Ist Tschaikowsky außer Mode ?

  • Ja..., irgendwie....
    Ich mag Tchaikovsky wirklich sehr und habe echt gezuckt, zu lesen, dass man das Violinkonzert nicht mögen kann. ABer es stimmt schon, wenn man z.B. die 5. zu oft hört, funktioniert sie nicht mehr. War mir nie so bewußt, und ist auch bei anderen Stücken nicht so. Tatsächlich, da stimmt was nicht!
    :thumbup:
    Klaus

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

  • Also ich halte die Fünfte nach wie vor ein Hammerwerk, da hat sich nichts geändert.
    Daß ich sie mir deswegen nicht tagtäglich anhöre, ist eine andere Sache. Aber das gilt für jede andere Symphonie genauso.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Ich liebe dieses WERk. Aber ich finde, es ist wirklich anders als bei anderen Werken, es verbraucht sich schneller. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass die emotionalen Effekte so stark sind, dass man sich irgendwann dagegen wappnet.


    (Bald höre ich sie wieder mal)
    Klaus

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

  • Du hast sie mit Bernstein, oder? Vielleicht darf ich dir Mrawinskij (engl. Mravinsky) als krassen Gegenentwurf empfehlen? Das offenbart ganz andere Seiten des vermeintlich schon bekannten Werkes. ;)

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Ja, habe ich, aber meine Lieblingsaufnahme ist Baltimore Symphony Orchestra mit David Zinman. Billigangebot bei 2001 "everybody´s Tchaikovsky".


    Genau so will ich es haben. Gerade am Ende hauen die mehr rein als bei Bernstein.


    Aber danke für den Tipp.
    Klaus

    ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht.

  • Hallo Johann,


    das Capriccio und 1812 haben mich nicht einmal in der Jugend begeistert, für mich war das gehobene Unterhaltungsmusik, das Violinkonzert dagegen sehr.
    Die erste Platte mit Nathan Milstein, mitreißend.


    Die Sinfonien habe ich seit Jahrzehnten nicht mehr gehört, weiß nicht warum, muß meinen Psychiater mal fragen.


    Da bleibt aber immer noch E.T.A. Hoffmann und ich denke keiner wie Tjajkovskij und Jaques Offenbach konnten diese Märchenstimmung so treffend vertonen.

  • Aus aktuellem Anlass, gestern kam im TV eine Übertragung von Tschaikowskys 3. Sinfonie unter Gergiev, die ich mir angesehen habe.
    Nun, ich muss sagen, dass mir das, bis auf ein paar Momente am Ende, irritierend wenig gesagt hat. Dafür kann es sicherlich mehrere Gründe geben...beim Ersten Mal muss man ja auch nicht alles gut finden, vielleicht war ich nicht in Stimmung, vielleicht lag's an der Interpretation, who knows.


    Vor einiger Zeit habe ich in einem Ausverkauf einen Stapel Schallplatten gekauft (für je 50Cent), darunter auch zwei mit Werken von Tschaikowsky, einmal die 6.Sinfonie unter Abbado und eine russische Platte, habe ich zuerst nur an dem Bild vorne drauf erkannt, dass es sich um Tschaikowsky handelt, weil überall nur Kyrillisch stand...ganz klein aber auch Latein, es sind zwei sinfonische Dichtungen (Francesca da Rimini und Hamlet) unter Svetlanov. Ersteres hat mich beim Hören auch wenig begeistert, Zweiteres dagegen schon etwas mehr.


    Außerdem habe ich noch zwei CDs...das Klavierkonzert Nr. 1 (der Gassenhauer!), dass mir sehr gefällt und eine mit dem Violinkonzert (auch mein Geschmack). Zusätzlich da drauf ist ein Stück, das mich bisher am meisten begeistert hat, Serenade für Streichorchester, besonders die erste 1Minute40 des drittens Satzes (das Thema kehrt am Ende des Satzes nochmal zurück)...das ist so Musik, die ich mit Schönheit verbinde, jedenfalls was ich darunter verstehe (siehe meinen Beitrag im Thread "Was heißt für euch 'schön') Das ist Musik, die tut mir weh, aber auf eine positive Art und Weise.
    Dies nun dirigiert von Bernstein (mit NYPO).


    So weit ich hier gelesen habe, gibt es da so eine Skala für Tschaikowsky-Interpretation an deren einem Ende Bernstein liegt, Svetlanov dagegen liegt ziemlich weit auf der anderen Seite. Kann ich jetzt davon ausgehen, dass die anderen Werke, die ich von Tschaikowsky bisher gehört habe, deswegen keinen Eindruck auf mich machen, weil ich als Hörer der Bernstein-Seite der Skala hinzueigne?

    "Die Glücklichen sind neugierig."
    (Friedrich Nietzsche)

  • Zitat

    Deine Vorliebe , lieber Milletre sei Dir unbenommen, aber das ist genau das Werk, das ich von Tschaikowsky am wenigsten schätze. :evil: Diesen Edelkitsch kann ich einfach nicht hören. Da bekomme ich vor lauter Romatikgedudel Zahnschmerzen :stumm:


    "Edelkitsch" und "Romantikgedudel" sind aber schon sehr heftig. Hanslick läßt schön grüßen!

    Arrestati, sei bello! - (Verweile, Augenblick, du bist so schön!)

