtheit, mit der es musikalisch artikuliert wird, macht die spezifische Eigenart dieses Liedes aus und begründet zugleich seine liedkompositorische Größe.

  • Woran, so frage ich mich, mag es liegen, dass dieses Lied eine so große Bekanntheit gewinnen konnte? Sicher lag es auch an seinem Thema, - dem Gedicht Geibels, der eine menschliche Urerfahrung, das Zerbrechen einer Liebe und den Abschied, auf sprachlich eindrucksvolle Weise lyrisch gestaltete.


    Aber es ist auch in der musikalischen Faktur des Liedes selbst begründet. Vor allem wohl darin, dass diese menschliche Urerfahrung kompositorisch gerade nicht mit großem Pathos gestaltet wurde, sondern mit einer Melodik von geradezu volksliedhafter Schlichtheit, die durch einen entsprechend einfachen Klaviersatz unterstützt wird. Selbst dort, wo größere Emphase in das Lied kommt, bei den Versen „Es klingt das Wort so traurig gar: / Fahr wohl, fahr wohl auf immerdar“ nämlich, bleibt die Vokallinie in ihrer Struktur schlicht: Sie besteht aus zwei in ihrer Anlage ähnlichen Melodiezeilen, die sich auf einen Höhepunkt zubewegen, auf dem sie in Form einen kleinen fallenden Sekunde verharren. Das Klavier folgt dieser Bewegung mit schlichten, silbengetreu gesetzten Akkorden. Nur bei dem Wort „immerdar“ ist ein Forte vorgeschrieben. Ansonsten verbleibt dieses Lied im Piano.


    Mendelssohn dürfte wohl ein wenig Herzblut in dieses Lied hineinkomponiert haben. Es entstand am 22. Dezember 1845. Er arbeitete damals eng mit der Sängerin Jenny Lind zusammen und muss wohl eine recht intensive Zuneigung zu ihr entwickelt haben, - ohne dass es deshalb zu einer Affäre gekommen wäre. Immerhin schenkte er ihr zu Weihnachten ein Liederheft, in dem sich auch dieses Lied „Wenn sich zwei Herzen scheiden“ findet. In dem Begleitbrief heißt es:


    „Was mich betrifft so wissen Sie, daß ich an jedem fröhlichen Fest, und an jedem ernsten Tage meines Lebens lang Ihnen gedenke, und daß Sie Ihren Antheil davon mit nehmen müßten, Sie mögen wollen oder nicht. Sie wollen es aber, und Sie wissen von mir, daß es mir eben so geht, und das wird nimmermehr anders.“


  • Auch diesem Lied liegt ein Gedicht von Emanuel Geibel zugrunde. Aber es ist klanglich von ganz anderer Art als „Wenn sich zwei Herzen scheiden“. Mit „Andante“ ist es überschrieben, und auf der Grundlage eines Dreivierteltaktes entfaltet sich hier eine ruhig sich verströmende Melodik, die zwar emphatische Momente aufweist, aber immer wieder in Pausen mündet, die wie Augenblicke der Besinnlichkeit wirken.


    Mein Herz ist wie die dunkle Nacht,
    Wenn alle Wipfel rauschen;
    Da steigt der Mond in voller Pracht
    Aus Wolken sacht – und sieh!
    Der Wald verstummt in tiefem Lauschen.


    Der Mond, der lichte Mond bist du
    In deiner Liebesfülle,
    Wirf einen, einen Blick mir zu
    Voll Himmelsruh´- und sieh!
    Dies ungestüme Herz wird stille.


    Das zweitaktige Klaviervorspiel besteht aus einer akkordischen Achtelfigur, die überaus klangschön wirkt, weil sie am Ende einen kleinen melodischen Bogen aufweist. Die Singstimme setzt mit einem Vorhalt schon im zweiten Takt ein und deklamiert zunächst einmal auf einer Tonhöhe. Bei dem Wort „Nacht“ beschreibt sie erstmals einen melodischen Bogen, und das ist eine Bewegung, die ganz wesentlich den Reiz dieses Liedes ausmacht. Denn sie wiederholt sich in der Grundstruktur auch der Melodiezeile, die auf dem zweiten Verspaar der ersten Strophe liegt.


    Wieder zunächst die silbengetreue Deklamation auf einem Ton („Da steigt der Mond“), danach das Emporsteigen der melodischen Linie auf einen tonalen Gipfel (Bei dem Wort „Wolken“), wobei ein Forte vorgeschrieben ist. Eindrucksvoll ist dabei, dass die Vokallinie bei diesem lyrischen Bild „aus Wolken sacht“ auf einer halben Note und mit einem Diminuendo einen Augenblick lang verharrt, als wolle sie sich der Betrachtung dieses Bildes überlassen.


    Im Abschluss daran folgt wieder, nach einem neuerlichen, aber kurzen melodischen Bogen, der Abstieg der Vokallinie auf den Grundton, verbunden mit der Zurücknahme der Dynamik ins Pianissimo. Das alles wirkt, da dieses melodische Aufgipfeln und wieder Absinken in Pausen eingebettet ist, in denen die melodische Linie im Klavier nachklingt, klanglich wie ein naturhaftes Atmen und wird auf diese Weise den lyrischen Bildern des Gedichts auch höchst eindrucksvolle Weise gerecht.


    Die melodische Linie der beiden ersten Verse der zweiten Strophe ist, mit nur einer kleinen Variante, mit der des Liedanfangs identisch. Dann aber setzt Mendelssohn wieder das kompositorische Mittel der Wiederholung zum Zwecke der Ausdruckssteigerung ein. Das ist von der Aussage des lyrischen Textes her vollkommen berechtigt, denn der dritte und vierte Vers der zweiten Strophe weisen ja einen appellativen Charakter auf. Die Worte „voll Himmelsruh“ werden auf strukturell gleicher melodischer Linie gesungen. Im Wiederholungsfall greift diese jedoch weiter nach oben aus (bis zu einem hohen „gis“) und verharrt dort sogar auf einer Fermate.


    Melodisch und klanglich wunderbar ist der letzte Vers kompositorisch gestaltet. Auch er wird wiederholt, aber keineswegs auf identischer Vokallinie. Zunächst beschreibt diese einen Bogen, der bei den letzten Worten des Verses in silbengetreuer Deklamation abfällt, dann aber bei dem Wort „stiller“ eine Dehnung aufweist, die wie ein klangliches Still-Werden wirkt.


    Bei der Wiederholung des Verses erklingt dann wiederum eine melodische Dehnung, dieses Mal aber auf dem Wort „sieh“, und sie ist so lang, dass man hörend diesem Appell unwillkürlich folgt. Danach wieder das so überaus eindrucksvolle, weil ins Piano zurückfallende und beruhigend wirkende, silbengetreue Herabsteigen der melodischen Linie auf den Grundton.

  • Die melodische Linie ist bei diesem Lied – was die einzelnen Liedzeilen betrifft, wie auch in ihrer Gänze – in ihrer Struktur so einfach und eingängig, dass man es, hat man es nur drei vier Mal gehört, ohne weiteres nachsingen könnte. Man hat Mendelssohn oft gerade dieses zum Vorwurf gemacht: Diese scheinbare Einfachheit der Lieder in Melodik und Klaviersatz. Hier, an diesem Lied – wie auch an vielen anderen – lässt sich zeigen, dass dieser Vorwurf unsinnig ist. (Und ich hoffe, das lässt sich auch den vorangegangenen Liedbesprechungen entnehmen).


    Zunächst einmal ist das Gedicht Geibels in seiner lyrisch-sprachlichen Struktur und seiner Metaphorik wenig komplex: Die Aussagen des lyrischen Ichs haben die syntaktische Form von Feststellungen ( „Mein Herz ist…“, Da steigt der Mond…“, „Der Mond bist du…“), und am Ende die einer Bitte. Genau dieser Sachverhalt spiegelt sich auch in der Struktur der melodischen Linie. Diese reflektiert also die lyrisch-sprachliche Struktur, und der Vorwurf kompositorischer Simplizität erweist sich damit als sachlich unbegründet.


