Das Lied gehört zu den weniger bekannten Kompositionen Wolfs und lässt gleichwohl die ganze Fülle seiner liedkompositorischen Fähigkeiten erkennen und erleben. Vor allem betrifft dies sein geniales Sich-einlassen-Können auf die lyrische Sprache in ihrer spezifischen melodischen Struktur und der evokativen Kraft ihrer Metaphorik. Mörikes Gedicht besteht aus fünf Strophen, die, formal betrachtet, gleichgewichtig aufeinanderfolgen. Aber Wolf liest das Neben-, ja Gegeneinander von gleichsam naturhaft naiver Frühlingsfreude und religiös motivierter Erfahrung dieser Jahreszeit derart intensiv aus diesem Gedicht heraus, dass er seiner Komposition – den lyrischen Text überschreitend und dennoch ihm in einem tieferen Sinne gerecht werdend – eine Dreigliederung verleiht.
Mit einem leisen Klageruf setzt die melodische Linie ein, - einem zweifachen Terzfall, der mit dem ohne Klavierbegleitung auf einem „c“ deklamierten lyrischen „O“ eingeleitet wird. Um den Klageton zu intensivieren, erfolgt, nachdem die Vokallinie zu einem hohen „des“ aufgestiegen und dort zunächst verblieben ist, ein verminderter Sekundfall bei dem Wort „Beschwerde“, verbunden mit einer harmonischen Rückung.
„Ernst“ wirkt das Schreiten in der melodischen Linie. Dieser Eindruck wird durch die Klavierbegleitung noch verstärkt, die aus einem im Diskant und im Bass gehaltenen Akkord besteht, in den sich in Form einer Fallbewegung ein anderer Akkord einlagert. Eine rhythmische Lastigkeit in der zweiten Takthälfte stellt sich auf diese Weise ein.
Immer wieder, wenn gerade die melodische Linie sich ein wenig lebhafter nach oben bewegt hat, bricht der ernste Geist dieser Woche in sie ein und drängt sie nach unten in die schmerzlichen Klänge verminderter Harmonik. So sollte sich eigentlich die Vokallinie bei dem Wort „Frühlingswonne“ freudig nach oben bewegen. Das Gegenteil ist der Fall: Von einem hohen „des“ bei dem Wort „ernst“ geht es hinunter zu einem tiefen „e“. Und hat sich die melodische Linie gerade bei dem Bild vom „Strahl der Sonne“ zu einem hohen „d“ hinaufbewegt, so drängt gleich bei dem Wort „Kreuzesschatten“ ein verminderter Sekundsprung mit Moll-Harmonisierung in sie hinein.
Pianissimo geschieht das, aber es wirkt gerade deshalb um so schmerzlicher. Und wie gerade zuvor bei „Frühlingswonne“, geht es auch jetzt wieder bei den Worten „lichte Erde“ in tiefe Lage hinab, nun aber mit einem leichten Ansteigen der Vokallinie am Ende der Melodiezeile, - als könne das „Lichte“ an dieser Erde doch nicht ganz unterdrückt werden.
Aber die nachfolgende Melodiezeile will das nicht gelten lassen. Sie ist in ihrer musikalischen Expressivität überaus beeindruckend und ein herausragendes Beispiel für Wolfs kompositorisches Genie. Jener „lichte“ Ton „g“ zu dem sich die melodische Linie gerade bei den Worten „Lichte Erde“ am Ende erhoben hatte, wird jetzt in seiner klanglichen Aussage regelrecht demontiert. Bei den Worten „und senket…“ verharrt die Vokallinie zwar zunächst auf ihm, erhebt sich gar noch um eine Terz, fällt danach aber im Sekundschritt ab und verwandelt dabei dieses „g“ bei diesem Sekundfall zu einem an dieser Stelle jammervoll klingenden „gis“. Und das alles noch begleitet von einem harmonischen Absturz im Klaviersatz.
Nun aber, endlich, kommt mit dem zweiten Vers der zweiten Strophe ein neuer Ton in das Lied. Die Worte „Der Frühling darf indessen immer keimen“ bewirken ein wahres Aufblühen der melodischen Linie, getragen und vorangetrieben von einer lebhafteren Klavierbegleitung. Und als wäre das nicht genug, setzen bei dem lyrischen Bild von den „Jubelliedern“ der „Vöglein“ Triller im Klavierdiskant ein, von rasch auf und ab laufenden Zweiunddreißigstel-Figuren getragen und klanglich untermalt.
Die Triller begleiten die melodische Linie bis zum Ende der Strophe. Aber mit dem lyrischen Stichwort „dumpfe Glockenklänge“ setzen sich dunkle Quinten im Klavierbass unter sie, die sich, da sie in rhythmischer Akzentuierung am Taktanfang aufklingen, wie ein Schatten über die klangliche Helligkeit dieser Strophe legen. Sie endet mit einem wunderbar schwebenden melodischen Bogen auf dem Wort „Himmelblauen“.
Und dann ist der Ernst des Tages klanglich wieder da. Mit einer in Moll harmonisierten und im Sekundschritt fallenden melodischen Linie werden die Veilchen besungen, die heute keine Lockenhaare kränzen dürfen. Die gleiche schmerzlich fallende melodische Linie begleitet sie auch auf ihrem Weg zum „Muttergotteshause“. Und wenn sie dort verwelken sollen, verharrt die Vokallinie mit ernsten Schritten auf einer tonalen Ebene.
„Erstes Zeitmaß“ steht über den Noten zur letzten Strophe. Und ein wenig erinnert die Bewegung der melodischen Linie hier an den Liedanfang. Wieder dieser schmerzlich und klagend wirkende Ton der melodischen Linie mit einem verminderten Terzfall von einem „c“ hin zu einem „as“. Ein wenig Lieblichkeit kommt in die Vokallinie bei den Worten „und süß betäubt“. Aber schon bei dem Wort „Weihrauchdüfte“ schleicht sich wieder die fallende kleine Sekunde mitsamt harmonischer Rückung in sie hinein. Und bei den letzten Worten des Gedichts („alles ist versunken“) geht es mit diesen klanglich so schmerzhaft wirkenden kleinen Sekunden hinab in die melodische und harmonische Tiefe.
Der letzte Ton der melodischen Linie ist ein Halbtonschritt unter die Tonika. Es gibt am Ende für sie keine klangliche Erlösung. Erst das Klavier bringt sie mit seinen letzten Akkorden in das Lied.
(Anmerkung: Das zugrundeliegende Gedicht Mörikes findet sich - mitsamt Kommentar - am Ende der vorangehenden Seite)