  • Aus aktuellem Anlass, gestern kam im TV eine Übertragung von Tschaikowskys 3. Sinfonie unter Gergiev, die ich mir angesehen habe.
    Nun, ich muss sagen, dass mir das, bis auf ein paar Momente am Ende, irritierend wenig gesagt hat. Dafür kann es sicherlich mehrere Gründe geben...beim Ersten Mal muss man ja auch nicht alles gut finden, vielleicht war ich nicht in Stimmung, vielleicht lag's an der Interpretation, who knows.

    Die dritte Sinfonie ist ein ziemlich ungewöhnliches, eher untypisches und selten gespieltes Werk.



    Zitat

    So weit ich hier gelesen habe, gibt es da so eine Skala für Tschaikowsky-Interpretation an deren einem Ende Bernstein liegt, Svetlanov dagegen liegt ziemlich weit auf der anderen Seite. Kann ich jetzt davon ausgehen, dass die anderen Werke, die ich von Tschaikowsky bisher gehört habe, deswegen keinen Eindruck auf mich machen, weil ich als Hörer der Bernstein-Seite der Skala hinzueigne?

    Svetlanov läge eher in der Mitte.


    Wie auch immer, ich halte es bei fast allen Instrumentalwerken für sehr unwahrscheinlich, dass für den Hörer, besonders für einen relativen Neuling, es von der Interpretation abhängt, ob ihm das Stück zusagt oder nicht. Bei Stimmen kann einem das timbre evtl. mal einfach nicht gefallen und als Anfänger achtet man nicht auf Nuancen, die einen später dazu bringen könnten, eine Interpretation dennoch zu schätzen.
    Die Attraktivität der meisten Stücke von Tschaikowsky liegt ziemlich nahe an der Oberfläche (was nicht heißen soll, dass sie oberflächlich wäre): schmalzige einprägsame Melodien, farbige Instrumentation, starke Emotionalität usw. Diese Merkmale sind für Interpreten und Hörer schwer zu verpassen, obwohl man sie natürlich in unterschiedlicher Weise herausbringen kann. Stelle die 3. Sinfonie ein wenig zurück und höre Dir die bekanntesten, 4-6, und evtl. auch die 1. an. Und die Ballette. Wenn Dir die berühmten Konzerte und die Serenade gefallen, dürften Dir die auch zusagen.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Die Sinfonien habe ich seit Jahrzehnten nicht mehr gehört, weiß nicht warum, muß meinen Psychiater mal fragen


    Lieber Hans,


    ein Psychater kann Dir nicht helfen. Beschaff Dir die Sinfonien, spitz die Ohren und freue Dich daß es Tschaikowski gibt.


    La Roche

    Ich streite für die Schönheit und den edlen Anstand des Theaters. Mit dieser Parole im Herzen leb' ich mein Leben für das Theater, und ich werde weiterleben in den Annalen seiner Geschichte!

    Zitat des Theaterdirektors La Roche aus Capriccio von Richard Strauss.

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  • Aufführungsstatistik der Pathétique

    Zu diesem Thema las ich dieser Tage ein interessantes Statement von jemandem, der Tschaikowski seit den 1950er Jahren hört, das ich sinngemäß zitiere (es ging konkret um die 4. Symphonie):


    "Ein höchst unterschätztes Meisterwerk – das heißt in einer Welt, die heutzutage Schostakowitsch und Mahler bevorzugt."


    Schostakowitsch und Mahler (Sibelius würde ich noch hinzufügen) sind wohl tatsächlich die beiden großen Aufsteiger in den Konzertsälen der Welt in letzten halben Jahrhundert. Müsste ich an "Verlierer" in diesem Zeitraum denken, so käme mir auch wirklich von den ganz großen Komponisten am ehesten Tschaikowski in den Sinn.


    Nun fragt sich, ob dies ein bloßer, vielleicht verfälschter Eindruck ist oder ob sich dies auch in Zahlen belegen lässt.


    Hilfreich sind in diesem Zusammenhang die heutzutage oft schon elektronisch zugänglichen Archive diverser Orchester. Für eine Stichprobe habe ich mal die Symphonie Pathétique als die vermutlich beliebteste Tschaikowski-Symphonie ausgewählt und bin die Online-Archive dreier Orchester der Weltspitze, des Boston Symphony Orchestra, des Concertgebouw-Orchesters Amsterdam und der Wiener Philharmoniker, durchgegangen. Berücksichtigt wurde der Zeitraum von 1900 bis 2019.


    Aufführungen der Symphonie Nr. 6 Pathétique zwischen 1900 und 2019:


    Boston Symphony Orchestra: insgesamt 379 Aufführungen

    - 1900er: 47

    - 1910er: 27

    - 1920er: 46

    - 1930er: 29

    - 1940er: 41

    - 1950er: 59

    - 1960er: 36

    - 1970er: 37

    - 1980er: 17

    - 1990er: 7

    - 2000er: 19

    - 2010er: 14


    Concertgebouw-Orchester Amsterdam: insgesamt 278 Aufführungen

    - 1900er: 43

    - 1910er: 42

    - 1920er: 39

    - 1930er: 25

    - 1940er: 32

    - 1950er: 17

    - 1960er: 4

    - 1970er: 22

    - 1980er: 12

    - 1990er: 11

    - 2000er: 20

    - 2010er: 11


    Wiener Philharmoniker: insgesamt 146 Aufführungen

    - 1900er: 2

    - 1910er: 5

    - 1920er: 16

    - 1930er: 16

    - 1940er: 10

    - 1950er: 12

    - 1960er: 9

    - 1970er: 5

    - 1980er: 11

    - 1990er: 22

    - 2000er: 20

    - 2010er: 18

    Was fällt sofort auf? In Boston wurde das Werk in diesem Zeitraum fast dreimal so oft, in Amsterdam fast doppelt so oft wie in Wien aufgeführt. Extrem der Unterschied Anfang des 20. Jahrhunderts. In den ersten beiden Jahrzehnten desselben war die Pathétique in Wien fast ohne Bedeutung, während sie in Boston und Amsterdam zum absoluten Standardrepertoire zählte. Dieser hohe Stellenwert erreichte in Boston seinen absoluten Zenit in den 50ern. Danach sank er kontinuierlich mit dem absoluten Tief in den 90ern. Er stieg zwar seither wieder, doch ist er weit entfernt von den einstigen Spitzenwerten. In Amsterdam kam der Einbruch nach dem Zweiten Weltkrieg, Tiefstwert in den 60ern. Seither wieder gestiegen, aber auch bei weitem nicht mehr so hoch wie einst. In Wien war das Werk offenbar kein solcher Schlager. Am ehesten in der Zwischenkriegszeit und dann kurioserweise in den letzten drei Jahrzehnten. Tiefpunkt hier in den 70ern. In den letzten Jahrzehnten hat Wien dafür seltsamerweise mehr Aufführungen als Boston und Amsterdam.

    Kann man dies bereits als Beleg für die These werten, dass Tschaikowskis Beliebtheit sank?

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Verglichen mit dem von Alfred Schmidt erinnerten Vergleichszeitraum (60er/70er Wien) ist die Beliebtheit sehr deutlich gestiegen! Beim Concertgebouw jedenfalls auch nicht gesunken.


    Ohne Zweifel ist das symphonische Repertoire in den letzten 50 Jahren deutlich erweitert worden. Ich könnte mir gut vorstellen, dass selbst bei Beschränkung auf Tschaikowsky die 6. etwas eingebüßt hat, weil nicht mehr fast nur die drei letzten (und von denen am meisten die 6.) gespielt werden. Aber Bruckner (den spielte man früher fast nur in Wien), Mahler, Sibelius, dann auch Nielsen, Vaughan Williams, Orchesterwerke der klass. Moderne von Debussy, Ravel, Bartok usw. werden heute viel mehr gespielt. In den 50er/60ern galten Ravel und Debussy teils noch als was für "Spezialisten".

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    (Bob Dylan)

  • Meinem Eindruck nach hat sich an der weiter oben schon mal festgestellten Situation nicht viel geändert, nämlich dass eine relativ kleine Zahl von Werken Tschaikowskys extrem dominiert. Man hat ja kaum einen Begriff vom Umfang seines Werks. Klar, manches wie ein großer Teil der Klaviermusik (bei Lisitsa 10 CDs voll, einschl. einiger Bearbeitungen!) mag zu Recht in den Hintergrund geraten sein. Aber der Unterschied zwischen zB ersten und zweiten Klavierkonzert, Sinfonien 4-6 ggü. Sinf. Dichtungen und Suiten ist schon extrem. Auch die Streichquartette haben es immer noch nicht recht "geschafft".

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    (Bob Dylan)

  • Diese Beobachtungen sind sicher zutreffend. Von den Symphonischen Dichtungen Tschaikowskis werden bis heute praktisch nur zwei im Konzertsaal häufiger gespielt: Romeo und Julia und Francesca da Rimini. Daneben die 1812-Ouvertüre und ab und an Capriccio Italien und Marche slave. Aber wer hat jemals Hamlet oder eine der Opern-Ouvertüren im Konzert gehört? Eher ja noch die Suiten der drei großen Ballette.


    Übrigens: In der Statistik liegt die 5. Symphonie allgemein nur knapp hinter der Pathétique. In Boston führt die 4. Symphonie (!) sogar deutlich vor beiden (548 Mal gespielt zwischen 1900 und 2019). Das ist ziemlich überraschend. Die drei frühen fallen dagegen sehr stark ab.


    Persönlich habe ich bislang gar nicht so wenig von Tschaikowski im Konzert gehört. Das Highlight waren Auszüge aus Schwanensee und Undine mit dem Moskauer RSO (Tschaikowski-SO) unter Fedossejew. Die Vierte habe ich mit der Tschechischen Philharmonie unter Slatkin mal in Prag gehört (phänomenale Akustik im Rudolfinum), die Pathétique mit dem Mariinski-Orchester unter Gergiev in Dresden (im alten Kulturpalast mit mäßigem Klang). Kurioserweise bisher nicht die Fünfte live.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Ich sehe das "Tschaikowsky-Tief" ziemlich gelassen.


    Es gibt dafür auch diverse Gründe, von denen einige bereits genannt wurden. Vor allem werden heute viel häufiger die frühen Sinfonien im Konzertsaal aufgeführt, was natürlich zu Lasten der drei letzten geht, und ich denke, daß die sinkenden Zahlen sicher nicht bei allen großen Orchestern und in allen Ländern zutreffen. Wie sieht es z.B. bei den Berliner Philharmonikern oder dem London Symphony Orchestra aus, um mal in Westeuropa zu bleiben?


    Wenn ich zurückdenke, so stand bis zur Mitte der 1950er Jahre Mozart recht gering im Kurs; selbst auf Platte waren z.B. seine Klavierkonzerte nur spärlich vertreten. Das hat sich dann gründlich mit dem 200. Geburtstag des Komponisten 1956 geändert. In der Folge gab es einen Mozart-Boom, mit Schwankungen, aber heute ist seine Musik sowohl auf Tonträger als auch in Konzert und Oper allgegenwärtig.