    Das temporal-konditionale „Wenn“ am Anfang der zweiten Strophe („Wenn alle Wipfel rauschen“) bezieht sich ja syntaktisch nicht auf den dritten Vers („Da steigt der Mond…“), sondern auf den ersten: Wenn die Wipfel rauschen, ist das Herz des lyrischen Ichs wie die dunkle Nacht. Die Struktur der melodischen Linie, die auf den ersten beiden Versen liegt, bildet genau diesen syntaktischen Sachverhalt ab. Zunächst steigt sie beim ersten Vers hoch zu einem „e“ auf dem Wort „Nacht“. Dort verharrt sie in Form einer Viertelnote. Auf dem nachfolgenden Wort „Wenn“ liegt dann genau dieses „e“ noch einmal, womit man die nächste Liedzeile als Fortsetzung der ersten empfindet. Die sprachliche Einheit von erstem und zweitem Vers ist musikalisch gewahrt.


    Aber nicht nur die rein sprachliche Struktur wird abgebildet, sondern auch die lyrische Aussage wird in Musik umgesetzt und zum Ausdruck gebracht. Das hohe „e“ auf dem Wort „Nacht“ wirkt klanglich strahlend: „Nacht“ ist das Zentrum der lyrischen Aussage des ersten Verses. Die nachfolgende Liedzeile, die auf dem zweiten Vers, wirkt nun im Gegensatz zur ersten nicht schwungvoll aufsteigend, sondern klanglich schwebend: Die melodische Linie bewegt sich auf einer Tonebene: Das gleichförmige, lautlich undefiníerte Rauschen der Wipfel ist zu Musik geworden. Und es ist eine beschwingte Musik, denn das Herz des lyrischen Ichs ist beschwingt.


    Indiz großer kompositorischer Könnerschaft und entsprechender schöpferischer Reflexion ist auch, wie Mendelssohn in diesem mit der Aussagekraft der musikalischen Pause umgeht. Am Ende des zweiten Verses („Wenn alle Wipfel rauschen“) hat die Singstimme eine fast ganztaktige Pause. Derweilen wiederholt das Klavier im Diskant die letzte melodische Figur der Vokallinie. Der Hörer kann derweilen dem Rauschen der Wipfel nachlauschen.


    Beim nächsten lyrischen Bild, dem Emporsteigen des Mondes „aus Wolken sacht“, wird die Pause in gleicher Weise im Sinne des musikalischen Raum-Lassens für das hörende Nachsinnen eingesetzt. Auf dem Wort „Pracht“ liegt wieder eine punktierte Viertelnote, die wie ein kurzes Innehalten der melodischen Linie wirkt. Und auf dem Wort „sacht“ liegt sogar ein hohes „cis“ in Form einer halben Note. Der Hörer sieht das lyrische Bild vor sich, und der Komponist lässt ihm Zeit, sich imaginativ in seine Details zu vertiefen, - geführt und angeregt durch die Musik.


    Was will ich sagen? Hinter der scheinbaren Schlichtheit dieses Liedes steckt hohe kompositorische Reflexion. Oder Kunst. Wie man will.

  • Manchmal, wenn man liest, wie wirkliche Kenner sich über Lieder äußern, die man hier besprochen hat, wird einem bewusst, wie unzulänglich das ist, was man hier von sich gibt. Bei Hartmut Höll lese ich gerade über Mendelssohns Lied "Der Mond":


    "Ich lernte bei >Der Mond<, wie man, ohne den rauschenden Klang zu verlieren, im leichten Accelererando Phrasen schneller atmen lässt, um sie dann im Ritardando wieder weich abzufangen."


    Das Lied lebt klanglich tatsächlich sehr stark von eben jenem "rauschenden Klang", der sich bei entsprechender Phrasierung im Klaviersatz entfaltet. (Vielleicht, so denke ich gerade, versperrt mir das Bemühen um eine detaillierte Beschreibung der Lieder den Blick auf das wesentliche. Ich habe deshalb die Besprechung des Liedes "Die Liebende schreibt", die gerade hier noch stand, erst einmal wieder gelöscht. Zu viele Zweifel.)

  • Dieses Lied auf ein Gedicht von Goethe komponierte Mendelssohn 1831 in der Nähe von Interlaken. Vielleicht reflektiert es die Trennung von der Geliebten Delphine. Dafür spricht, dass die Komposition eine tiefe Einfühlung in den lyrischen Text hören und erkennen lässt, - deutlich stärker von einem subjektiven Angesprochen-Sein geprägt, als dies in den Liedern von Schubert und Brahms auf dieses Gedicht zu vernehmen ist. Das Lied steht in Es-Dur, weist einen Viervierteltakt auf und ist mit „Andante con moto“ überschrieben.


    Ein Blick von deinen Augen in die meinen,
    Ein Kuß von deinem Mund auf meinem Munde
    Wer davon hat, wie ich, gewisse Kunde,
    Mag dem was anders wohl erfreulich scheinen?


    Entfernt von dir, entfremdet von den Meinen,
    Führ ich nur die Gedanken in die Runde,
    Und immer treffen sie auf jene Stunde,
    Die einzige, da fang ich an zu weinen.


    Die Träne trocknet wieder unversehens:
    Er liebt ja, denk ich, her in diese Stille,
    Und solltest du nicht in die Ferne reichen?


    Vernimm das Lispeln dieses Liebewehens;
    Mein einzig Glück auf Erden ist dein Wille,
    Dein freundlicher, zu mir, gib mir ein Zeichen!


    Die Singstimme setzt mit einem Vorhalt schon im ersten Takt ein, in dem im Klavierdiskant sieben Achtel aufklingen. Die Melodiezeilen, die auf den ersten beiden Versen liegen, weisen in ihrer sich nach oben schwingendenden, bogenförmigen Anlage ein hohes emphatisches Potential auf. Sie wirken wie der Inbegriff einer melodisch-musikalischen Artikulation der bekenntnishaft-liebevollen Aussage des lyrischen Textes.


    Das Klavier begleitet dabei in einer noch primär stützenden Funktion, - mit silbengetreu gesetzten Akkorden, in denen freilich das pochende „es“ aus dem kurzen Vorspiel nachklingt. „Noch“, - das heißt: In diesem Lied bleibt das nicht so. Das Klavier entwickelt im weiteren Verlauf eine für Mendelssohn ungewöhnliche und ein wenig an Schumann erinnernde Eigenständigkeit.


    Wie großartig Mendelssohn kompositorisch auf den lyrischen Text reagiert, kann man bei dem zweiten Verspaar der ersten Strophe vernehmen. Hier tritt ja ein gedanklicher Aspekt in die Aussagen des lyrischen Ichs („Wer davon hat, wie ich, gewisse Kunde…“), und deshalb tritt nun an die Stelle der gefühlvoll bogenförmig phrasierten Melodik ein gleichsam schrittweises Deklamieren: Kurze Pausen untergliedern die Bewegung der melodischen Linie.


    Das „Entfernt von dir“ zu Beginn der zweiten Strophe wird in Form eines Quartsprungs und einer fallenden kleinen Sekunde mit nachfolgender Pause in markanter Weise musikalisch hervorgehoben. In ähnlich sich melodisch bewegender Form werden die übrigen Aussagen des ersten Verspaares der zweiten Strophe musikalisch zum Ausdruck gebracht. Mit dem zweiten Verspaar taucht aber die melodisch emphatische Figur des Liedanfangs wieder auf. Und das hat natürlich einen tieferen Sinn: Die liebevolle Beziehung zum Du wird vom lyrischen Ich wieder angesprochen.


    Bei „Die einzige“ steigt die Vokallinie dann zu großer Höhe auf und hält den Ton dort über fast zwei Takte, während im Klavier lebhafte, die Expressivität der melodischen Linie steigernde Achtelakkord-Repetitionen aufklingen. Bei dem Wort „weinen“ noch einmal eine lange melodische Dehnung, die danach in klagevoll anmutenden Sekundschritten abfällt. Nun erklingen im Klavierdiskant unruhige, in Sechzehnteln triolenhaft an- und danach in Achteln abfallende Figuren. Wieder ist zu vernehmen, dass in diesem Lied das Klavier einen ganz eigenen Beitrag zur kompositorischen Aussage zu machen hat.


