MOZART, Wolfgang Amadeus: DIE SCHULDIGKEIT DES ERSTEN GEBOTS


  • Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791):


    DIE SCHULDIGKEIT DES ERSTEN GEBOTS
    Erster Teil eines dreiteiligen geistlichen Singspiels, KV 35 - Libretto von Ignaz Anton Weiser


    Der Originaltitel, entnommen dem Textheft, lautet
    Die Schuldigkeit Des ersten und fürnehmsten Gebottes Marc. 12.V. 30.
    Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben von ganzen deinem Herzen,
    von deiner ganzen Seel, von deinem ganzen Gemüth,
    und aus allen deinen Kräften.
    In dreyen Theilen zur Erwegung vorgestellt von J.A.W.


    Uraufführung am 12. März 1767 im Rittersaal der Salzburger Residenz



    DRAMATIS PERSONAE


    Die göttliche Barmherzigkeit (Sopran)
    Die göttliche Gerechtigkeit (Sopran)
    Der Weltgeist (Sopran)
    Der Christengeist (Tenor)
    Ein lauer und hinnach eifriger Christ (Tenor)


    Allegorische Zeit.



    INHALTSANGABE


    Die das Werk einleitende Sinfonia besteht aus einem Sonatensatz, allerdings ohne den dazugehörenden Durchführungsteil. Der elfjährige Mozart stellt dem kantablen Thema einen energisch wirkenden Nachsatz gegenüber, und komponiert damit eine Ouvertüre im italienischen Stil mit dualem Charakter.


    Erster teil
    Der Ort ist eine anmutige Gegend an einem Garten und kleinen Wald. Der laue Christ schläft in einem Blumenbeet.


    Mit einer rezitativischen Klage an den Christgeist über die Lauheit vieler Christen meldet sich die Gerechtigkeit zu Wort; ihr ist es angenehm, die Frommen zu belohnen, aber auch jene abzustrafen, die nicht Büßen wollen. Der Christgeist erwartet jedoch, dass die Barmherzigkeit - ihrer Natur gemäß - allen, auch den lauen Menschen, Huld angedeihen lässt. Ihm, dem es gerade an den Lauen gelegen ist, hat mit ihnen großes Mitleid und die äußert er in einer aus mehreren Gründen auffälligen C-Dur-Arie:


    Mit Jammer muss ich schauen/unzählig teure Seelen
    in meines Feindes Klauen/den Untergang erwählen,
    wenn deine Wunderkraft/nicht Heil, nicht Rettung schafft.

    Die muntere Gelöstheit dieser Musik passt kaum zum „Jammer“-Text, und die im B-Teil der Arie aufkeimende bildhafte Schilderung von ausgebrochnen und schäumenden Flüssen lässt Mozart wie in einer Opernarie wilde Streicherfiguren komponieren, die den Text klar zu illustrieren vermögen:


    Ihr zügelfreier Sinn,/gleich ausgebrochnen Flüssen,
    die schäumend sich ergießen,/reißt nach den tausend hin.


    Das Gespräch zwischen Gerechtigkeit und Barmherzigkeit wird fortgesetzt und beide sind überzeugt, dass der laue Christ ihrer Hilfe bedarf, denn er vergisst das vornehmste Gebot, nämlich Gott, den Herrn, über alles andere zu stellen. Aber der Weltgeist versteht es immer wieder, den Christenmenschen von Gott abzulenken. In einer Es-Dur-Arie bringt die Barmherzigkeit mit einem Natur-Bild die Sache auf den Punkt:


    Ein ergrimmter Löwe brüllet,
    der den Wald mit Furcht erfüllet,/rings herum nach Raube sieht.

    Mozart zeichnet das „ergrimmte“ Raubtier mit Fagotten und Hörnern nach und bringt im B-Teil dieser Arie eine idyllische Komponente ein, indem er den schlafenden Jäger, der die Gefahren negiert, mit einer ruhigen Instrumentalbegleitung ausmalt. Beide Teile der Arie werden wiederholt, sie ist also vierteilig angelegt.


    In das Gespräch mischt sich nochmals der Christgeist ein, und der bisherige (eher wie eine Moralpredigt im Sinne aufklärerischer Vernunft wirkende) Dialog wird plötzlich aufgeregt, weil er vom Secco zum Accompagnato des gesamten Orchesters wechselt; der Grund ist die klare Drohung des Christgeistes mit dem Schrecken der Hölle für den lauen Christen:


    Es würde des Verstandes Licht/vielleicht sich bald/in seiner Helle finden,
    und der verkehrte Will'/sich bald ergeben,/wenn ihnen sichtbar sollte
    vor ihren Augen schweben/das Pein- und Schreckenbild/des offnen Höllengrund,
    wenn aus so vieler Tausend Mund/das grässliche Geheul erschallte,
    wenn ein Verdammter sich/aus seinem Grab erhebte,/sie durch sein' unbeglückten Fall
    des großen Hauptgebot gemessne Schuldigkeit,
    den Eifer, die Beflissenheit,/die Wissenschaft des Heils zu lehren.