    Sibelius wurde bis weit in die 60er Jahre totgesagt, zumindest im deutschen Kulturraum (woran Adorno nicht ganz unbeteiligt war), während er in den angelsächsischen Ländern eine große Anhängerschaft hatte, von Skandinavien ganz abgesehen. Auch bei uns hat sich das Blatt gewendet: Sibelius erscheint wieder viel öfter in den Konzertprogrammen, und die Tonträger verkaufen sich gut.

    Haydn: Ich erinnere mich an den Ausspruch eines Plattenhändlers in Köln (Tonger): Haydn geht gar nicht! Auch das stimmt heute nicht mehr, dank natürlich auch und nicht zuletzt der Plattenindustrie.


    Das ist so ähnlich wie an der Börse: auf jede Rezession folgt wieder ein Boom. Eine ganz andere Frage ist, welchen Stellenwert die klassische Musik überhaupt in fernerer Zukunft einnehmen wird.


    LG Nemorino

    Die Welt ist ein ungeheurer Friedhof gestorbener Träume (Robert Schumann).

  • Die Vierte habe ich mit der Tschechischen Philharmonie unter Slatkin mal in Prag gehört (phänomenale Akustik im Rudolfinum),

    Beneidenswert, lieber Joseph! :) Entdeckt habe ich diese CD hier - leider vergriffen und sehr teuer:


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    Schöne Grüße

    Holger

  • Spielt Homophobie eine Rolle?

    Durch einen anderen Thread kam mir noch ein Gedanke: Könnte es nicht auch (zumindest unterschwellige) Homophobie sein, die zur Abwertung Tschaikowskis führte und teilweise noch führt? Ist Tschaikowskis Musik schwule Musik?


    Hierzu zitiere ich eine kurze Passage in einem Interview von Mathias Döpfner mit Marcel Reich-Ranicki, das 2009 in der Welt Online erschien:


    Döpfner: 1986 haben Sie mich in der FAZ-Redaktion, als wir über Erotik in der Musik und Tschaikowsky diskutierten, mal mit der Frage verunsichert: 'Gibt es homosexuelle Musik?'

    Reich-Ranicki: Eine gute Frage!

    Döpfner: Ich wusste damals und bis heute keine Antwort. Deshalb möchte ich die Frage heute zurückstellen: 'Gibt es sie?'

    Reich-Ranicki: Ich glaube daran, dass bei der Entstehung mancher musikalischer Werke homosexuelle Gedanken eine Rolle gespielt haben können. Aber ob Musik vom Publikum als homosexuell verstanden werden kann, das weiß ich nicht. Mir hat mal jemand gesagt, die Vierte Symphonie von Tschaikowsky sei homosexuell. Ich glaube das nicht.


    Am Rande: Der derzeitige russische Kulturminister Wladimir Medinski bestreitet die Homosexualität Tschaikowskis ganz vehement. Es gäbe keine Beweise hierfür (wissenschaftlich ist diese Behauptung unhaltbar). Ein Tschaikowski-Film wurde seinerzeit auch deswegen gestoppt. Selbst Wladimir Putin bestritt die Homosexualität Tschaikowskis indes nicht, meinte aber, die Russen liebten ihn nicht deswegen, sondern wegen seiner großartigen Musik. In der UdSSR wurden die Briefe Tschaikowskis, die dies eindeutig beweisen, nicht editiert.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Durch einen anderen Thread kam mir noch ein Gedanke: Könnte es nicht auch (zumindest unterschwellige) Homophobie sein, die zur Abwertung Tschaikowskis führte und teilweise noch führt? Ist Tschaikowskis Musik schwule Musik?

    Ich halte das alles für mehr als abwegig, auch wenn Reich-Ranicki das Thema aufgebracht hat, lieber Joseph - in vielerlei Hinsicht. Erst einmal glaube ich, dass den allermeisten Tschaikowsky-Hörern gar nicht bewusst ist, dass Tschaikowsky homosexuell war. Zum anderen benutzt Tschaikowsky musikalisches Material - was z.B. das populäre Capriccio italien und gerade auch die 4. Symphonie zeigt - dass gar nicht ursprünglich von ihm komponiert ist. Was ist also an dieser Musik homosexuell - die Melodie ist es nicht, die Verabeitung etwa? Die "Form" orientiert sich aber an allgemeinen Regeln, die ist also gar nicht individuell. Selbst im 19. Jhd. war man der Ansicht, dass Musik nicht nur Ausdruck der Individualität des Komponisten ist, sondern ein Allgemein-Menschliches verkörpert. Nach Schopenhauer bringt die Musik "Gefühls-Ideen" zum Ausdruck wie Trauer überhaupt, Liebe überhaupt etc. Zum anderen ist Musik nicht gegenständlich, anders als Sprachkunst. Genauso wenig wie Schumanns Fantasie op. 17 die Liebe Schumanns zu Clara Wieck zum Ausdruck bringen kann, kann ein Tschaikowsky-Stück homosexuelle Liebe zum Ausdruck bringen. Das ist musiktheoretisch einfach Nonsens. Nicht zuletzt: Wie viele berühmte homosexuelle Künstler gibt es? Homosexuell war z.B. Michelangelo. Wenn interessiert das aber - noch nicht einmal die Päpste damals. Und dann müsste man die vielen homosexuellen Musiker/Interpreten dazu nehmen. Pianisten/Dirigenten wie Bruno Leonardo Gelber, Christoph Eschenbach, Leonard Bernstein und Roberto Szidon sind bzw. waren homosexuell z.B. Gibt es etwa einen homosexuellen Interpretationsstil? Das ist doch kompletter Schwachsinn! Soll Bernstein "West Side Story" etwa Homosexuellen-Musik sein? Manche Diskussionen wundern einen wirklich... :D