    Wie leitmotivisch erscheint bei der Ansprache des Geliebten zu Beginn der vierten Strophe („Vernimm das Lispeln dieses Liebewehens“) wieder die Melodiezeile des Liedanfangs. Die zweite Melodiezeile weicht nun jedoch von der in der ersten Strophe ab: Bei den Worten „Mein einzig Glück auf Erden ist dein Wille“ kommt, ganz dieser lyrischen Aussage entsprechend, noch mehr Emphase in die melodische Linie, insofern sie noch weiter nach oben ausgreift.


    Das „gib mir ein Zeichen“ des Gedichtendes wird zweimal wiederholt. Beim ersten Mal steigert sich die melodische Linie wieder in große Höhe und beschreibt dort sogar noch ein Melisma in Form einer Triole. Klanglich bringt das den Wunsch des lyrischen Ichs auf musikalische Weise höchst eindringlich zum Ausdruck. Die zweite Wiederholung wirkt hingegen wie ein ruhiger Ausklang des Liedes: Auf dem Wort „mir“ ein kurzes Innehalten, danach, nach einem Terzsprung, ein Ankommen der melodischen Linie auf dem Grundton. Dabei hat man aber – und das ist der Zauber dieses Liedes – die Emphase der Vokallinie vom Anfang immer noch im Ohr.

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • Dieses Lied weist tatsächlich in der Struktur seines Klaviersatzes eine für Mendelssohn ungewöhnliche Vielfalt auf. Und es ist nicht nur die vordergründige Vielfalt, die bemerkenswert ist, es ist auch die Tatsache, dass das Klavier hier zum eigenständigen „Mitspieler“ wird, der der lyrischen Aussage musikalische Akzente verleiht.


    Bei den Versen der ersten Strophe besteht die Klavierbegleitung im wesentlichen aus einer Aufeinanderfolge von Achtelakkorden, die aber nicht nur die Deklamation der Singstimme stützen, sondern in ihrer harmonischen Binnenstruktur dieser auch folgen, also der melodischen Linie klanglich Farbe verleihen.


    Bei der zweiten Strophe entfaltet sich im Klavierbass eine melodische Linie, über der im Diskant, von Pausen getrennt, einzelne Akkorde eingelagert sind. Es wird beim Hören recht deutlich, dass hier das Klavier die seelischen Regungen des lyrischen Ichs musikalisch aufgreift: Dieses „Entfernt-Sein“ von dem Geliebten, das dazu führt, dass „die Gedanken in die Runde geführt“ werden. Seelisches Bewegt-Sein spiegelt sich im Klaviersatz.


    Bei dem Sich-Hineinsteigern des lyrischen Ichs in die Erinnerung an „jene“ Stunde kommt große Emphase in die melodische Linie: Sie steigt in große Höhe auf und verharrt dort in Form einer langen Dehnung. Hier nun erklingen parallel im Bass und Diskant volle Achtelakkorde. Die in diesen eingelagert melodische Linie folgt der Bewegung der Singstimme, - steigert also deren Emphase.


    Wieder anders stellt sich die Struktur des Klaviersatzes in den beiden letzten Strophen des Gedichts dar. Hier, wo es um die Besinnung des lyrischen Ichs auf den Reichtum geht, den die Liebe für es bedeutet, erklingt im Diskant dieses Auf und Ab von Sechzehnteln und Achteln, das, eben weil es eine ausgeprägte rhythmische Dynamik aufweist, klanglich beschwingt und beflügelnd wirkt.

  • Dieses Liedes, einer der großen Lieder Mendelssohns, entstand 1834 auf den Text eines unbekannten Verfassers. Einige vermuten, dass es sich dabei um Gustav Droysen handeln könnte, der ja ein enger Freund der Familie Mendelssohn war und von dessen Gedichten Fanny Hensel sechs vertont hat. Das Lied steht in E-Dur, weist einen Viervierteltakt auf und mit „Espressivo, non lento“ überschrieben.


    Da lieg´ ich unter den Bäumen,
    Trüb´ ist mein Herz mir und schwer,
    O sage, sag´ mir getreulich,
    Mein Herz, was drückt dich so sehr?


    Der Himmel ist düster umzogen,
    Die Winde so schaurig weh´n,
    Das bringt mir düst´re Gedanken,
    Drum muß in Trauer ich gehen.


    Du hast die Freude verlassen,
    Es schweift in die Ferne dein Blick,
    O komm zurück zu den Frohen,
    O kehr´ den Deinen zurück!


    Es hat mich die Freude verlassen,
    Wo alles erstirbt in dem Hain,
    Schon sinkt die herbstliche Sonne,
    Bald bricht das Dunkel herein.


    Laß schwinden die Tage der Wonne,
    Laß fallen die Blätter herab!
    Sie kehren ja alle dir wieder,
    Verjüngt aus dunkelem Grab.


    Wohl klärt sich der Himmel, die Sonne
    Ersteht, es verjüngt sich der Hain,
    Mein Hoffen schwand und ersteht nicht.
    Das mag meine Trauer wohl sein.


    Das dreitaktige Klaviervorspiel, in das sich die Singstimme mit einem Vorhalt einfügt, ist geprägt von durch Sechzehntelpausen getrennte Akkordgruppen, die in eine immer weiter nach oben ausgreifende Figur aus Achtelakkorden münden. Klanglich mutet das wie ein leise verhallender Klageruf an.


    Der Ton der Klage prägt auch durchweg die melodische Linie dieses Liedes. Die Struktur ihrer Bewegung ist die eines wie müde wirkenden Sich-Erhebens, das alsbald wieder in sich zusammensinkt. Gleich bei der ersten Melodiezeile, die die beiden ersten Verse umfasst, ist das zu vernehmen. Zunächst verbleibt die Vokallinie bei den Worten „Da lieg ich unter den Bäumen“ auf einer Tonebene: Sie weicht von dem Ton „gis“ nur um eine Sekunde ab. Danach (zweiter Vers) bewegt sie sich zwar in Sekundschritten aufwärts und erreicht bei dem Wort „Herz ihren Höhepunkt. Dann aber geht es abwärts.


    Wie klanglich verdichtet hört man diese klagend fallende Bewegung der melodischen Linie beim letzten Vers der ersten Strophe, bei dem Mendelssohn wieder mit dem Prinzip der Wiederholung arbeitet. Beim ersten „Mein Herz, was drückt dich so sehr“ fällt die Vokallinie von einem „h“ herunter auf ein „fis“. Danach wird noch zweimal wiederholt (in zum Teil sprachlich modifizierter Form), und bei der zweiten Wiederholung wird die Expressivität der melodischen Linie noch dadurch gesteigert, dass ihre „Fallhöhe“ auf eine ganze Oktave ausgeweitet wird.


    Mit dem ersten Vers der zweiten Strophe kommt eine leichte Dramatik in die Bewegung der Vokallinie. „Agitato“ gibt Mendelssohn vor. Die Singstimme deklamiert zunächst in tiefer Lage auf einer Tonebene, erhebt sich von dort ganz langsam (im Intervall einer Sekunde nämlich) um nicht mehr als eine Quart, und das Klavier akzentuiert diese klanglich schwer wirkende Aufwärtsbewegung mit rhythmisch pochenden Akkorden.


    Überaus eindrucksvoll ist die melodische Fallbewegung bei dem Vers „Das bringt mir düstre Gedanken“. Wieder im Sekundschritt geht es von einem hohen „h“ abwärts. Dieses Mal aber folgt der Klavierbass dieser Bewegung unisono und verleiht ihr damit eine hohe klangliche Eindringlichkeit. Beide Verse der Strophe werden jetzt in die Wiederholung einbezogen. Und wieder dominiert die Fallbewegung in der Melodik, von Sechzehntelakkorden akzentuiert. Auf dem Wort „Trauer“ liegt bei der Wiederholung eine lange melodische Dehnung mit einer Fermate.


    Es handelt sich bei diesem Lied um ein variiertes Doppel-Strophenlied, - ein kompositorisches Konzept, das Mendelssohn offensichtlich sehr liebte. Die dritte und die vierte Strophe weisen dieselbe musikalische Faktur auf wie die erste und die zweite. Die fünfte Strophe ist, was die Bewegung der melodischen Linie anbelangt, mit der ersten und der dritten noch weitgehend baugleich, allerdings wird das Prinzip der Wiederholung beim letzten Vers ein wenig anders gehandhabt. Bei dem Bild vom „dunklen Grab“ erfolgt eine Steigerung der Expressivität dadurch, dass ein sprachliches „ja“ eingefügt wird, auf dem die melodische Linie in hoher Lage ansetzt, um danach wieder ihre Abwärtsbewegung zu vollziehen.