    Während die Barmherzigkeit ihre Hoffnung ausdrückt, dass diese Warnung Frucht bringe, hält es die Gerechtigkeit eher mit freiwilliger Erkenntnis und nicht mit Zwang, der sich für sie aus Christgeists Drohung mit den Höllenqualen ergibt. Da bietet der laue Christ, der so in den Tag hinein schläft, der Gerechtigkeit die Möglichkeit, ihre klare Einstellung
    auszuprobieren, was Christgeist daraufhin als ein „heilsames Erschrecken“ bezeichnet. Mit einer A-Dur-Arie ruft die Gerechtigkeit den Probanden ernsthaft zur Besinnung:


    Erwache, fauler Knecht,/der du den edlen Preis/so vieler Zeit verloren,
    und doch zu Müh' und Fleiß,/zur Arbeit bist geboren.
    Erwache, fauler Knecht,/erwarte strenges Recht.

    Mozart begleitet die Rufe der Gerechtigkeit durch energische, von den Streichern mit Triolen untermalten Schritten, und nach des Christen Erwachen weitet sich die Handlung zu einer erstaunlichen Opernszene aus, in der Secco-Rezitative und Accompagnati sich abwechseln.


    Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und Christgeist beobachten den erwachten Christen aus der Entfernung; der Weltgeist ist sofort zur Stelle und versucht dem Christen klar zu machen, dass er nicht auf die ominösen Stimmen hören solle, denn da werde ein Betrug an ihm verübt. Eine belebende F-Dur-Arie des Weltgeistes


    Hat der Schöpfer dieses Leben/samt der Erde uns gegeben,
    o so jauchze, so lache, so scherze,/lasse Träume Träume sein

    ruft mit Hörner- und Oboenklang zum Genuss aller Freuden auf, die die Welt bietet. Doch der Weltgeist hat, zumindest im Moment, mit seinen Aufrufen keinen Erfolg. Mit dem Einsatz einer Altposaune in des Christen Es-Dur-Arie unterstreicht Mozart die momentan noch vorherrschende Ernsthaftigkeit des geängstigten Menschen:


    Jener Donnerworte Kraft,/die mir in die Seele dringen,/fordern meine Rechenschaft.
    Ja mit ihrem Widerhall/hört mein banges Ohr erklingen/annoch den Posaunenschall.


    Aber natürlich lässt der Weltgeist nicht locker und argumentiert weiter mit seinen zur Sorglosigkeit aufrufenden Worten, dass da ein „Mückenfänger“ unterwegs sei, überflüssige Sittenlehre zu verbreiten. Seine Arie


    Schildre einen Philosophen/mit betrübten Augenlichtern,
    von Gebärden herb und schüchtern,/in dem Angesicht erbleicht.
    Dann hast du ein Bild getroffen,/das nur ihm alleine gleicht

    steigt bis zum hohen D und schüttet Ironie über diejenigen aus, die nur Gram und keine Freude kennen.


    Vor dieser Arie hat sich der Christgeist schon mehrmals rezitativisch „beiseite“ ärgerlich über den Weltgeist geäußert. Nun ist er es endgültig leid, und er kommt (als ein Arzt, wie es im Libretto heißt), um sich mit seinem Widerpart um den rechten Weg des Christen zu streiten. Der Weltgeist versucht unermüdlich, sich als den besseren Doktor auszugeben, doch der Christgeist stemmt sich argumentativ dagegen; in seiner B-Dur-Arie


    Manches Übel will zuweilen,/eh' es kann der Balsam heilen,/
    erstlich Messer, Scher' und Glut.
    Jener Ruf, der dich erweckte,
    jene Stimme, die dich schreckte,/war dir nötig, war dir gut

    legt er mit einem Bild dar, dass es notwendig sein kann, die verborgene Krankheit sorgsam zu behandeln. Auch hier hält Mozart eine kleine Überraschung bereit, indem er mit der Oboe Figuren malt, die eine Injektion darstellen könnten.