    Am Rande: Der derzeitige russische Kulturminister Wladimir Medinski bestreitet die Homosexualität Tschaikowskis ganz vehement. Es gäbe keine Beweise hierfür (wissenschaftlich ist diese Behauptung unhaltbar). Ein Tschaikowski-Film wurde seinerzeit auch deswegen gestoppt. Selbst Wladimir Putin bestritt die Homosexualität Tschaikowskis indes nicht, meinte aber, die Russen liebten ihn nicht deswegen, sondern wegen seiner großartigen Musik. In der UdSSR wurden die Briefe Tschaikowskis, die dies eindeutig beweisen, nicht editiert.

    Die Diskriminierung von Homosexuellen in Russland ist wirklich beschämend. Es ist ja unter Strafe verboten, sich positiv über Homosexualität zu äußern! Da wundern solche Absurditäten nicht - und sind nur zum Heulen! ;(


    Schöne Grüße

    Holger

  • Mal abgesehen von den grundsätzlichen Problemen, "homosexuelle" Aspekte in instrumentaler Musik (anders als etwa in der Literatur) nachweisen zu wollen, passte diese Hypothese doch überhaupt nicht zur historischen Entwicklung. Dann hätte Tschaikowsky ab den 1970ern, als Homosexualität weitestgehend entkriminalisiert, entpathologisiert und enttabuisiert wurde, doch eher einen Boom erleben müssen und wäre eher vorher, zumindest von manchen Interpreten oder Hörern aufgrund der "anrüchigen Gerüchte" gemieden worden.

    Wenn es angeblich genau umgekehrt ist, dass PIT in den letzten 40 Jahren "außer Mode" gekommen wäre, bestünde eine Antikorrelation mit der Akzeptanz von Homosexualität.

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    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Wie man "homosexuelle Aspekte" in der Musik (jeglicher Art) nachweisen will, bleibt mir schleierhaft. Offensichtlich ist das wohl eine schicke Modererscheinung. Wir werden auch dieses überstehen.

    Da wir gerade beim Thema "in/außer Mode" sind: jeder Komponist/Musiker war schon zu seinen Lebzeiten und danach überall Kritiken bis hin zu scharfen Ablehnungen ausgesetzt, ausnahmslos. Die machte sich oft in kurzen, spöttischen, bis hin zu zynischen Äusserungen bemerkbar. Brahms?...die Melancholie der Inkompetenz; Wagner?....ach, wann geht der nächste Schwan?; Tschaikowsky?....der Filmmusikschreiber; Mahler?...aufgedonnerte Wiener Kaffeehausmusik; Bach?...der knochentrockene Mathematiker hinter dem Notenpult; Vivaldi?....der hat einmal 1 Stück komponiert und das danach 500 Mal wiederholt; Haydn?....zum Einspielen fangen wir mit einem Quartett von Opa Haydn an; Mozart?....der Erfinder leicht nachpfeifbarer Melodien über einem Dudelbass; Beethoven?....pi-pa-po, der Esel liegt im Stroh; uswusf. All das darf doch nicht wundern. Menschen haben nun einmal sehr unterschiedliche Geschmacksrichtungen, Empfindungen, und fassen somit Musik sehr unterschiedlich auf. Erschwerend kommt hinzu, dass die Komponisten (auch ausnahmslos) nicht nur geniale, erstklassige Meisterwerke geschrieben haben. Die haben manchmal auch einträgliche "Tagesware" abliefern müssen.

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  • Wie man "homosexuelle Aspekte" in der Musik (jeglicher Art) nachweisen will, bleibt mir schleierhaft. Offensichtlich ist das wohl eine schicke Modererscheinung. Wir werden auch dieses überstehen.

    Eine Modeerscheinung, die mindestens 40 Jahre alt ist. An anderer Stelle wurde nämlich Horst Koegler in einer Ausgabe der HiFi-Stereophonie von 1978 zitiert, wo er der Pathétique ein "homoerotisches Gefühlsklima" bescheinigt (und Karajans Einspielung, um die es konkret ging, dies laut Koegler so formvollendet negiere wie keine andere dem Rezensenten bekannte Aufnahme). Der Literaturwissenschaftler Hans Mayer beschrieb die Musik der Pathétique als "rauschhafte Amalgierung von Homoerotik und Tod". Und Klaus Manns Roman Symphonie Pathétique ist sogar bereits von 1935.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Könnte es nicht auch (zumindest unterschwellige) Homophobie sein, die zur Abwertung Tschaikowskis führte und teilweise noch führt? Ist Tschaikowskis Musik schwule Musik?