    Deutlich anders angelegt ist die musikalische Faktur der letzten Strophe. Wie ein lebhaftes Rufen wirkt die Vokallinie auf dem ersten Vers. Zweimal holt sie mit einem Terzsprung, der mit einem Sforzato versehen ist, in gleicher Bewegung nach oben aus. Danach aber folgt eine Pause, und was sich anschließt, ist die altbekannte Klageton-Fallbewegung. Dieses Mal geht es sogar noch weiter herunter, - bis zum tiefen „c“.


    Die Aussage des lyrischen Textes fordert dies: Das Hoffen ist geschwunden, und „Trauer“ ist das den Schluss des Liedes beherrschende Wort. Die Wiederholung des letzten Verspaares stellt dieses Wort ganz und gar in den klanglichen Mittelpunkt. Und ganz folgerichtig liegt auf ihm am Ende wieder die lange melodische Dehnung mit Fermate.

  • Zuweilen, da denn nun die Zeit des Arbeitens an diesem Thread langsam zu Ende geht, frage ich mich immer wieder einmal: Welches Lied würdest du denn eigentlich einem Menschen, dem der Liedkomponist Mendelssohn noch fremd ist, zum Anhören empfehlen, auf dass er in gleichsam exemplarischer Form unmittelbaren Zugang zu diesem Komponisten finden könnte?


    Da gibt es mehrere Lieder, die in Frage kämen. Aber eines würde ganz sicher dazu gehören: Dieses großartige „Da lieg ich unter den Bäumen“. Da ist alles zu hören, was das Mendelssohn-Lied auszeichnet und seinen liedhistorischen Rang ausmacht. Vor allem ist das die singuläre Fähigkeit Mendelssohns, den Geist eines lyrischen Textes mit einer melodischen Linie musikalisch einzufangen die nicht wirkt, als sei sie der lyrischen Sprache konstruktiv abgewonnen, sondern so, als sei sie ihr gleichsam naturhaft entwachsen.


    Hier, bei diesem Lied, kann man das an vielen Stellen unmittelbar hörend erleben. Die melodische Linie auf dem Vers „Trüb ist mein Herz mir und schwer“ ist in ihrer bogenförmigen Anlage von geradezu volksliedhafter Einfachheit. Aber man meint, wenn man sie hört, dass dieser lyrische Vers gar keine andere musikalische Gestalt annehmen könne, als eben diese.


    Genauso ist das auch etwa mit der Unisono-Abwärtsbewegung der melodischen Linie bei dem Vers „Das bringt mir düstre Gedanken“. Sie geht, obgleich sie – oder vielleicht gerade deshalb? - von geradezu körperhaft schlichter musikalischer Struktur ist, unmittelbar unter die Haut. „Düstre Gedanken“ haben eben, so meint man, diese melodisch-musikalische Gestalt, - und keine andere.

  • Die von Dir zuletzt gestellte Frage ist ob der Auswahl in der Tat schwer zu beantworten.


    Wenn einer etwas für die Thematik des Liedes übrig hat, dann ist das "Hexenlied" sicher beeindruckend und gerade von der Begleitung her ziemlich "mendelssohnsig":


    Vielleicht kommst Du noch dazu, zu diesem Lied etwas zu schreiben?


    "Auf Flügeln des Gesanges" müsste wohl auch dabeisein...höre es gerade: Was für eine zartberührende Romantik!


    Aber es gibt ja noch so viele andere herrliche Lieder wie "Der Mond" oder das "Frühlingslied" (Durch den Wald den dunklen...) bei denen man sagen muss, das man all diejenigen, die diese Literatur nicht kennen nur zutiefst bedauern kann.... ;)


    Ich wollte hier übrigens zu den beiden Liedern "Hexenlied" und "Auf Flügeln des Gesanges" Youtube-Links mit Peter Schreier und Karl Engel einfügen. Schade, dass es nicht mehr möglich ist. Wen es interessiert, dem kann ich nur empfehlen, auf der genannten Plattform einmal selbst danach zu suchen und es sich anzuhören.



    :hello:


    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Vielen Dank für Deinen Beitrag, lieber Glockenton. Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich darüber freue. Diese Einsamkeit hier ist manchmal wirklich schwer auszuhalten.


    An die Lieder, die Du hier genannt hast, hatte ich auch gedacht. "Pagenlied" - und vor allem "Der Mond" gehören unbedingt zum "Muss" bei Mendelssohn. Ich habe sie ja, soweit ich sehe, alle besprochen, - bis auf das Hexenlied. Ich weiß nicht, ob ich noch dazu komme, denn ich wollte jetzt hier Schluss machen. (Aus den oben genannten Gründen). Nur noch ein Lied und eine Schlussbetrachtung habe ich noch vorgesehen.


    In einem möchte ich Dir ausdrücklich zustimmen: Für viele Lieder Mendelssohns ist die Bezeichnung "herrlich" die einzig angebrachte. Und wer sie nicht kennt, - dem ist etwas Wunderbares entgangen.

  • Das „Hexenlied“ („Andres Maienlied“, wie sein Obertitel lautet) auf ein Gedicht von Ludwig Hölty ist das achte von insgesamt zwölf Liedern von Mendelssohns Anfang Mai 1827 veröffentlichten Opus 8. Es ist das kompositorisch anspruchsvollste darin. Ein wahrlich mitreißender klanglich-rhythmischer Wirbelwind entfaltet sich hier, - eben ein Hexentanz auf dem Brocken. Das Lied steht im Sechsachteltakt und ist mit „Allegro vivace“ überschrieben.


    Die Schwalbe fliegt, der Frühling siegt
    Und spendet uns Blumen zum Kranze;
    Bald huschen wir leis aus der Tür
    Und fliegen zum prächtigen Tanze.
    Ein schwarzer Bock, ein Besenstock,
    Die Ofengabel, der Wocken
    Reißt uns geschwind, wie Blitz und Wind,
    Durch sausende Lüfte zum Brocken.


    Um Beelzebub tanzt unser Trupp
    Und küsst ihm die kralligen Hände!
    Ein Geisterschwarm fasst uns beim Arm
    Und schwinget im Tanze die Brände!
    Und Beelzebub verheißt dem Trupp
    Der Tanzenden Gaben auf Gaben:
    Sie sollen schön in Seide gehen
    Und Töpfe voll Goldes sich graben.


    Ein Feuerdrach umfliegt das Dach
    Und bringet uns Butter und Eier.
    Die Nachbarn dann sehn die Funken wehn,
    Und schlagen ein Kreuz vor dem Feuer.
    Die Schwalbe fliegt, der Frühling siegt,
    Die Blumen erblühen zum Kranze.
    Bald huschen wir leis aus der Tür
    Juchheissa zum prächtigen Tanze.


    In dem für Mendelssohn ungewöhnlich langen Klaviervorspiel (8 Takte) entfachen alternierende Sechzehntel in Bass und Diskant einen wahren Hexentanz, der am Ende in eine bogenförmige Klangfigur und nachfolgende Achtelakkorde mündet. Die Vokallinie setzt mit einem Vorhalt im letzten Takt des Vorspiels ein. Sie bewegt sich rasch, im Wechsel von Vierteln und Achteln. Kleine Melodiezeilen prägen sie: Die Verse wirken wie halbiert und die Hälften jeweils durch Pausen gerahmt. Das bringt rhythmisch akzentuiertes Tempo in das Lied.


    An manchen Stellen gipfelt die melodische Linie auf, - am Versende des zweiten und vierten Verses („Kranze“, „Tanze“). Meist aber verbleibt sie auf einer Tonebene. Ganz typisch für die Struktur ihrer Bewegung ist etwa die Stelle: „Ein schwarzer Bock…“. Diese Worte werden silbengetreu auf einem Ton deklamiert. Bei den Worten „Reißt und geschwind, wie Blitz und Wind…“ geht es dann aber rasant in die Höhe und gipfelt bei dem Wort „Brocken“ auf. Das dieses Verspaar der letzten Strophe wird wiederholt, und auf dem Wort „sausende“ liegt dann eine lange Dehnung in hoher Lage, fortissimo gesungen.


