Heinrich Schütz (1585-1672):
HISTORIA DES LEIDENS UND STERBENS UNSERS HERRN UND HEILANDES JESU CHRISTI NACH DEM EVANGELISTEN ST. JOHANNES
für Soli und vierstimmigem Chor a-capella, SWV 481
GESANGSSOLISTEN
Der Evangelist, Tenor
Jesus, Baß
Petrus, Tenor,
Pontius Pilatus, Tenor
Die Magd, Sopran
Der Knecht des Hohenpriesters, Baß
INHALTLICHE INFORMATIONEN
Heinrich Schütz beginnt, wie in den beiden anderen Historien, auch diese mit einem Chorsatz, der auf den Hörer wie eine plakative Programm-Ankündigung wirkt:
Das Leiden unsers Herren Jesu Christi,
wie uns das beschreibet der heilige Evangeliste Johannes.
Schon in diesen ersten Takten wird deutlich, daß Schütz seine Musik dem Charakter des Johannes-Evangeliums angleichen will: Er verwendet mit dem phrygischen Modus (als Tonleiter mit e-f-g-a-h-c-d definiert) eine Kirchentonart, die Seelenschmerz besonders gut auszudrücken vermag. Gleich im ersten Takt wird der Hörer mit dem archaisch wirkenden Quintensprung (e-h) aufgerüttelt, ehe die Musik einer lieblichen Empfindsamkeit weicht, die beruhigend wirkt. Den charakteristischen Quintensprung wird der aufmerksame Hörer noch mehrmals in den Evangelisten-Rezitativen als Merkmal bedeutungsvoller Stellen wiederfinden.
Auch der Schlußchor, Schütz nennt ihn „Beschluß“, dieser musikalischen Passionsandacht
O hilf, Christe, Gottes Sohn, durch dein bitter Leiden,
daß wir dir stets untertan all Untugend meiden,
deinen Tod und sein Ursach fruchtbarlich bedenken,
dafür, wiewohl arm und schwach, dir Dankopfer schenken.
bleibt dem milden, weichen Klang, der dem Eingangschor eigen ist, verpflichtet. Die Musik entwickelt sich motettisch aus der Choralmelodie des Passionsliedes „Christus, der uns selig macht“ (Text von Michael Weiße, 1531).
Zwischen diesen beiden Chorsätzen, den einzigen des Oratoriums, deren Text nicht auf dem Johannes-Evangelium beruht, spielt sich die Dramatik des Karfreitagsgeschehens ab. Die Ereignisse soll der tenorale Evangelist (so eine Forderung von Schütz in der Vorrede zu der älteren „Auferstehungshistorie“) „frei, fließend, im Zeitmaß natürlicher, ungezwungener Rede“ deklamieren.
Dennoch gibt es in dieser Passions-Historie dramatisches Leben, entstehen vor dem inwendigen Auge des Hörers suggestive Bilder - nämlich in den Chorsätzen. Darin gelingt es Schütz (bei aller Schlichtheit des Chorsatzes) Emotionen hervorzurufen wie Spott und Angst, Ärger und Wut - eine entsprechende Interpretation vorausgesetzt:
- Wenn beispielsweise Jesus die Häscher fragt, wen sie suchen, klingt deren Antwort unheimlich, ja gefährlich in unseren Ohren;
- ganz anders die Wirkung der Judenchöre, die Schütz allesamt durch imitatorisch einsetzende Stimmen charakterisiert;
- besonders auffällig sind die Chorstellen in der Gerichtsszene vor Pontius Pilatus, wo die zweimaligen „Kreuzige“-Rufe unterschiedlich vertont sind: beim ersten Mal werden sie durch lange gebundene Melismen, beim zweiten Mal mit harten Betonungen auf den einzelnen Silben vorgetragen;
- spöttisch bis hin zur Boshaftigkeit sollten die Chöre der Kriegsknechte sein, die Jesus zunächst, höfisches Zeremoniell imitierend, zurufen „Sei gegrüßet, lieber Judenkönig!“, das „lieber Judenkönig“ aber geradezu mit Gelächter im Unterton herausstoßen;
- den Ärger der Hohenpriester über die durch Pilatus veranlaßte Kreuzesüberschrift „Jesus von Nazareth, der Juden König“ („in hebräischer, griechischer und lateinischer Sprache“) kommentieren sie empört, aufgeregt und durcheinander rufend
Schreibe nicht: Der Juden König, sondern daß er gesagt habe: Ich bin der Juden König.
Dazu skandieren einige Sopranstimmen die den Hohenpriestern verhaßten Jesus-Worte „Ich bin der Juden König“ eindringlich in gedehnten Notenwerten.
Die angesprochene Dramatik mit ihren tonmalerischen Elementen sollte allerdings nicht als abgestandener Realismus gewertet werden; die dramatische Ausdruckskraft der Chöre muß in Beziehung zu der feierlichen Strenge der rezitativischen Teile gesetzt werden, dann entfalten sie ihre volle Wirkung. Die Äußerungen der „Interlocutori“ (Jesus, Pilatus, Petrus, der Knecht des Hohenpriesters und die Magd) werden innerhalb des vorgegebenen tonalen Rahmens vorgetragen und haben keine andere Aufgabe, als durch klare Intonation mit Textverständlichkeit eine liturgische Lesung darzustellen. Ihre Herkunft aus der Gregorianik wird immer wieder deutlich und erzeugt ohne Zweifel einen Eindruck von beklemmender Monotonie.
INFORMATIONEN ZUM WERK
Wahrscheinlich am Karfreitag 1665 wurde die Johannes-Passion des fast achtzigjährigen Heinrich Schütz erstmals aufgeführt. Wie auch von den beiden anderen eindeutig Schütz zuzuordnenden Passionen existiert von der Johannes-Passion kein Autograph. In einer um 1692 entstandenen Kopie von Passionsmusiken der vier Evangelisten, die ein gewisser Johann Zacharias Grundig angefertigt hatte, wird das Jahr 1665 als Entstehungszeitraum genannt. Der Name des Komponisten Heinrich Schütz findet sich allerdings nur auf der Matthäus-Historie. Während die Musikwissenschaft die „Historien“ nach Matthäus, Lukas und Johannes heute eindeutig Heinrich Schütz zuordnen, gilt für die Markus-Passion aus Grundigs Abschrift der in Dresden wirkende Kapellmeister Marco Giuseppe Peranda als Komponist.
Schütz griff für seine Historien auf die jahrhundertealte Tradition des einstimmigen und unbegleiteten Gesanges im Lektionston zurück und mied den Stil dramatisierter Passions-Oratorien mit freier Dichtung, wie sie damals in Italien und Deutschland aufkamen. Statt seine Werke in der Dur-Moll-Tonalität zu komponieren, wählte er, sich dabei sorgfältig am Charakter des Evangeliums orientierend, eine Kirchentonart aus. Nach lydisch für Lukas und dorisch für Matthäus wählte der Sagittarius für die Johannes-Historie die phrygische Tonart.
Traditionell ist auch die Verwendung des biblischen Berichts, den der Evangelist und die handelnden Personen in Rezitativen vortragen. Schütz erweitert jedoch den Lektionston durch seine altersweise Kunst zu einer individuellen Vortragsweise, und paßt sie dem Geschehen und den Affekten der handelnden Personen genau an. Der Eindruck eines rückwärtsgewandten Stils ist zwar nicht zu leugnen, wird aber von Schütz durch immense kompositorische Erfahrung mit rhetorischem Leben gefüllt.
© Manfred Rückert für Tamino-Oratorienführer 2012
unter Hinzuziehung folgender Quellen:
Oratorienführer von Pahlen, Oehlmann, Harenberg
Gregor-Dellin: Heinrich Schütz. Sein Leben, sein Werk, seine Zeit. München 1987
Michael Heinemann: Heinrich Schütz. Rowohlt, Hamburg 1994