    Diesem Aspekt, den Joseph in die Debatte geworfen hat, kann ich einiges abgewinnen. Auf keinen Fall aber würde ich ihn einfach beiseite wischen nach dem Motto, es ist nicht, was nicht seien darf. Wenn ich richtig informiert bin, ist die Frage, ob es schwule Musik geben kann, überhaupt nicht genau untersucht worden. Kunst hält unendlich viele Möglichkeiten bereit, homoerotische Erfarungen, Nöte, Ängste, Glückgefühle usw. ausdrücken. Mal versteckt, mal andedeutet, dann wieder ganz direkt. Bei Tschaikowski stellt sich die spannende Frage, inwieweit seine Figuren, die Frauen eingeschlossen, selbstbioghraphisch fühlen und handeln. Onegin ist nur ein Beispiel. Es hat gedauert, bis die Forschung herausgefunden hat, was es mit dem so genannten Z-Gefühl in den schriftlichen Selbstzeugnissen auf sich hat. In dieser Formel drücken sich die erotischen Anwandlungen und Begehrlichkeiten des Komponisten aus. Das Bild, das die Welt von Tschaikowski hat, ist immer noch sehr lückenhaft. So lange im homophoben Russland entscheidende Dokumente unter Verschluss gehalten werden, wird das so bleiben - und es wuchern natürlich auch die Spekulationen.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Eine Modeerscheinung, die mindestens 40 Jahre alt ist. An anderer Stelle wurde nämlich Horst Koegler in einer Ausgabe der HiFi-Stereophonie von 1978 zitiert, wo er der Pathétique ein "homoerotisches Gefühlsklima" bescheinigt (und Karajans Einspielung, um die es konkret ging, dies laut Koegler so formvollendet negiere wie keine andere dem Rezensenten bekannte Aufnahme). Der Literaturwissenschaftler Hans Mayer beschrieb die Musik der Pathétique als "rauschhafte Amalgierung von Homoerotik und Tod". Und Klaus Manns Roman Symphonie Pathétique ist sogar bereits von 1935.

    Bei Klaus Mann ist es aber so, dass er mit diesem Roman nicht zuletzt seine eigene Homosexualität thematisiert. Reich Ranicki schreibt über Klaus Mann:


    „In allem, was Klaus Mann geschrieben hat, fällt auf, wie stark von früher Jugend an sein Bedürfnis war, Bekenntnisse und Geständnisse abzulegen, wie sehr er sich immer wieder zur Selbstbeobachtung, Selbstanalyse und Selbstdarstellung gedrängt fühlte. […] Fast alle seine Romane und Novellen enthalten deutliche und in der Regel nur flüchtig getarnte Beiträge zu seinen Autoporträts. […] er hatte offenbar nie Hemmungen, seine eigenen Sorgen und Komplexe ganz ohne Umschweife in die Figuren seiner Helden zu projizieren“.


    Daraus kann man eigentlich schließen, dass Klaus Manns Roman vielleicht mehr aussagt über Klaus Mann selbst als über Tschaikowsky geschweige denn über seine Musik. Haben Horst Koegler und Hans Mayer (letzterer ist bezeichennd primär Literatur- und nicht Musikwissenschaftler) vielleicht Klaus Mann gelesen und von daher Tschaikowsky rezipiert? Inwieweit ist das aber für die Tschaikowsky-Rezeption insgesamt repräsentativ? Da fehlt mir dann doch der Beleg. Ich z.B. habe den Roman von Klaus Mann nicht gelesen! ^^ Der "Pathetique" ein "homoerotisches Gefühlsklima" zu bescheinigen ist erst einmal nur Feuileton. Wodurch ist das denn ausweisbar? Hier schlägt die Kritik von Eduard Hanslick voll zu: Das ist eine "außermusikalische" Projektion, denn Musik (reine Instrumentalmusik wohlgemerkt) kann solche Gefühle unmöglich ausdrücken.

    Kunst hält unendlich viele Möglichkeiten bereit, homoerotische Erfarungen, Nöte, Ängste, Glückgefühle usw. ausdrücken. Mal versteckt, mal andedeutet, dann wieder ganz direkt.

    Kunst ja, lieber Rüdiger - da fällt mir auch vieles ein. Mit das berühmteste Beispiel ist Thomas Mann Der Tod in Venedig. Aber Musik (wohlgemerkt nicht die Oper und das Lied, wo ein Text einen homoerotischen Inhalt haben kann (Tristan Klingsor z.B., vertont von Ravel, ist offen homoerotisch), sondern reine Instrumentalmusik) - nein!


    Schöne Grüße

    Holger

  • Aber Musik (wohlgemerkt nicht die Oper und das Lied, wo ein Text einen homoerotischen Inhalt haben kann (Tristan Klingsor z.B., vertont von Ravel, ist offen homoerotisch), sondern reine Instrumentalmusik) - nein!