    Es handelt sich um ein variiertes Strophenlied. Die erste und die zweite Strophe sind in ihrer Faktur identisch. Vor der dritten Strophe erklingt eine Kurzfassung des Vorspiels. Danach weisen die melodische Linie und der Klaviersatz zunächst die Grundstruktur auf, die man vom Liedanfang kennt. Dann aber, bei den Frühlingsbildern („Die Schwalbe fliegt, der Frühling siegt…“) kommt ein lieblicher Ton in das Lied. Das wirbelnde Staccato der Klavierbegleitung wandelt sich zu dahinhuschenden Tremoli (Das Wort „huschen“ aus dem zweitletzten Vers musikalisch aufgreifend).


    Bei dem Wort „Juchheissa“ kommt es zu einer gewaltigen Aufgipfelung der melodischen Linie. Bei seiner Wiederholung wird dieses Wort fortissimo in Form eines weit in die Höhe ausgreifenden melodischen Bogens mit langer Dehnung gesungen. In leicht variierter Form erklingt am Ende des Lieds sein Vorspiel noch einmal.

  • Das „Hexenlied“ ist tatsächlich eine aus der Gesamtheit der Lieder des Opus 8 herausragendes Komposition. Insgesamt wird diese 1827 bei Schlesinger erschienene Liedergruppe in der Literatur über Mendelssohn in ihrer liedkompositorischen Qualität nicht so hoch eingeschätzt. Das ist wohl berechtigt.


    Mendelssohn versuchte in diesem Opus 8 ganz bewusst, einen volksliedhaft einfachen Ton zu wahren. Die Lieder sind zumeist als Strophenlieder mit einem wenig anspruchsvollen Klaviersatz komponiert. Bei dem wohl bekanntesten Lied, dem „Erntelied“ (op.8, Nr.4) ist das sehr deutlich zu hören. (Es ist ein Schnitter, der heißt Tod, / Hat Gewalt vom höchsten Gott…- Text eines alte Kirchenliedes).
    Hier scheint mir das aber sogar höchst sinnvoll zu sein. Die einfache Melodieführung mit dem zugrundeliegenden stark akkordisch gesprägten Klaviersatz gibt den Aussagen der einzelnen Verse eine gewisse elementare Direktheit und Wucht.


    Das Lied „Pilgerspruch“ ( „Lass dich nur nichts nicht dauern…“) stieß sogar auf die Kritik seiner Schwester Fanny. Sie bemängelte darin nicht sinnvoll eingesetzte Oktavparallelen. Hintergrund dieser „Einmischung“ in die Kompositionsarbeit des Bruders war in diesem Fall, dass sie selbst an diesem Opus 8 mit eigenen Liedern beteiligt war, - die freilich nicht unter ihrem Namen erschienen („Das Heimweh“, „Italien“ und das Duett „Suleika und Hatem“. Darauf wurde im Thread Fanny Mendelssohn-Hensel und ihre Lieder näher eigegangen. Dort findet sich auch eine Besprechung des Liedes Italien (Beitrag 119, vom 3. April 2012).

  • Bei diesem Lied auf ein Gedicht von Friedrich von Spee handelt es sich um die letzte Liedkomposition Mendelssohns. Es steht in F-Dur, weist einen Viervierteltakt auf und ist mit „Allegretto tranquillo“ überschrieben. Klanglich ist es stark geprägt von den perlend auf- und absteigenden Sechzehnteln im Klavierdiskant, mit denen Mendelssohn wohl die Lebhaftigkeit und Beweglichkeit der lyrischen Bilder aufgreift.


    Der trübe Winter ist vorbei,
    Die Schwalben wiederkehren;
    Nun regt sich alles wieder neu,
    Die Quellen sich vermehren.


    Laub allgemach nun schleicht an Tag,
    die Blümlein nun sich melden;
    Wie Schlänglein krumm gehen lächelnd um
    Die Bächlein kühl in Wäldern.


    Wo man nur schaut, fast alle Welt
    Zur Freuden tut sich rüsten;
    Zum Scherzen alles ist gestellt,
    Schwebt alles fast in Lüsten.


    Nur ich allein, ich leide Pein,
    Ohn Ende werd ich leiden:
    Seit du von mir und ich von dir,
    O Liebste, musste scheiden.


    Es handelt sich um ein Doppel-Strophenlied: Je zwei Strophen sind zu einer musikalischen Einheit zusammengefasst, deren Faktur sich dann bei Strophe drei und vier wiederholt. Die melodische Linie setzt mit einer aufsteigenden Bewegung recht beschwingt ein. In Form von Achteln beschreibt sie beim ersten Vers einen Bogen, der mit dem zweiten Vers dann in ein ruhiges, melodisches Schweben übergeht. Das ist ein typisches klangliches und rhythmisches Merkmal dieses Liedes, - dieses Nebeneinander von Ruhe und Bewegung.


    Wesentlich trägt zu diesem Eindruck bei, dass immer wieder kleine Pausen in die Bewegung der melodischen Linie eintreten, so dass einzelne Bilder wie klangliche Inseln besonders hervortreten: Die Wortgruppen „Laub allgemach“,Wie Schlänglein krumm/ gehen lächelnd um“ seien als Beispiele dafür genannt.


    Bei dem Vers „Die Bächlein kühl in Wäldern“ gewinnt die Vokallinie eine starke Emphase. Langsam, dieses Mal nicht mehr in Form von Achteln, sondern im Wert von Viertelnoten, steigt sie in syllabisch exakter Deklamation von einem hohen „f“ herab zu einem „c“. Dort, bei dem Wort „kühl“, verharrt sie zunächst und setzt dann, nach einem kleinen Achtel-Melisma, due Bewegung nach unten weiter fort, - nun noch langsamer, in Form von halben Noten nämlich.


    Nach einem Zwischenspiel von aus dem Bass in den Diskant aufsteigenden Sechzehnteln wird dieser Vers noch einmal wiederholt: Dieses Mal in Form eines melodischen Bogens mit Dehnung auf dem Wort „Wäldern“, zu dem die Vokallinie in raschen Schritten (Achteln) emporsteigt.


    Die starke Expressivität der melodischen Linie und des Klaviersatzes am Ende der Doppelstrophe bekommt, wie man bei Hören empfindet, ihren kompositorischen Sinn eigentlich erst richtig mit den Schlussversen des Gedichts: „Seit du von mir und ich von dir, / O Liebste, musste scheiden.“ Das Wort „scheiden“ bekommt zweimal einen starken musikalischen Akzent. Einmal dadurch, dass die melodische Linie auf diesem Wort anhält und lange verharrt. Dann, im Wiederholungsfall, durch den melodischen Bogen, mit dem die Vokallinie schließlich endet, - von in die Tiefe stürzenden Sechzehnteln im Klavier gefolgt.

  • Dieses letzte Lied entstand am 7. Oktober 1847. Mendelssohn bezeichnete seine Stimmung damals als „grau in grau“. Der Tod seiner Schwester Fanny, die am 14. Mai dieses Jahres verstorben war, hatte ihn schwer erschüttert. Als er in Frankfurt von ihm erfuhr, war er mit einem Schrei ohnmächtig zu Boden gesunken. Mit einer Reise in die Schweiz versuchte er wieder innere Ruhe zu finden, was nicht wirklich gelang. Als er, nachdem er seine Arbeit in Leipzig wieder aufgenommen hatte, Ende September nach Berlin kam und Fannys völlig unberührtes Zimmer sah, verlor er die Fassung.


    Nur mit großer innerer Anstrengung vermochte er sich auf die Herausgabe seiner „Sechs Lieder op.71“ zu konzentrieren. Für dieses Opus war auch das Lied „Altdeutsches Frühlingslied“ vorgesehen, aber er schied es dann doch aus. Es erschien dann posthum als op.86, Nr.6.


    Mit der Sängerin Livia Frege ging er am 9. Oktober alle Lieder des Opus 71 durch. Bis auf das zweite („Frühlingslied“) empfand sie alle Lieder als tief melancholisch. Mendelssohn seinerseits meinte: „Ernsthaft sieht das ganze Buch aus, es mag so in die Welt gehen.“
    Nachdem er alle Lieder durchgespielt hatte, erlitt er einen Schlaganfall. Zwar besserte sich sein Zustand in der Woche darauf ein wenig, aber nach zwei weiteren Schlaganfällen starb er am 4. November 1847.