    Der Christ kann sich einfach nicht entscheiden, welchem von den beiden Ärzten er nun vertrauen soll. Als der Weltgeist neue „fröhliche Gemüter“ zur Unterhaltung des Christen ins Spiel bringt, ist der überzeugt und eilt davon, um sich „im Wohlstand“ zu vergnügen. Aber er verspricht dem Christgeist, ihn beim nächsten Wiedersehen zu belohnen. Das letzte Musikstück, ein D-Dur-Terzett von Christgeist, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, ist ein weitgespanntes Rondo mit einer kontrapunktischen Stimmführung, die das Genie des elfjährigen Mozart aufblitzen lässt: der Christgeist bittet die beiden Allegorien um ihre Unterstützung, um für den lauen Christen sorgen zu können:


    CHRISTGEIST
    Lasst mir eurer Gnade Schein niemal fehlen, so erhol' ich neuen Mut.
    BARMHERZIGKEIT, GERECHTIGKEIT
    Es soll an der Gnade Schein niemal fehlen, wenn der Mensch das Seine tut.
    CHRISTGEIST
    Allzeit will ich trachten, sinnen,
    teure Seelen meinem Schöpfer zu gewinnen, dies soll mein Geschäfte sein.


    INFORMATIONEN ZUM WERK


    Über die Einordnung des hier vorgestellten Werkes als Oratorium kann man diskutieren. Nicht nur das Fehlen des Chores, des wichtigen Bestandteils eines Oratoriums, spricht gegen diese Einordnung, auch die klare Bestimmung als „Geistliches Singspiel“ durch den Textautor Ignaz Anton Weiser spricht dagegen. Merkwürdigerweise wurde jedoch schon nach der Uraufführung von einem „hervorragend geklungenen Oratorium“ geschrieben. Die N(eue) M(ozart) A(usgabe) führt in der entsprechenden Serie die Oratorien, Kantaten und geistlichen Singspiele zusammen und bietet dadurch auch keine eindeutige Lösung an. Da DIE SCHULDIGKEIT DES ERSTEN GEBOTS in einigen Lexika als Oratorium bezeichnet wird, ist die Einordnung im Tamino-Oratorienführer gerechtfertigt.


    Im Vorwort zur Notenausgabe in der NMA teilt der Herausgeber, Franz Giegling, mit, dass über die Entstehung des Werkes nur wenig bekannt ist. Nach dem Mozart-Biographen Otto Jahn war Fürsterzbischof Sigismund von Schrattenbach zwar erstaunt, aber wenig überzeugt vom Erfolg des Knaben Wolfgang auf der Reise nach Paris und London. Daher habe der Kirchenfürst beschlossen, die Probe aufs Exempel zu machen und Wolfgang für eine Woche „in Klausur“ zu sperren, um ihn ein Oratorium auf ein von ihm ausgesuchtes Libretto schreiben zu lassen. Dafür käme aber, so Giegling, kaum KV 35, eher schon wegen des wesentlich geringeren Umfangs die „Grabmusik“ (KV 42/35a) in Frage. Außerdem zeige der Blick auf das Autograph von DIE SCHULDIGKEIT DES ERSTEN GEBOTS, dass Leopold nicht nur ganze Seiten des Textes geschrieben, sondern auch Retuschen an Noten und dynamischen Zeichen vorgenommen habe. Das alleine spräche schon gegen KV 35 als jene „Klausurarbeit“.


    Durchaus für möglich hält es aber Giegling, dass der Fürsterzbischof das gesamte Werk in Auftrag gegeben und dann unter seine drei besten Musiker aufgeteilt hat: Wolfgang bekam den ersten, Johann Michael Haydn den zweiten und Anton Cajetan Adlgasser den dritten Teil zugewiesen. Giegling schreibt weiter, dass „trotz intensiver Nachforschungen“ keine Partituren der Teile zwei und drei, aber auch keine Orchesterstimmen zu Mozarts Werk gefunden werden konnten.


    Durch das Datum der Uraufführung (12. März 1767, festgehalten im Protokoll der Universitätspräfektur) lässt sich Mozarts Kompositionsarbeit auf die Zeit Februar und März eingrenzen. Der junge Meister hielt sich bis ins Detail an die tradierte Form der Salzburger Schuloper, die eine Abwandlung des „Jesuitenspiels“ darstellt, wie sie von Eberlin, Adlgasser, J. M. Haydn, aber auch Leopold Mozart vorgegeben wurden. Dennoch wird in der Musikliteratur in seltener Einmütigkeit darauf hingewiesen, dass Wolfgang mit seinem Melodienreichtum und seiner bereits fortgeschrittenen Orchestrierungskunst über seine Vorbilder hinausreicht. Insofern kann man über die Musik nur Staunen - im Konzertalltag wird das Oratorium wegen des moralinsauren, heute Heiterkeit hervorrufenden Textes keine Rolle mehr spielen.


    Das Autograph befindet sich übrigens im Besitz der englischen Königsfamilie auf Windsor Castle, weil Queen Victorias Ehemann, Prinzgemahl Franz Albrecht August Karl Emanuel von Sachsen-Coburg und Gotha, die Handschrift 1841 von Johann Anton André erwarb; im Jahre 1863 führte es die Königin der Bibliothek von Schloss Windsor zu. Hier fand es 1864 der Haydn-Biograph C. F. Pohl, der es 1865 in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ genau beschrieb und eine Abschrift anfertigte, die zunächst in Otto Jahns Besitz überging, und sich heute in der Deutschen Staatsbibliothek, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, befindet.


    Lange Zeit galt als Librettist, der im gedruckten Libretto nur mit den Buchstaben J.A.W. bezeichnet wird, ein gewisser Johann Adam Wieland, dann kam man auf Jacob Anton Wimmer. Schließlich tauchte in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ein für die Salzburger Aufführung gedrucktes Textbuch auf, das den Namen des Autors voll ausschrieb: Den teutschen Text hat componiret Herr Weiser ein Handels- und Ratsherr. Ignaz Anton Weiser lebte von 1701 bis 1785 in Salzburg, war Inhaber eines Textilhandels und eine Zeitlang auch Ratsherr und Bürgermeister. Seine gedruckten Dichtungen, darunter auch Kantaten für Eberlin und Leopold Mozart, hat er stets mit J.A.W. gekennzeichnet.


    © Manfred Rückert für Tamino-Oratorienführer 2012
    unter Hinzuziehung folgender Quellen:
    Libretto und Partitur (Herausgeber Franz Giegling, Bärenreiter-Verlag)
    Köchel-Verzeichnis
    Mozart-Kompendium

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    MUSIKWANDERER

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  • Die Tamino-Werbepartner Amazon und jpc haben die folgenden Aufnahmen von Mozarts DIE SCHULDIGKEIT DES ERSTEN GEBOTS in ihrem Angebot:



    Diese Brilliant-Ausgabe enthält neben der Freimaurermusik, neben „La Betulia liberata“ auch Mozarts Jugendwerk KV 35. Als Interpreten werden Arleen Auger, Kristina Laki, Sylvia Geszty, Werner Hollweg und Claes H. Ahnsjö genannt; Roland Bader leitet die Berliner Domkapelle.


    Hier die Einzelausgabe des Oratoriums, wie es in der Brilliant-Box enthalten ist.


    Diese DVD enthält neben DIE SCHULDIGKEIT DES ERSTEN GEBOTS auch „Apollo et Hyacinthus“. Die Interpreten bei KV 35 sind: Gerechtigkeit Michiko Watanabe; Barmherzigkeit Cordula Schuster; Christ Peter Sonn; Weltgeist Christiane Karg; Christgeist Bernhard Berchtold; es spielt das Sinfonieorchester der Universität Mozarteum, Leitung Josef Wallnig; die Regie führt Christian Kurt Weiss.


    Die Mitwirkenden der Aufnahme von KV 35 aus der Philips-Mozart-Edition mit den Litaneien, Vespern, Oratorien, Kantaten und der Freimaurermusik sind Margaret Marshall als Barmherzigkeit, Ann Murray als Gerechtigkeit, Inga Nielsen als Weltgeist, Hans-Peter Blochwitz als Christgeist und Aldo Baldin als Christ; es spielt das RSO Stuttgart, Leitung Sir Neville Marriner.

    Eine weitere Aufnahme, von Wolfgang Sawallisch dirigiert, mit den Solisten Lilian Sukis, Norbert Orth, Claes H. Ahnsjö, Margret Price und Edith Mathis, dem Mozarteum-Orchester Salzburg, ist wohl gestrichen.

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    MUSIKWANDERER

  • Lieber Musikwanderer,


    vielen Dank für diese Inhaltsangabe. Die von dir genannte DVD mit dem jungen Ensemble von den Salzburger Festspielen 2006 habe ich kürzlich geschenkt bekommen und mit viel Freuden angeschaut. Die Aufnahme von "Apollo und Hyazinth" habe ich schon etwas länger. Sie stammt aus derselben "Küche". Christiane Karg singt auch dort mit, die anderen Darsteller sind ebenfalls Mitglieder dieses Ensembles.


    Liebe Grüße
    Gerhard

    Regietheater ist die Menge der Inszenierungen von Leuten, die nicht Regie führen können. (Zitat Prof. Christian Lehmann)