    Die Frage, lieber Holger, ist m. E. indes aber auch, ob Tschaikowskis Symphonien denn reine Instrumentalmusik sind. Speziell die hier schon genannte 4. Symphonie erfüllt doch mehr oder weniger die Bedingungen einer Programmsymphonie. Das Schicksal ist das Thema der einleitenden Fanfare des Kopfsatzes, wie der Komponist selbst schreibt. Im englischen Sprachraum hat die Vierte auch den Beinamen Fatum erhalten. Man findet die Bezeichnung dieses Werkes als symphonischen Hybriden, also eines Zwitters zwischen einer Symphonie und einer Symphonischen Dichtung á la Liszt. Das Schicksal dominiert auch die Fünfte. Die 6. Symphonie nannte er zunächst sogar explizit Programmsymphonie und schrieb ja auch, dass sie ein Programm besitze, das "aber für alle ein Rätsel bleiben soll". Schon in seiner 1. Symphonie gibt es Charakteristika von Programmmusik, sind die ersten beiden Sätze ja bezeichnet als Traum von einer Winterreise und Land der Öde, Land der Nebel. Noch viel deutlicher ist das natürlich bei der Manfred-Symphonie ausgeprägt, die ein ganz eindeutiges Programm besitzt. Das unterscheidet Tschaikowskis Symphonik für mein Dafürhalten auch von der absoluten Symphonik des etwa gleichaltrigen Johannes Brahms.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Die Frage, lieber Holger, ist m. E. indes aber auch, ob Tschaikowskis Symphonien denn reine Instrumentalmusik sind. Speziell die hier schon genannte 4. Symphonie erfüllt doch mehr oder weniger die Bedingungen einer Programmsymphonie. Das Schicksal ist das Thema der einleitenden Fanfare des Kopfsatzes, wie der Komponist selbst schreibt. Im englischen Sprachraum hat die Vierte auch den Beinamen Fatum erhalten. Man findet die Bezeichnung dieses Werkes als symphonischen Hybriden, also eines Zwitters zwischen einer Symphonie und einer Symphonischen Dichtung á la Liszt. Das Schicksal dominiert auch die Fünfte. Die 6. Symphonie nannte er zunächst sogar explizit Programmsymphonie und schrieb ja auch, dass sie ein Programm besitze, das "aber für alle ein Rätsel bleiben soll". Schon in seiner 1. Symphonie gibt es Charakteristika von Programmmusik, sind die ersten beiden Sätze ja bezeichnet als Traum von einer Winterreise und Land der Öde, Land der Nebel. Noch viel deutlicher ist das natürlich bei der Manfred-Symphonie ausgeprägt, die ein ganz eindeutiges Programm besitzt. Das unterscheidet Tschaikowskis Symphonik für mein Dafürhalten auch von der absoluten Symphonik des etwa gleichaltrigen Johannes Brahms.

    Lieber Joseph,


    Du hast Dir die Antwort selber gegeben: Wenn die 6. Symphonie ein Programm hat, dass "für alle ein Rätsel bleiben soll", dann soll man es auch nicht zu enträtseln suchen und meinen, des Rätsels Lösung sei das "homoerotische Gefühlsklima". Die Programme sind auch bezeichnend so formuliert, dass sie das Individuelle und Bestimmte in ein Allgemeines und Unbestimmtes transzendieren: Die Auseinandersetzung des Menschen mit dem Schicksal bleibt unbestimmt-allgemein und wird gerade nicht individualisiert: Es wird nicht gesagt, um welchen Menschen und um welches bestimmte Schicksal es sich handelt. Natürlich kann Tschaikowsky selbst "sein" sehr individuelles Schicksal damit verbinden, was untrennbar mit seiner Homosexualität verknüpft ist. Nur drückt dies das "Werk" in keiner Weise aus (ein anderer Mensch, der ein ganz anderes Schicksal hat, kann sich ebenfalls mit dem Programm identifizieren), sondern dies ist die Überschreitung der werkästhetischen zu einer rezeptionsästhetischen Perspektive, gelehrt ausgedrückt. Das Programm ist so unbestimmt formuliert, dass ein Homosexueller dieses so zu "konkretisieren" vermag, dass er sein sehr individuelles Schicksal da wiederfindet. Aber eben ein Heterosexueller kann das auch und wiederum ganz anders konkretisieren, so dass das Programm zu seinem Leben in Beziehung gesetzt wird. Die "poetische Idee", die ein solches Programm zum Ausdruck bringt, lässt sich von daher nicht auf die Biographie des Komponisten oder die irgend einer anderen Individualität reduzieren. Sie ist allgemeinmenschlicher Art. :hello:


    Schöne Grüße

    Holger

  • Nicht nur Klaus Mann, sondern der Literaturwissenschaftler Hans Mayer war auch homosexuell. Da haben sich schon die "richtigen Interpreten" für Instrumentalmusik gesucht und gefunden. Wie heißt das so schön? "die rauschhafte Amalgamisierung von Wunschdenken und eigener Befindlichkeit" ;)

  • Ich befürchte Peter Tschaikowsky und seine Musik geraten in den Bannstrahl des Zeitgeistes. Russisches gilt nicht mehr als angemessen, aus verständlichen Gründen. Er wird bis auf weiteres aus den Konzertprogrammen und aus dem Bewusstsein der Hörer verschwinden.


    Oder auch nicht. Kirill Petrenko hat für das diesjährigen Konzert der Berliner Philharmoniker aus der Waldbühne in Berlin Werke russischer Komponisten ins Programm aufgenommen. Ljadows Kikimora op. 63, Rachmaninoff 2. Klavierkonzert, Mussorgskis Bilder einer Ausstellung und als Zugabe Panorama aus dem Ballett Dornröschen Peter Tschaikowskys.


    .

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Ich befürchte Peter Tschaikowsky und seine Musik geraten in den Bannstrahl des Zeitgeistes.

    Peter Tschaikowski ist in meiner Rezeption eine völlige Randerscheinung. In meiner Jugend habe ich mich (recht schnell) an seinem ersten Klavierkonzert sattgehört. Heute höre ich noch hin und wieder sein Klaviertrio in der Einspielung



    mit Argerich, Maisky und Kremer. Das macht noch Spaß!


    Ich habe mir seine Klaviermusik als Aufgabe auferlegt, die ich in zwei Einspielungen besitze



    mit Valentina Lisitsa und



    mit Viktoria Postnikowa.


    Ich finde dass Lisitsa ihre Sache ziemlich gut macht, trotzdem kann mich nicht einmal für seine Klaviermusik über einen längeren Zeitraum (> 1 Stunde) begeistern. Ich bin immer froh, wenn es zuende ist. Ich mag die Musik einfach nicht. Die Sonaten sind zu monströs und inhaltsleer und viele andere Musik ist mir zu sentimental (Ich weiß natürlich, dass man das alles völlig anders hören kann, ich höre es aber leider so...) Dass mit Tschaikowski ist für mich insbesondere unverständlich, weil sein Freund Tanejew einer meiner Lieblingskomponisten ist. Ich habe vom unbekannten Tanejew mehr Musik als vom ultrabekannten Tschaikowski. Das spiegelt den allgemeinen Markt höchstens invers wieder.


    Es hat nichts mit den sexuellen Vorlieben des Komponisten zu tun (Die kannte ich bis zur Mitgliedschaft hier Forum gar nicht) und mit Putin und seiner mitlitärischen Aggression noch weniger ...


    Wenn nun Putin verantwortlich sein soll (oder sogar ist), dass Tschaikowski nicht mehr gehört wird, wirft das ein Licht auf die Tschaikowski-Verehrung, die vorher zu hohen Verkaufszahlen geführt hat! Oder? :)

  • Zeitgeist hin oder her, in meiner persönlichen Sammlung ist Pjotr Iljitsch weiterhin ganz weit vorne, im symphonischen Bereich sogar neben Beethoven, Schumann, Sibelius und Schostakowitsch an der Spitze. Gerade kürzlich habe ich etwa die vierte Symphonie nach jahrelangem Meiden (wieso eigentlich?) wiederum neu für mich entdeckt. Welch ein Juwel, fürwahr. Und die zu Unrecht im Schatten stehenden Klemperer-Einspielungen (auch von Nr. 5 und vor allem Nr. 6) sind vorzüglich und mit das Beste, was es an "westlichen" Tschaikowski-Aufnahmen überhaupt gibt, neben Monteux' "Schwanensee"-Auszügen. Nein, Tschaikowski kommt nie aus der Mode. :hail: Zumindest nicht bei mir.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Wie man unschwer erkennen kann ist der von mir gestartete Thread nun schon 17 Jahre alt. Damals war von Putins Krieg nich keine Spur, also eine "Ablehnung alles Russischen" nicht über jene hinaus, die jene des kalten Krieges übertrifft.

    Mein Fazit: Zeitgeist ja - Einfluß durch den Putin Krig: allenfallls marginal oder Verstärkung einer ohnedies vorhandenen Tendenz.

    Aus meiner Sicht ist Tschaikowskys heutige Beliebtheit dort, wo die seiner Zeitgenossen aus Russland schon immer waren.

    Also eher Randfiguren der Musikgeschichte - im Falle Tschaikowskys indes durch einige Renner abgemildert.

    Von seinen Klavierkonzerten war allenfalls das 1. weitgehend beliebt, das Violinkonzert wurde schon durch Hanslick angezweiifelt. Die Ouvertüre 1812 wurde von den Pazifisten angefeindet., die Ballette und das wunsderschöne Capricio Italien in die Nische des Kitsches zu schieben versucht.

    Wenn ich soeben schrieb, daß russlands Kompositionen des 19 Jahrhundertgs wenig beliebt sind, so muß man doch sagen, das gilt - wiederum von wenigen Ausnahmen abgesehen - für die meisten Werke des mittleren bis späten 19. Jahrhunderts. Raff wurde in seiner Bedeutung damals durchaus neben Liszt und Tscahikowsky gestellt . Und nun stimmts beinahe wieder. Weil wir grade bei Liszt sind: Wer hört noch regelmäßig seine Symphonischen Dichtungen ?

    Daß die (ohnedies lange nicht allgemein bekannte) angebliche Neigung zur Homosexualität eine Rolle spielen könnte halte ich für ausgeschlossen. Sowas hat das Publikum nie gestört.- Fast möchte ich sagen: Im Gegenteil. Es gibt sicherlich Leute die Schwulenhasser sind, aber das sind eher gesitig einfacht gestrickte Leute der Unterschicht - und die hören sowieso keine klassische Musik.:hahahaha:

    Es ist eher der Kunstgeschmack des späten 19. Jahrhundertrs der heute mit Abstand gesehen wird. Dazu gehören die Werke des Historismus, sei es auf dem Gebiet der Architektur oder der Malkunst. Alles ist überladen und ein wenig schwülstig. Das gilt natürlich auch für die Literatur, sofern es sich nicht um Werke des NAturalmus handelt (aber auch dessen beste Zeit ist heute vorbei. Ich mußte mal bei einer Aufführung von Hauptmanns "Der Biberpelz" mit spielen. Selten habe ich mich so gelangweilt, selten war mir ein Mileu so verhasst wie dieses, wo das Diebgesindel auf der Bühne verherrlicht wurde. Dabei soll das noch eine Komödie sein......

    Generell aber wird Tschaikowski - vielleicht nicht so überpräsent wie vor 50 Jahren, wo auch Herbert von Karajan viel zu seiner Verbreitung beitrug und bald darauf eine Welle "originalrussischer Dirigenten und Orchester den Markt überschwemmte und die Neugier des Publikums befriedigte - weiterhin gespielt werden.

    Um aber die von mir selbst gestellte Titelfrage zu beantworten:

    "In Mode ist der DERZEIT NICHT"


    mfg aus Wien

    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



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