    Zu den „Sechs Liedern op.71“ gehört auch das oben (Beitrag 47) besprochene „Nachtlied“ auf ein Gedicht von Eichendorff. Als ich mich damit beschäftigte und die Liedbesprechung verfasste, waren mir die hier dargestellten zusammenhänge nicht bewusst. Jetzt, im nachhinein, lese ich die Verse der zweiten Strophe ein wenig anders:


    Wo ist nun hin die bunte Lust,
    Des Freundes Trost und treue Brust,
    Der Liebsten süßer Augenschein?
    Wir keiner mit mir munter sein?

  • Die ganze Zeit über, während ich mich mit den Liedern Felix Mendelssohns beschäftigte, sie nicht nur genauer betrachtete, sondern auch hörend genoss, hatte ich diesen Satz des von mir so sehr geschätzten, um nicht zu sagen bewunderten, und inzwischen nun leider verstorbenen Dietrich Fischer-Dieskau im Ohr: „Kraft, Originalität oder Kompliziertheit sind nicht spezifische Kennzeichen der Lieder (Felix Mendelssohns)“.

    Jetzt, nach dieser Phase einer wirklich intensiven rezeptiven und gedanklich reflexiven Auseinandersetzung mit der Liedkunst Felix Mendelsohns, glaube ich mir die Feststellung erlauben zu dürfen, dass Fischer-Dieskau hier ein Fehlurteil unterlaufen ist. Was mit dem Begriff „Kraft“ gemeint sein mag, ist nicht ganz ersichtlich. Sollte dieser Begriff – ähnlich wie das folgende „Originalität“ – auf das kreative Potential abheben, das in den Liedern Mendelssohns zutage tritt, so wäre er unangebracht. Alle hier besprochenen Lieder sind – aus meiner Sicht – voll überzeugende Belege für die kompositorische Kreativität des Liedkomponisten Mendelssohn.


    Der Begriff „Kompliziertheit“ ist als Kategorie für die Beurteilung der Liedkunst Mendelssohns denkbar ungeeignet. Denn er beinhaltet musikstrukturell genau das, was dieser Komponist nicht wollte: Eine Komplexität der musikalischen Faktur, die das Lied dessen beraubt, was sein zentraler Wesenskern ist. Und das ist die Melodie.


    Wenn man die Erfahrung, die man in der hörenden und reflektierenden Auseinandersetzung mit dem Liedwerk Mendelssohns macht, auf einen Nenner bringen sollte, so wäre es dieser:


    Bei ihm begegnet man einem Komponisten, der auf wahrlich singuläre Weise eine Synthese zwischen der Musikalisierung des Kunstliedes und der Bewahrung seines liedhaften, nämlich in der Melodie wurzelnden, Wesenskerns zustande gebracht hat. Diese kompositorische „Leistung“ Mendelssohns scheint mir bislang viel zu wenig gewürdigt worden zu sein. In der Literatur über sein Liedwerk ist mir dieser Aspekt jedenfalls nicht begegnet.


    Die Wurzel dieser ganz spezifischen - und liedhistorisch bedeutsamen – Eigenart des Mendelssohn-Liedes liegt wohl in seinem Grundverständnis von Musik und dem ihr eigenen expressiven Potential. Auf die Frage (von Marc André Souchay an ihn gerichtet), was er sich denn bei den „Liedern ohne Worte“ gedacht habe, antwortet Mendelssohn:


    „Fragen Sie mich, was ich mir dabei gedacht habe, so sage ich: gerade das Lied wie es dasteht. Und habe ich bei dem einen oder andern ein bestimmtes Wort oder bestimmte Worte im Sinne gehabt, so mag ich die doch keinem Menschen aussprechen, weil das Wort dem Einen nicht heißt, was es dem Andern heißt, weil nur das Lied dem Einen dasselbe sagen, dasselbe Gefühl in ihm erwecken kann, wie im Andern, - ein Gefühl, das sich aber nicht durch dieselben Worte ausspricht.“

    Obgleich sich diese Äußerungen Mendelssohns zunächst einmal auf die Lieder „ohne Worte“ beziehen, sagen sie auf den zweiten Blick etwas sehr Wesentliches über seine Lieder „mit Worten“ aus. Was zunächst einmal problematisch erscheint, der „Vieldeutigkeit“ des Wortes die „Eindeutigkeit“ der Musik entgegenzusetzen nämlich, erschließt sich bei der genaueren Betrachtung seiner Lieder in ihrem tieferen Sinn.


    Das Wort, und hier ist natürlich das lyrische Wort gemeint, ist in der Tat ja von seiner Polyfunktionalität her „vieldeutig“. Mendelssohn sieht aber seine Aufgabe als Liedkomponist darin, diese „Vieldeutigkeit“ mit dem Instrumentarium der Musik in eine für alle Menschen gleichermaßen verstehbare künstlerische Aussage umzuwandeln. Er kann dieses aber nur wollen können, wenn er an die Fähigkeit und Kraft der Musik glaubt, das evokative Potential des lyrischen Wortes auffangen und gleichsam auf einen expressiven Nenner bringen zu können.


    Ich meine, dass dies die Erklärung für die ganz spezifische Eigenart des Mendelssohn-Liedes ist: Die Aussage des lyrischen Textes allein mit dem expressiven Potential der Melodie einzufangen und in musikalische Aussage zu verwandeln, ohne dass dabei, wie bei Schubert oder Schumann etwa, das Klavier in der Rolle eines eigenständigen Partners hinzugenommen werden muss.


    Man hat dies als ein „Schwäche“ des Mendelssohn-Liedes gesehen. Als eine Art „Zurückbleiben“ hinter dem, was sein Zeitgenosse Robert Schumann in der Ausschöpfung der Komplementarität von Melodik und Klaviersatz liedkompositorisch zukunftsweisend zustande gebracht hat. Ich gestehe gerne, dass ich dies lange auch so gesehen habe. Und rein liedhistorisch betrachtet ist da auch sogar etwas dran.


    Der klangliche Zauber so vieler Lieder Mendelssohns bleibt davon freilich ganz und gar unberührt. Das habe ich mir beim Hören derselben sagen lassen. Und ich habe es gerne aufgenommen.

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • Ein zweiter Gedanke hat mich noch begleitet, derweilen ich an diesem Thread arbeitete, - eine Frage nämlich. Sie war nicht von Anfang an da, so wie dieses Zitat von Fischer-Dieskau, kam erst im Laufe der Zeit auf, verdichtete sich aber, wurde drängend:
    Warum ist das Echo auf die Lieder Mendelssohns so gering?
    Nur drei Beiträge gab es von anderer Seite. Ansonsten blieb die Beschäftigung mit dem Liedwerk Mendelssohns ein monologisches Unterfangen.


    Dabei sind viele seiner Lieder von faszinierender Schönheit, klanglich und melodisch. „Neue Liebe“ etwa, „Auf Flügeln des Gesanges“, das „Frühlingslied“ auf ein Gedicht von Lenau (Durch den Wald, den dunkeln, / Geht holde Frühlingsmorgenstunde“), „An die Entfernte“ oder „Auf der Wanderschaft“(Lenau). Ein Lied wie „Gruß“ („Leise zieht durch mein Gemüt…“) schlägt durch die volksliedhafte Schlichtheit seiner Melodik und Harmonik unmittelbar in Bann, und das als erstes Lied hier besprochene „Frühlingslied“ auf einen Text von Klingemann reißt einen durch seinen großartigen melodischen und rhythmischen und melodischen Schwung regelrecht mit.


    Sind, so habe ich mich gefragt, alle diese Lieder wirklich so wenig bekannt, dass keine(r) in dem Augenblick, wo ihr Titel genannt und etwas zu ihnen gesagt wird, sich angesprochen fühlt? Haftet Mendelssohn als Liedkomponist vielleicht doch immer noch der Ruf an, zwar hübsche, aber letzten Endes wenig bedeutsame, weil liedkompositorisch nicht zukunftsweisende Lieder geschrieben zu haben?


    Dann wäre jenes „Image“, für das Richard Wagner letzten Endes verantwortlich zeichnet, Mendelssohn sei mit seiner gefällig eleganten, aber letztlich oberflächlichen Musik nicht mehr als ein „schöner Zwischenfall“ in der Musik des 19, Jahrhunderts, immer noch wirksam. Eigentlich kann das doch nicht sein.


    Leon Botstein hat in den neunziger Jahren den Stand der Mendelssohn-Forschung und –diskussion in gültiger Weise so zusammengefasst: „An aesthetic of creative restoration; a search for historic models; a backward glance tempered by a modern taste fort he subjective, emotional, poetic voice of romanticism.“


    Auf meine Frage habe ich keine Antwort gefunden. Es sei denn, sie ist woanders zu suchen: In der Art und Weise meiner Präsentation dieser Lieder.

  • Lieber Helmut,


    zunächst glaube ich nicht davon ausgehen zu können, dass die Beteiligungshäufigkeit zu diesem Thema in einem Internetforum wie unserem immer als repräsentativ oder symptomatisch angesehen werden kann.
    Wenn es denn tatsächlich so sein sollte, dass sich draussen "im wirklichen Leben" kaum einer für Mendelssohns-Lieder interessieren sollte, so könnte ich es angesichts deren Qualität und Schönheit überhaupt nicht verstehen.
    Mir bedeuten diese Lieder sehr viel.


    An Deiner Präsentation sehe ich eigentlich keinen Ansatz für eine grundsätzliche Kritik, sondern ich könnte im Gegenteil viel Positives erwähnen.
    Das liegt wohl auch daran, dass ich viele der von Dir besprochenen Lieder im Kopf habe, so manches davon auch schon selbst aufführte.
    Wenn ich also Deine Besprechungen lese, so höre ich gleichzeitig diese Musik und stimme Deinen Bemerkungen meistens zu.
    Manchmal hätte ich noch gerne etwas ergänzt, aber es fehlte mir einfach die Zeit, mich entsprechend seriös mit den Inhalten auseinanderzusetzen.


    Was aber, wenn man die Musik nun nicht kennt?


    Hier ein Beispiel vom "Mond":

    Aber nicht nur die rein sprachliche Struktur wird abgebildet, sondern auch die lyrische Aussage wird in Musik umgesetzt und zum Ausdruck gebracht. Das hohe „e“ auf dem Wort „Nacht“ wirkt klanglich strahlend: „Nacht“ ist das Zentrum der lyrischen Aussage des ersten Verses. Die nachfolgende Liedzeile, die auf dem zweiten Vers, wirkt nun im Gegensatz zur ersten nicht schwungvoll aufsteigend, sondern klanglich schwebend: Die melodische Linie bewegt sich auf einer Tonebene: Das gleichförmige, lautlich undefiníerte Rauschen der Wipfel ist zu Musik geworden. Und es ist eine beschwingte Musik, denn das Herz des lyrischen Ichs ist beschwingt.

    Was Du schreibst, ist ganz hervorragend, ich bin einverstanden und verstehe genau, was Du meinst.
    Wenn man das aber nicht kennt, dann wird die Literatur dieser Analyse schnell uninteressant.
    Nun ist es ja so, dass Musik Leben und Bewegung ist, sowohl innerlich als auch äusserlich.
    Wenn man versucht, diese Dinge zu verbalisieren/analysieren und genau dieses lebendige musikalische Element beim Leser, der diese Musik nicht gleichzeitig in sich oder über seine Anlage hört, fehlt, dann bleiben von der Verbalisierung hochemotionaler musikalischer Bewegungen mitunter nur verhältnismässig trockene Buchstaben übrig.
    Manchem Leser meiner jetzt schon wieder älteren Bachbeiträge mag es genau so gehen, wenn er die Musik nicht gleichzeitig kennt.
    Das spricht aber doch weder gegen die Musik der jeweiligen Komponisten, noch zwangsläufig gegen die Art und Weise, wie hier auf Tamino darüber geschrieben wird, sondern hinterlässt beim Leser, der Zeit und Interesse dafür hat, im günstigen Fall die dringende Empfehlung, sich mit diesen Kunstwerken, die ja nichts anderes als ein konzentrierter Ausdruck unterschiedlicher Facetten des Lebens darstellen, einmal näher auseinanderzusetzen.
    Schlecht wäre es, wenn es abschreckend wirkt, was ich aber eher nicht annehme.


    Ich habe neulich versucht, zu Deinem Thread mit Hilfe der Youtube-Schaltfläche einige Beispiele mit den Herren Schreier und Engel einzufügen, was leider - wohl aus rechtlichen oder sonstigen Gründen- nicht funktionierte.
    Die Möglichkeit, zum Geschriebenen gleichzeitig auch die passende Musik auf eine technisch bequeme Art und Weise zu hören, würde die Attraktivität mancher Threads und wohl auch des Forums insgesamt sicher deutlich erhöhen. Nun gibt es aber auch das Urheberrecht..... ;)


    So verbleibt uns nur den Lesern, die mehr oder weniger zufällig auf solche Threads wie diesen klicken, zu ermutigen, sich mit dieser herrlichen Musik bekanntzumachen.
    Sollte ich wieder einmal einige Mendelssohn-Lieder aufführen, so werde ich sicher als Ergänzung zu meinen eigenen Interpretationsüberlegungen auch hier nachschauen, um so viel Input und Ideen wie möglich zu einem bestimmten Lied in mich aufzunehmen.


    Der Sinn Deiner Arbeit hier kann also auch sein, dass sich Musiker, die in die Lage kommen, Mendelssohns Lieder aufführen zu sollen/wollen hier zusätzliche Informationen und Anregungen holen....also im bibliothekarischen Sinne des "Wissenspeichers".
    Das ist doch schon viel, oder?


    Deshalb: Vielen Dank für Deine Beiträge zu den Liedern Mendelssohns! Es ist ja nichts vergeblich, und es geht auch nichts verloren!


    :hello:


    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Wenn Du sagst, lieber Glockenton:


    "Wenn man versucht, diese Dinge zu verbalisieren/analysieren und genau dieses lebendige musikalische Element beim Leser, der diese Musik nicht gleichzeitig in sich oder über seine Anlage hört, fehlt, dann bleiben von der Verbalisierung hochemotionaler musikalischer Bewegungen mitunter nur verhältnismässig trockene Buchstaben übrig. "


    ... dann hast Du das zentrale Problem angesprochen, das mich - meine Betätigung hier im Forum betreffend - schon lange umtreibt. Es ist ganz wesentlich damit verbunden, dass ich mich nicht damit zufriedengeben mag, ein Lied in nur sprachlich allgemeiner Weise zu qualifizieren, sondern mich verpflichtet fühle, mein Urteil auf eine Interpretation und detaillierte Beschreibung der Faktur und ihrer klanglichen Wirkung zu stützen. Das hat aber zur Folge, dass man sich auf eine abstrakte Ebene begeben muss und die Ebene der Sinnlichkeit, die ja nun für Musik eine höchst relevante, ja fundamentale ist, nicht die ihr gebührende Berücksichtigung findet.


    Wenn es dabei um allseits bekannte Lieder geht, mag sich dieser Anstraktionsprozess nicht allzu negative auswirken, - vielleicht eher sogar zu einer Vertiefung des Verständisses führen (was meine Hoffnung ist). Lässt man sich aber mit dieser Methode der Liedbesprechung auf Lieder ein, die der Leser nicht kennt, dann muss ihr Resultat mit einer gewissen Notwendigkeit unverständlich bleiben, - es sei denn, der Leser lässt sich auf einen hörenden Nachvollzug dessen ein, was da geschrieben steht.


    Im Augenblick bleibt mir nur dieser winzige gedankliche Funke des "es sei denn...". Ich hänge meine Hoffnung dran.


    Für Deinen Kommentar zu meiner Betätigung hier in diesem Thread möchte ich mich ganz herzlich bedanken.

  • Vielen Dank für diese wunderbare und einsichtsvolle Besprechung Mendelssohns Liederschaffens!


    Einige Lieder verdienten es vielleicht noch erwähnt zu werden. Zunächst einmal das bekannte Winterlied aus Op. 19, das mich immer tief berührt, wenn ich es höre, aber auch "Der Verlassene" sollte hier genannt werden. Mendelssohn schrieb dieses Lied mit 12 Jahren und es klingt - ich denke ich übertreibe hier kaum - als käme aus Schuberts "Schwanengesang". Von diesem Lied gibt es nicht allzu viele Aufnahmen - meine stammt aus der Gesamtausgabe der Mendelssohnlieder, die über die letzten 10 Jahre bei Hyperion erschienen ist. Einige Jahre hat Mendelssohn das Lied sehr zu seinem Nachteil verschlimmbessert (ist in Folge 4 besagter Reihe zu hören). Ganz fantastisch finde ich auch das kurze aber feine "Ich hör ein Vöglein" oder "Des Mädchens Klage".


    Bei den empfehlenswerten Aufnahmen müsste man auch noch die Aufnahme von Janet Baker aus 1980 anführen. Das "Nachtlied" dauert in ihrer Interpretation über 4 Minuten (!). Da ist Mahler dann nicht mehr fern.

  • Danke, lieber Felix Meritis, für diese ergänzenden Hinweise auf Mendelssohns Liedschaffen. Zwei von den erwähnten Liedern hatte ich auch auf meiner Liste der hier zu besprechenden Lieder, und zwar das "Winterlied" (op.19a, Nr.3) und "Des Mädchens Klage" auf ein Gedicht von Schiller ("Der Eichwald brauset, die Wolken ziehn..."). Aber ich musste eine Auswahl treffen, weil ich die Besprechung nicht ins Uferlose ausweiten wollte.


    Diese Auswahl hat sich ohnehin als recht schwierig herausgestellt, da die meisten Mendelssohn-Lieder auf ihre jeweils ganz eigene Art faszinierende melodische Schöpfungen sind. Das Lied "Der Verlassene", das Mendessohn 1821 auf den Text eines unbekannten Verfassers komponierte, ist in der Tat ein jugendlicher Geniestreich. Das Lied besticht durch seine modulationsreichen Klavierarpeggien, in die sich eine wehmütig fallende, zwischen Dur- und Moll-Harmonisierung hin und her pendelnde melodische Linie einlagert.

  • Ich möchte hier noch kurz auf eine Ihrer obigen Beobachtungen, nämlich dass Mendelssohns Liedschaffen auf wenig Resonanz stößt, eingehen. Im Wesentlichen trifft das ja auf das gesamte Werk Mendelssohns zu und ist seiner kreativen Grundeinstellung begründet, die im Laufe des 19.ten Jahrhunderts immer mehr in Verruf geraten ist. Mendelssohn verweigerte sich nämlich stets jeglichem Geniekult und war auch der Aufladung von Musik mit weltanschaulichen oder metaphysischen Inhalten vollkommen abhold. Mendelssohns Musik richtet sich immer an die Menschen und wurde geschrieben um aufgeführt zu werden. Esoterisches kommt bei ihm höchstens in einigen Frühwerken vor. Sehr erfolgreich waren bekannterweise seine Chorlieder ("im Freien zu singen"), die von hunderten, ja Tausenden, Menschen bei "conventions" gesungen wurden. Kurz gesagt, Mendelssohns Musik steht im Dienste des Menschen und Gottes (er war ja sehr religiös) und ist keine Ersatzreligion - wie das teilweise schon bei Beethoven und ganz eindeutig bei Wagner der Fall ist. Mendelssohns Grundverständnis von Kunst war aber im 19.ten Jahrhundert "out" und kann eher dem Zeitalter der Aufklärung zugerechnet werden. Mendelssohns familiärer Background und seine jüdische Herkunft hätten eine typische romantische Komponistenkarriere auch sehr schwierig gemacht.


    Vielleicht werde ich zu diesem Thema demnächst in einem eigenen Thread mehr schreiben.

  • Der Begriff "Resonanz" war - so, wie ich ihn benutzt hatte - eigentlich auf den engen Raum der Betätigung in diesem Thread bezogen. Aber man kann daraus natürlich durchaus Rückschlüsse auf den allgemeinen Bekanntheitsgrad der Lieder Mendelssohns ziehen. Der dürfte, was die ganze Breite seines diesbezüglichen Schaffens anbelangt, auch heute noch nicht sehr groß sein.


    Als 1970 die LP-Kassette mit 40 Liedern Mendelssohns bei EMi erschien, interpretiert von D. Fischer-Dieskau und Wolfgang Sawallisch, trug das Begleitheft die überaus aufschlussreiche Überschrift: "Mendelssohns Liedschaffen - Eine Entdeckung". Und gleich am Anfang findet sich die gleichsam abwehrende Feststellung: "Man hat es sich zu leicht gemacht, ihn und sein Werk zu beurteilen. Die Rede von einer gewissen Glätte und Unverbindlichkeit ist allenfalls durch die Art zu verstehen, wie seine Musik in Salons des 19. Jahrhunderts >gepflegt< wurde."

  • Was in den LP- und CD-Begleittexten bis vor wenigen Jahren über Mendelssohns Werke stand geht auf keine Kuhhaut. Auch Mendelssohnbiographen, wie der von Ihnen zitierte Werner haben sich einiges geleistet. Manche sind aber auch lernfähig wie etwa Hans-Christian Worbs. Seine Wandlung in puncto Mendelssohnlieder möchte ich Ihnen nicht vorenthalten.


    Zu "Das erste Veilchen" aus Opus 19:


    Hans-Christoph Worbs, "Mendelssohn-Bartholdy" (rororo bild monographien). Erschienen 1974: "Demgegenüber antwortete Mendelssohn bei der Vertonung von Egon Eberts "Das erste Veilchen" bei der ersten Melodiephrase mit gespreizter Volkstümlichkeit auf eine Dichtung verschlissener romantischer Versatzstücke" (S.115)


    Im Begleittext zur im Jahre 1990 erschienen Mendelssohnlieder CD von Protschka und Deutsch schreibt Worbs schon etwas anders: "Eine freiere Tongebung zeigt demgegenüber etwa das Lied "Das erste Veilchen", indem der Moll-Mittelteil von einer 13- und neuntaktigen Strophe umschlossen wird. Schlichtheit verbindet sich mit Raffinement".



    Sic transit gloria mundi!

  • Zit:"Was in den LP- und CD-Begleittexten bis vor wenigen Jahren über Mendelssohns Werke stand geht , auf keine Kuhhaut."

    Ich bitte zu beachten:
    Das von mir gebrachte Zitat aus dem Begleitheft zur EMI Lp-Kassette reflektiert die Auseinandersetzung mit dem Mendelssohn-Bild in Sachen Liedkomposition zu der Zeit, als diese Interpretation auf den Markt kam. Ich neige nicht dazu, die Verfasser von "Booklets" allesamt als musikwissenschaftliche Ignoranten abzuqualifizieren. Das sind sie nämlich in vielen Fällen keineswegs! Ich habe - eben aus diesen "Begleittexten" - eine ganze Menge Hilfreiches über Mendelssohns Liedschaffen erfahren.


    In dem "Begleitheft" , aus dem ich zitierte, findet sich zum Beispiel ein Satz wie dieser: "Wer weiß schon, daß Mendelssohn eine komplexe Persönlichkeit war, deren innere Spannungen nur nicht so oft nach außen in Erscheinung traten". Das Mendelssohn-Bild des neunzehnten und (anfänglich) zwanzigsten Jahrhunderts hat diesen Sachverhalt nicht genügend gewürdigt und gar nicht wahrgeommen, in welcher Form er sich in seiner Musik niederschlug.


    Auch in seinen Liedern ist das zu hören. Man muss sie sich nur darauf hin einmal aufmerksam anhören.

  • Ich meinte natürlich nicht, dass alle Begleittextautoren Ignoranten seien. Aber es ist wohl nicht zu leugnen, dass es den wenigsten Menschen, also auch Musikwissenschaftlern, gegeben ist, unabhängig und eigenständig zu denken. Und wenn es "common sense" ist, dass Mendelssohn nur als Talent geendet hat und oberflächliches Zeug komponiert hat, dann steht das auch in der Mehrzahl der publizierten Texte drinnen (bis vor ca. 15 Jahren). Jetzt findet sich im mindestens jeden zweiten Begleittext das Bedauern, dass Mendelssohn maßlos unterschätzt sei. Inzwischen ist das aber gar nicht mehr wirklich so.

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose