Ich sehe gerade: Mein letzter Beitrag ist deplaziert.
Und das gleich doppelt: Er steht am falschen Ort, und er ist zu persönlich gehalten. Besonderes letzteres bewirkt bei mir neuerdings hier im Forum ein höchst ungutes Gefühl.
Also zurück zur Sache!
Hugo Wolf und Eduard Mörike
-
-
Es soll hier kein detaillierter Liedvergleich angestellt werden, die beiden hier vorgestellten Vertonungen von „Gebet“ betreffend. Einige Anmerkungen dazu sind ja bereits bei der Vorstellung des Schoeck-Liedes gemacht. Zu diesem meint der Schoeck-Biograph Hans Corrodi:
„Es ist das einzige Lied, in welchem Schoeck neben seinen Meister tritt; daß sein Gesang an Macht des Ausdrucks und Größe der melodischen Linie dem Hugo Wolfs nicht nachsteht, wird man wohl kaum verhehlen können.“Dieser Feststellung kann man sicher zustimmen. Mit einer Einschränkung freilich: Schoeck erreicht mit seiner Vertonung nicht die melodische Eingängigkeit, die das Lied von Hugo Wolf auszeichnet. Der Grund dafür ist schon vom Höreindruck her zu erfassen, man braucht dazu gar nicht in die Noten zu schauen. Wolf legt die Phrasierung der Vokallinie so an, dass größere versübergreifende Einheiten entstehen, bei denen die einzelnen Melodiezeilen ineinandergreifen und sich auf eine Art Abschluss hin bewegen. Diese Einheiten sind: Die erste Strophe, die ersten drei Verse der zweiten Strophe und schließlich das letzte Verspaar.
Dahinter steht Wolfs liedkompositorisches Grundkonzept: Er folgt nicht genau der Semantik und der Struktur des lyrischen Textes, sondern will die Grundaussage desselben musikalisch erfassen, indem er an der Haltung des lyrischen Ichs ansetzt. Das Lied Wolfs klingt tatsächlich so, als sei es aus eben jener Haltung, die sich in den Versen „Ich bin vergnügt, daß beides // Aus Deinen Händen quillt“ heraus komponiert.
Ganz anders Othmar Schoeck. In dem seinen Liedern gewidmeten Thread wurde darauf hingewiesen, dass er mit seinem liedkompositorischen Konzept einen Art Synthese zwischen Schubert und Hugo Wolf erreichen will. Das beinhaltet also gleichsam einen partiellen Schritt hinter Wolf zurück, - was bei einem Komponisten, der dem zwanzigsten Jahrhundert angehört, ja immerhin bemerkenswert ist.
Diese Orientierung an Schubert ist bei diesem Lied sehr deutlich in der Anbindung der melodischen Linie an die Struktur und die Semantik des lyrischen Textes zu vernehmen. Sie reicht bis hin zur Semantik des einzelnen Wortes. So wird zum Beispiel das Wort „willt“ mit einem Abfallen der melodischen Linie, gepaart mit einer harmonischen Rückung, musikalisch deutlich aus dem expressiven Anfang des Liedes (bei dem Wort „Herr“) zurückgenommen, um ihm jeglichen Charakter einer Forderung zu nehmen.
Das Wort „Leides“ wird von „Liebes“ wiederum deutlich mittels einer Moll-Einfärbung abgesetzt. Hingegen wird dann das Wort „beides“ durch einen Sprung der melodischen Linie in höhere Lage signifikant hervorgehoben. Es ist schließlich von zentraler Bedeutung für die dichterische Aussage.
Die Melodiezeile des Verses „Und wollest mit Leiden“ hebt sich markant ab von jener, die auf dem Vers „Wollest mit Freuden“ liegt. Diese weist einen lieblichen Ton auf, der mit dem kleinen Bogen auf dem Wort „Freuden“ eine Steigerung erfährt. Die andere setzt hingegen in tieferer Lage an, wirkt klanglich zurückgenommen, und der Bogen auf dem Wort „Leiden“ greift weniger nach oben aus.
Die Wortnähe des liedkompositorischen Konzepts ist besonders schön daran zu erkennen, wie das – ebenfalls lyrisch wichtige – Wort („in der …“) „Mitten“ musikalisch hervorgehoben wird. Die melodische Linie macht hier einen Quintfall und hält danach, weil eine Pause folgt, einen Augenblick inne, bevor sie mit dem letzten Vers ihre Bewegung fortsetzt.
Die weniger ausgeprägte Eingängigkeit der Vokallinie bei Othmar Schoeck, die über die Qualität des Liedes selbst nichts aussagt, hat also ihre Wurzeln in eben dieser Orientierung an der Textnähe des Schubertliedes. Man ist versucht zu sagen: Nur ein Schubert konnte aus diesem liedkompositorischen Ansatz auch eine eingängige Melodik hervorzaubern.
Othmar Schoeck möge mir diese Äußerung nachsehen. -
Die weniger ausgeprägte Eingängigkeit der Vokallinie bei Othmar Schoeck, die über die Qualität des Liedes selbst nichts aussagt, hat also ihre Wurzeln in eben dieser Orientierung an der Textnähe des Schubertliedes. Man ist versucht zu sagen: Nur ein Schubert konnte aus diesem liedkompositorischen Ansatz auch eine eingängige Melodik hervorzaubern.
Lieber Helmut,die eingängige "Melodie" wollte Schoeck vielleicht ganz bewußt vermeiden?? Immerhin von Robert Schumann stammt ja das Zitat: "Die Melodie ist das Feldgeschrei der Dilettanten!"
Schöne Grüße
Holger -
Zit.: „die eingängige "Melodie" wollte Schoeck vielleicht ganz bewußt vermeiden??“
Das wollte er ganz gewiss, lieber Holger. Und darin folgte er jener Maxime von Schumann, die Du zitiertest. Die Gründe dafür glaube ich in meinem vorangehenden Beitrag aufgezeigt zu haben.Aber dieser Maxime folgten alle große Liedkomponisten, - aus unterschiedlichen Motiven freilich. Schumann meinte in jenem Zitat mit dem Begriff „Melodie“ eine nicht aus der Begegnung mit dem lyrischen Text generierte, und damit musikalisch aussagekräftige Melodik, sondern eine, die vordergründig lediglich auf den Effekt des schönen Melos abzielt und sich darin erschöpft.
Das Thema „Melodie“ ist, was die Liedkomposition betrifft, ein überaus komplexes, rätselhaftes - und deshalb für den, der sich damit hörend und reflexiv auseinandersetzt höchst heikles. Die großen Liedkomponisten unterscheiden sich nämlich ganz wesentlich darin, welches musikalische Gewicht sie der melodischen Linie der Singstimme geben und welchen Grad an Priorität sie ihr gegenüber dem Klaviersatz beimessen.
Auf dieses Thema habe ich mich im Thread „Sprache und Musik im Lied“ einzulassen versucht. Ich darf diejenigen, die sich dafür interessieren, auf die dortigen Ausführungen dazu verweisen.
-
Außer Hugo Wolf und Othmar Schoeck hat sich keiner der großen und bekannten Liedkomponisten auf dieses Gedicht Mörikes eingelassen. Wenn Komponisten es vertont haben, dann – wie Hugo Distler zum Beispiel – in Gestalt eines Chorliedes oder einer Komposition für Singstimme und Orgel. Sie haben also den lyrischen Text, ausgehend von dem in der Gedichtüberschrift artikulierten Thema, als eine in christlichem Glauben wurzelnde dichterische Aussage gelesen.
Die einzigen Klavierlied-Fassungen, die ich außerdem noch finden konnte und deren Komponisten mir etwas sagen, sind die von Felix Paul Weingartner (1863-1942) und Richard Trunk (1879-1968).
Man kann dieses Gedicht als „Gebet“ lesen, wie die Überschrift dies signalisiert. Aber es erschöpft sich nicht darin. Hinter diesen an den „Herrn“ gerichteten Worten steht das Ringen eines modernen lyrischen Ichs um die rechte innere Haltung der Welt und all den Anforderungen gegenüber, die es an sie stellt. Im Grunde ist ja doch die Haltung der Demut, dieses „Herr, schicke, was (immer) du willst“, ich werde es annehmen, weil es aus deinen Händen kommt“, eine gleichsam „erarbeitete“, eine die das lyrische Ich sich abgerungen hat. Die Betonung des inneren „Vergnügt-Seins“ weist indirekt darauf hin.
Beide Komponisten, Hugo Wolf wie auch Othmar Schoeck, haben das Gedicht – wie ich meine – so gelesen. Mit dem wesentlichen Unterschied aber, dass bei Schoeck dieser Akt des Sich-Abringens der Haltung der Demut sozusagen musikalische Gegenstand des Liedes ist, während er für Wolf bereits vollzogen ist. Er komponiert aus der Haltung heraus, die das Gedicht in seiner Gesamtheit macht: Die Aussage der ersten Strophe prägt die musikalische Gestalt des ganzen Liedes.
Wie ein Beleg dafür wirkt die unterschiedliche kompositorische Gestaltung der beiden letzten Verse.
Bei Schoeck geht diesen beiden Versen erst einmal ein kurzes Zwischenspiel voraus. Sie werden also vom vorangehenden musikalischen Geschehen abgesetzt, und was folgt, wirkt gleichsam wie eine Bilanz. Die kleine Melodiezeile, die auf den Worten „Doch in der Mitten“ liegt, wirkt ebenfalls musikalisch abgesetzt und damit herausgehoben, weil ihr eine kurze Pause folgt. Das wiederum hat zur Folge, dass die Worte „liegt holdes Bescheiden“ ebenfalls in markanter Weise musikalisch hervorgehoben wirken. Und wie nach einem kurzen Zögern der musikalischen Linie bei dem Wort „liegt“ erklingt dann das lyrische zentrale „holdes Bescheiden“.
Man sollte nun denken, dass dieses Wort, eben weil es ein so gewichtiger Träger der lyrischen Aussage ist, seinerseits einen herausgehobenen musikalischen Akzent trägt. Das aber ist nicht der Fall. Nachdem die melodische Linie bei „holdes“ noch einmal aufgipfelt, fällt sie bei „Bescheiden“ nicht nur ab, sie macht sogar bei der zweiten Silbe auch noch einen kurzen, mit einer harmonischen Rückung verbundenen Schritt ins Moll.
Man empfindet das, als würde das Sich Bescheiden gerade in diesem Augenblick in der Musik stattfinden. Es ist also eine musikalische Aussage, die sich als Resultat dessen darstellt, was sich zuvor im Lied ereignete.
Ganz anders bei Hugo Wolf. Auch bei ihm sind die sprachlichen Elemente der beiden letzten Verse musikalisch voneinander abgesetzt. Die Worte „Doch in der Mitten“ werden wiederholt, wobei die Vokallinie einen rezitativischen Ton annimmt und beim zweiten Mal die gleiche Bewegung auf tonal höherer Ebene macht. Die lyrische Aussage bekommt dadurch ein besonderes Gewicht: Das für sie so wichtige Wort „Mitte“ wirkt musikalisch herausgehoben.
Die letzten Worte des Gedichts weisen aber bei Wolf einen ganz anderen musikalischen Akzent auf. Sie wirken nicht wie eine Erkenntnis, die das lyrische Ich sich abgerungen hat, sondern wie die heitere Bekräftigung einer Haltung, die es von Anfang an hatte. Der Grund dafür ist in der musikalischen Faktur zu finden. Bei dem Wort „liegt“ hält die melodische Linie der Singstimme einen Augenblick in hoher Lage inne, und nach einer Achtelpause beschreibt sie eine in einem kleinen Bogen noch einmal aufgipfelnde Abwärtsbewegung, die nach diesem kurzen Innehalten wie ein entspanntes Ausatmen wirkt. Dieser Eindruck wird auch ganz wesentlich vom Klaviersatz mitbestimmt: Dort entfaltet sich nämlich eine heiter fließende melodische Linie im Diskant.
-
Schlaf! süßer Schlaf! obwohl dem Tod wie du nichts gleicht,
Auf diesem Lager doch willkommen heiß ich dich!
Denn ohne Leben so, wie lieblich lebt es sich!
So weit vom Sterben, ach, wie stirbt es sich so leicht!Bei diesem Gedicht handelt es sich um die Nachdichtung eines in spätlateinischer Sprache abgefassten kleinen Werkes des einem berühmten niedersächsischen Geschlecht entstammenden Gelehrten und Dichters Heinrich Meibom (1555-1625). Es ist Mörike mehr oder weniger zufällig in die Hände geraten. Er war so angetan, ja begeistert davon, dass er zunächst eine Übersetzung versuchte, dann sich aber doch zu einer Nachdichtung entschied.
Das lateinische Vorbild schimmert noch in Gestalt einer gewissen formalen Strenge durch: Vier Verse aus sechsfüßigen Jamben, nach dem umarmenden Reimschema abba zusammengefügt. Die metrische Strenge ist im ersten Vers zu spüren, weil sie sich mit dem Rhythmus der deutschen Sprachmelodie stößt: Das Wort „Schlaf“ am Versanfang muss eigentlichen einen Ton tragen.
Aber diese metrische Strenge ist ja eigentlich der gleichsam sinnliche Quellgrund der dichterischen Aussage: Sie verleiht dem, was da lyrisch gesagt, - nein, eigentlich nur evoziert wird - , sein ganz eigenes Gewicht, weil es ihm metrische Strenge auferlegt. Und lyrisch evoziert wird: Die dem Schlaf eigene Nähe zum Tod.
Der Dichter spielt damit. Er lässt dabei alles in einer eigentümlichen und im Grunde ein wenig erschreckenden Ambivalenz. Das Wort „obwohl“, gleich im ersten Vers, ist dafür der lyrische Auslöser. Der Schlaf wird willkommen geheißen, obwohl der doch wie nichts sonst dem Tode gleicht. Und der Grund: Er befreit von der schweren Last des Lebens.
Erschreckend, weil in seiner lyrisch-sprachlichen Widersprüchlichkeit irritierend, ist der Vers: „Denn ohne Leben so, wie lieblich lebt es sich.“ Und ebenso irritierend die in sich widersprüchliche, ja eigentlich absurde Feststellung: „So weit vom Sterben, ach, wie stirbt es sich so leicht.“ Todessehnsucht artikuliert sich hier lyrisch. Es ist die zutiefst romantische Wunschvorstellung einer Erlösung aus den Zwängen der Individuation durch den Tod.
Aber dies ist kein romantisches Gedicht mehr. Romantische Lyrik kennt kein „obwohl“. Dieses Wort ist das sprachliche Fanal der dichterischen Modernität seines Schöpfers.
-
„Sehr ruhig“ lautet die Vortragsanweisung für dieses Lied. Und in der Tat: Die Vokallinie bewegt sich überaus ruhig und will, obgleich sie da und dort auch größere Intervalle nimmt, eigentlich doch lieber auf der Tonhöhe verbleiben, die sie gerade erreicht hat, und sie in Form von Dehnungen melodisch auskosten.
Und doch gibt es eine Unruhe in diesem Lied. Sie ist untergründig, weil sie sich in der Harmonisierung der Vokallinie ereignet, im Klaviersatz also. Hier vollzieht sich ein Wechsel von anfänglichem As-Dur über ein zwischenzeitliches a-Moll hin zu einem gleichsam endzeitlichen E-Dur, - und das über wie endlos wirkende chromatische Vorhaltketten, bei denen man immer die Tristan-Harmonik aufklingen hört.
Die Frage stellt sich: Warum diese harmonische Unruhe in einer ruhig sich bewegenden Vokallinie und bei lyrischen Versen, die sprachmelodisch-rhythmisch, wie metaphorisch Ruhe ausstrahlen?
Aber das tun sie ja, wie oben gezeigt wurde, auf dem Hintergrund der Ambivalenz des Schlafes in seiner Nähe zum Tod nicht wirklich. Und Wolf hat ganz offensichtlich seine Komposition vom letzten Vers ausgehend angelegt, von den Worten: „Ach, wie stirbt es sich so leicht“. Indirekt artikuliert sich hier Todessehnsucht. Die vielen Vorhalte mit ihrer mehrfach verzögerten Auflösung, von denen das Lied klanglich so stark geprägt ist, sind wohl als Ausdrucksmittel zur musikalischen Artikulation dieser untergründigen Todessehnsucht zu verstehen.
Die Worte „Schlaf! süßer Schlaf“ werden vom nachfolgenden lyrischen Text deutlicher abgesetzt, als dies im Gedicht selbst von seinem Metrum her der Fall ist. Ein Bogen mit einem Sekundfall liegt auf dem Wort „Schlaf“. Die nachfolgende Viertelpause, die dazu führt, dass das Wort „süßer“ melodisch erst mit dem zweiten Takt kommt, verleiht diesem Liedanfang eine starke Expressivität. Sie setzt sich fort mit dem verminderten Quartsprung bei dem Wort „süßer“ und der nachfolgenden, den ganzen Takt ausfüllenden Dehnung auf dem neuerlich auftauchenden Wort „Schlaf“. Es bekommt auf diese Weise die zentrale Stellung im Lied, die ihm der lyrische Text zuweist.
Für den zweiten Teil des ersten Verses nimmt die melodische Linie einen gänzlich anderen Ton an: Das lyrische Wort „Tod“ gibt dafür das musikalische Stichwort. Die Vokallinie verharrt zunächst auf einem Ton, sinkt bei dem Wort „Tod“ um eine kleine Sekunde ab und erhebt sich danach in zwei Schritten um eine Sexte, um dem Wort „nichts“ den ihm gebührenden Nachdruck zu verleihen. Aus dem gleichen Grund erfolgt auch die Aufgipfelung der melodischen Linie mitsamt Dehnung und harmonischer Rückung bei den Worten „willkommen heiß ich dich“.
Die Genialität Wolfs leuchtet wieder einmal am Ende dieser Melodiezeile auf. Bei „heiß ich“ ist die melodische Linie in einem – fast überraschenden – Dur harmonisiert. Die Musik suggeriert hier ein uneingeschränkt positives „Willkommen“. Bei dem Wort „dich“ erklingt aber ein - nun hier wirklich gänzlich unerwarteter – verminderter Terzfall, der in einen disharmonischen Akkord getaucht ist. Die positive Erwartungshaltung wird mit einem musikalisch bitteren Beigeschmack versehen. Die Nähe des Todes leuchtet klanglich am Ende in die Melodiezeile hinein.
Beim dritten Vers ereignet sich in der melodischen Linie eine überaus expressive Aufgipfelung bei den Worten „wie lieblich lebt es sich“. Sie verbleibt über das ganze Wort „lebt“ hin in Form einer Dehnung auf einem hohen „e“ und fällt danach in einem triolischen Bogen auf ein „h“ ab. Bei den Worten „So weit vom Sterben, ach“ steigt sie in klanglich fast dramatischer Weise in kleinen Schritten zu einem hohen „fis“ auf und verharrt dort, um dem Ausruf „ach“ den ihm gebührenden musikalischen Nachdruck zu verleihen.
Höchst expressiv ist dann der langsame Fall der melodischen Linie bei den Worten „wie stirbt es sich so leicht“. Zunächst geschieht das in Sekundschritten. Diese verengen sich dann aber zu kleinen Sekunden, und bei dem Wort „leicht“ bleibt die melodische Linie nach einem letzten Halbtonschritt auf einem im harmonischen Feld fremden „a“ stehen.
Im Klaviersatz folgt eine Disharmonie auf die andere, bevor am Ende, wie eine klangliche Erlösung wirkend, im Piano-Pianissimo im Diskant ein heller E-Dur-Akkord aufklingt, dem im Bass ein dunkler nachfolgt.
-
Zit.: "Hier merkt man das Versinken in den Schlaf finde ich nicht zuletzt an der zeitlichen Dehnung, der Aufhebung der Sukzession, das ungewöhnlich lange Verweilen bei den einzelnen Worten."
Ja, das ist eine treffende Beobachtung. Vielen Dank, dass Du auf diese Eigenart des Liedes hingewiesen hast, lieber Holger. Bei mir ist das nicht hireichend deutlich geworden.
-
Das Lied entstand am 4. Oktober 1888. Als Wolf im Oktober 1890 Arnold Mendelssohn (1855-1933), einem Verwandten von Felix Mendelssohn Bartholdy, einen Besuch abstattete, trug er u.a. auch dieses Lied vor. Als Mendelssohn vorsichtige Zweifel an der Richtigkeit der musikalischen Deutung des Gedichts anmeldete, gab ihm Wolf, wie das in solchen Fällen seine Art war, schroff zur Antwort:
„Da können Sie Gift drauf nehmen, dass bei mir alles richtig ist!“
Wie immer war er vollkommen davon überzeugt, die lyrische Aussage musikalisch adäquat erfasst zu haben. Und auch in diesem Fall hatte er wohl recht, - aus seiner Sicht. Allerdings liegt dieser sein ganz eigenes Verständnis des Mörike-Gedichts zugrunde.Nun weiß ich nicht, weil es nicht überliefert ist, was Mendelssohn im einzelnen einzuwenden hatte. Aber es könnte durchaus sein, dass er in seiner Leseweise der Verse von Mörike nicht so weit gehen wollte, wie Hugo Wolf das kompositorisch tat. Wenn man nämlich den Klängen seines Liedes genau lauscht, dann meint man zu hören, dass er einen Schritt über Mörike hinausgeht: Der Schlaf scheint am Ende in den Tod überzugehen. Das Klaviernachspiel mit seinem Hinübergleiten aus all der As-Dur- und a-Moll-Chromatik hin zu einem hellen, klaren, aber im Pianissimo verklingenden E-Dur suggeriert dies jedenfalls.
Aber vielleicht gibt es ja auch eine in der – für viele ungewöhnlich herben, ja schroffen - Klanglichkeit des Liedes wurzelnde Erklärung für diese Reaktion von Mendelssohn. Sie war wohl – wie ich mir von D. Fischer-Dieskau sagen ließ – kein Einzelfall. Bei diesem lese ich nämlich:
„Wolfs Häufung von sterbensmüden Vorhalten irritierte selbst die Freunde beim ersten Hören, so daß sie erst vom Komponisten in die Logik solcher Exzesse eingeführt werden mußten.“Nun ist das Wort „sterbensmüd“ bei dieser Häufung von chromatischen Vorhaltketten, die sehr in die Nähe der Tristan-Chromatik geraten, ja sicherlich angebracht: Es trifft den klanglichen Grundcharakter dieses Liedes sehr genau. Und dieser wiederum hat seine kompositorische Wurzel im dichterischen Gehalt des lyrischen Textes. Die Ambivalenz, die dieser in den Aussagen des lyrischen Ichs über den Schlaf zum Ausdruck bringt, greift schon das Klaviervorspiel mit seiner schmerzlich durch weit auseinanderliegende Tonarten wandernden Chromatik auf.
Und dies setzt sich ja in dem die Singstimme begleitenden Klaviersatz fort. Man kann sich beim Verfolgen der melodischen Linie der Singstimme nicht des Eindrucks erwehren, dass diese bei den immer wieder unternommenen Versuchen, sich in größere Höhen zu erheben, von der Chromatik des Klaviersatzes und seinen wie nach Erlösung rufenden Vorhalten regelrecht herabgezogen wird. Auf besonders eindrucksvolle Weise kann man das bei den letzten Worten des Liedes vernehmen, wo die Vokallinie von einem hohen „fis“ zu einem „a“ abfällt.
Und man weiß nicht recht, wie man dieses „Ach, wie stirbt es sich so leicht“ hören soll. Drückt diese fallende melodische Linie nur Müdigkeit aus? Oder liegt darin ein stilles Einverständnis mit dem Tod? Die chromatischen Akkorde im Klaviersatz, die ja ansteigen, während die melodische Linie der Singstimme wie zum Ruhepunkt hinstrebend herabsteigt, legen eigentlich letzteres nahe. Und die harmonische Auflösung, die die chromatischen Vorhalte permanentverlangen, ohne dass sie ihnen gewährt wird, tritt mit den letzten E-Dur-Akkorden tatsächlich ein.
Macht man sich als Hörer dieses Liedes all dieses bewusst, dann kann man sehr gut verstehen, dass es auf die Zeitgenossen Hugo Wolfs verstörend gewirkt haben mag.
-
Sie war wohl – wie ich mir von D. Fischer-Dieskau sagen ließ – kein Einzelfall.
Lieber Helmut,hochinteressant, was Du schreibst! Schade, daß wir keinen direkten Vergleich haben - oder fällt Dir bei Mendelssohn etwa ein thematisch Vergleichbares ein, was erhellend sein könnte? Verstehe ich das richtig? Hast Du mit Fischer-Dieskau persönlich über solche Fragen diskutieren können? Wenn dem so ist, dann ist das beneidenswert!
Schöne Grüße
Holger -
Du fragst, lieber Holger: "Hast Du mit Fischer-Dieskau persönlich über solche Fragen diskutieren können? "
So etwas war so eine Art Lebenstraum von mir. Aber Fischer-Dieskau war für Normal-Sterbliche völlig unzugänglich. Das von Dir gebrachte Zitat ist eine etwas blumige Umschreibung meiner Lektüre-Erträge in den Büchern Fischer-Dieskaus.
Noch eine Anmerkung zu dem Thema "Mörike-Vertonungen von Hugo Distler".
Ich habe zweiterbass schon wissen lassen, dass ich mich nicht an diesem Thema beteiligen werde. Der Thread ist dem Thema "Hugo Wolf und Eduard Mörike" gewidmet. Meines Erachtens sollten die Mörike- Vertonungen von Distler in einem eigenen Thread behandelt werden.
Und dies aus zwei Gründen: Hierbei geht es um eine eigene musikalische Gattung, die nur wenig Ansätze zum Vergleich mit dem Klavierlied bietet. Und zweitens: Distlers Chorlieder sind ein umfängliches musikalisches Opus, das in diesem Rahmen nur in höchst unzulänglicher Weise betrachtet werden kann. Geschähe es in angemessenem Rahmen, würde es diesen Thread sprengen.Warum also keinen Thread: "Hugo Distler und Eduard Mörike" - unter permanenter Bezugnahme auf das, was hier zu den einzelnen Liedern gesagt wird? Dieses Parallel-Agieren zu einem Thema in verschiedenen Threads wird hier ohnehin viel zu wenig praktiziert.
Ich werde jedenfalls von nun an zügig voranschreiten, um die Sache hier zu Ende zu bringen. Das Interesse an Hugo Wolf scheint mir ohnehin nicht sehr groß zu sein.
-
Das Interesse an Hugo Wolf scheint mir ohnehin nicht sehr groß zu sein.
Ein gewagter Schlußsatz. Um hier mitreden zu können, hilft Interesse allein nicht weiter. -
Zit.: "Um hier mitreden zu können, hilft Interesse allein nicht weiter. "
Aber wieso das denn, lieber hami1799? Das verstehe ich jetzt nicht. Man kann doch, wenn man eines dieser hier besprochenen Lieder kennt, etwas dazu sagen. Und wenn es auch nur ein Bekenntnis ist, dass man dieses oder jenes an ihm liebt - oder nicht mag.
Das wäre doch schön!
-
Mehr als in allen anderen Liedern des Mörike-Opus offenbart sich Wolf in diesem Lied als Wagner- …Schüler?, - Verehrer?, - Bewunderer? …
Wohl von allem etwas. Denn man vernimmt hier immer wieder die Tristan-Harmonik mit ihrem tonal nach oben ausholenden Schwelgen in Vorhalt-Dissonanzen.
Eigentlich ja kein Wunder, denkt man. Das lyrische Stichwort „süßer Schlaf“, das Mörike liefert und in seiner Todesnähe lyrisch reflektiert, legt für Wolf das kompositorische Spiel mit der Tristan-Harmonik regelrecht nahe.Das Schöne – und für ihn Bezeichnende! – ist aber, dass er dies nicht in vordergründiger, auf den schieren klanglichen Effekt abzielender Weise tut, also nicht wirklich damit spielt, sondern funktional nutzt, - im Sinne der musikalischen Deutung der lyrischen Aussage.
Das harmonisch zwiespältige Schillern der Tristan-Harmonik ist für Wolf die musikalisch adäquate Antwort auf jene tiefe Zwiespältigkeit, die er aus Mörikes Versen herausgelesen hat. Und hört man dieses Lied, so findet man: Er hat recht damit gelegen!
-
Kann auch ein Mensch des andern auf der Erde
Ganz, wie er möchte, sein?
- In langer Nacht bedacht ich mirs, und mußte sagen, nein!So kann ich niemands heißen auf der Erde,
Und niemand wäre mein?
- Aus Finsternissen hell in mir aufzückt ein Freudenschein:Sollt ich mit Gott nicht können sein,
So wie ich möchte, Mein und Dein?
Was hielte mich, daß ichs nicht heute werde?Ein süßes Schrecken geht durch mein Gebein!
Mich wundert, daß es mir ein Wunder wollte sein,
Gott selbst zu eigen haben auf der Erde!Der Charakter dieses Gedichts als lyrische Meditation drückt sich im dritten Vers seiner ersten Strophe aus: „In langer Nacht bedacht ich mirs…“. Es ist ein so ganz und gar typisches Mörike-Gedicht. Dies in seinem lyrischen Potential, in dem sich gedankliche Tiefe mit sprachlicher Einfachheit, Direktheit und Unmittelbarkeit der dichterischen Aussage auf faszinierende Weise paart.
Wo ist das zu lesen und zu hören? Darin zum Beispiel. Eigentlich geht es ja um die Frage, ob der Mensch mit einem anderen so zusammen sein und leben kann, dass beide eine innige Einheit bilden. Bei Mörike aber wird das lyrisch zu einem „Ganz-Sein“. Das ist mehr als nur ein „Zusammen-Sein“.
Und diese lyrische Reduktion auf das existenziell Elementare setzt sich in diesem Gedicht fort. Schon im ersten Vers der zweiten Strophe. „Niemands heißen“- , diese lyrische Wortschöpfung ist von sprachlich unmittelbarer Radikalität. Es geht nicht nur um Zugehörigkeit und um Gemeinsamkeit. Es geht um das „Heißen“. Und damit ist die menschliche Identität lyrisch ins Wort gesetzt.
Mit dem anderen Menschen ist diese Form von wahrer, weil identitätsstiftender Gemeinsamkeit nicht zu finden. Aber da ist ja der „Freudenschein“, - in nächtlicher Finsternis hell aufzückend. Er verdichtet sich lyrisch in dem Wort „Gott“. In ihm allein ist ein Zugleich von Mein und Dein möglich. Ein Zugleich, in dem das eine das andere nicht um der Selbstbehauptung willen auslöscht.
Lyrik, die in ihrer gedanklichen Tiefgründigkeit auf anrührende Weise sprachlich schlicht sich artikuliert. Diese Schlichtheit hat ihren gleichsam lyrischen Nenner in den Worten: „Mich wundert“.
-
„Langsam und mit der innigsten Empfindung“ ist das Lied vorzutragen. Gemeint ist von Wolf damit wohl die tiefe innere Betroffenheit von dem, was sich hier monologisch und in durchaus teilweise dramatischer Form musikalisch-lyrisch artikuliert. Das lyrische Ich setzt sich Fragen aus, die es innerlich stark bedrängen, und es findet schließlich die Antwort, die eine im Glauben ist. Wolf hat diesen lyrisch-monologischen Prozess auf eindrucksvolle Weise in Musik gesetzt.
„Sehr ausdrucksvoll“ erklingt im zweitaktigen Vorspiel ein musikalisches Motiv, das dann von der Singstimme aufgegriffen wird. Es ist eine von einem hohen „d“ zu einem „fis“ herabsteigende melodische Linie, die zunächst in mittlerer Lage verbleibt, dann sich aber am Ende bis zu einem hohen „f“ aufschwingt. Die zentrale Frage des Gedichts/Lieds wird hier gestellt, und die Aufgipfelung der melodischen Linie bei den Worten „ganz“ und „sein“, die im zweiten Fall mit einem Sextsprung und einer Dehnung verbunden ist, macht auf musikalisch eindringliche Weise den Grad der inneren Betroffenheit nachvollziehbar, mit der sie ausgesprochen wird.
In rezitativischer Form vorgetragen, auf einer Tonebene verbleibend und von einem lang gehaltenen Des-Dur-Akkord getragen, hört man die Antwort: „in langer Nacht bedacht ich mirs…“. Das nachfolgende „und musste sagen, nein!“ wird auf einer im Sekundschritt in tiefe Lage fallenden melodischen Linie gesungen, an deren Ende ein überaus expressiver Septsprung mit Dehnung steht. Das Wort „nein“ wirkt wie herausgestoßen. Drei c-Moll-Akkorde tragen es, vom Forte ins Pianissimo absinkend.
„Leidenschaftlich“ steht am Beginn der Faktur zur zweiten Strophe. Die melodische Linie bewegt sich rasch, fast drängend in hohe Lage hinauf. Bei „und niemand“ macht sie einen verminderten Quintsprung zu einem hohen „g“, von dem aus sie bei dem Wort „mein“ wie bohrend um eine kleine Sekunde höher steigt. Dort verharrt sie. Eine Pause folgt. Die Schrecklichkeit des Gedankens darf sich entfalten.
Danach eilt die Vokallinie bei den Worten „Aus Finsternissen hell in mir aufzückt ein Freudenschein“ über einem lang gehaltenen Tremolo in Bass und Diskant auf äußerst dramatische Weise im Sekundschritt hinauf zu einem hohen „as“, macht aber noch innerhalb des Wortes „Freuden“ einen Oktavfall, um danach über einen Septsprung erneut zu diesem hohen „as“ aufzusteigen. Der Gedankenblitz, in dem die Gemeinschaft mit Gott in die Qual der Fragen einbricht, ist hier in musikalisch äußerst expressiver Weise gestaltet. Nach dem Wort „Freudenschein“ erklingt ein Zwischenspiel im Fortissimo. Oktaven steigen im Diskant auf und ab, von in harmonischer Rückung ebenfalls aufsteigenden Akkorden im Bass begleitet.
Die Vision einer Gemeinschaft mit Gott wird mit einer „sehr innigen“ (Anweisung) melodischen Linie beschworen, die sich zunächst lebhaft auf einer tonalen Ebene bewegt, bei den Worten „Mein und Dein“ dann aber mit einem Quartsprung aufgipfelt. Auch bei den Worten „heute werde“ drückt sich das Entzücken in einem kleinen melodischen Bogen aus, der in einen verminderten Sextfall mündet.
Dieses Sich-Bewegen in hoher Lage, die mehrfach mit Sprüngen über ein großes Intervall angesteuert wird, prägt die Vokallinie in den letzten beiden Strophen. Bei dem Wort „Gott“ ereignet sich eine äußerst expressive Aufgipfelung in Gestalt einer langen Dehnung auf einem hohen „g“ über einem in Forte-Fortissimo artikulierten B-Dur-Quartsextakkord.
Danach fällt die Vokallinie wie erschöpft von dem gerade zum Ausdruck gebrachten Entzücken über zwei Takte hin langsam im Sekundschritt über mehr als eine Oktave herab auf ein tiefes „c“. Pianissimo folgt ein „feierlich gemessenes“ akkordisches Nachspiel.
-
Deshalb noch einmal mein Vorschlag: Ein eigenständiger Thread "Hugo Distler und Eduard Mörike". Und das mit ständiger Bezugnahme auf die hier besprochenen Hugo Wolf-Vertonungen, um den Unterschied im kompositorischen Zugriff auf den lyrischen Text deutlich werden zu lassen.
Lieber Helmut,Deinem Vorschlag folgend habe ich gestern die Moderation gebeten, ein Thread "Hugo Dislter - Das Mörike-Chorliederbuch" zu eröffnen und die entspr. Beiträge dorthin zu verschieben. Leider ist meiner Bitte bislang noch nicht entsprochen worden (?)
Viele Grüße
zweiterbass -
Das freut mich überaus, lieber zweiterbass. Ich fände es großartig, wenn zum Thema "Mörike-Vertonungen" zwei Threads parallel liefen und man darin ständig aufeinander eingehen könnte.
Das wäre mal etwas wirklich Neues, weil es es eine perspektivische Erweiterung und damit auch Vertiefung der Beschäftigung mit diesem musikalischen Gegenstand zur Folge haben könnte.Eine hochinteressante Frage wäre ja zum Beispiel die der Auswahl aus dem Mörike-Lyrikwerk. Warum hat zum Beispiel der an geistlicher Musik so sehr interessierte Komponist Hugo Distler das in seiner Thematik zutiefst religiöse Gedicht "Neue Liebe", das ich gerade hier in der Hugo Wolf-Vertonung vorgestellt habe, nicht seinerseits als Chorlied vertont?
-
Das freut mich überaus, lieber zweiterbass. Ich fände es großartig, wenn zum Thema "Mörike-Vertonungen" zwei Threads parallel liefen und man darin ständig aufeinander eingehen könnte.
Das wäre mal etwas wirklich Neues, weil es es eine perspektivische Erweiterung und damit auch Vertiefung der Beschäftigung mit diesem musikalischen Gegenstand zur Folge haben könnte.
Dem kann ich mich nur anschließen, lieber Helmut! Ich freue mich schon darauf!Schöne Grüße
Holger -
Das Lied entstand – mit „An den Schlaf“ zusammen - am 4. Oktober 1888. Es gehört zu der Gruppe von Liedern bei deren Komposition Wolf, wie er Friedrich Eckstein gegenüber bekannte, „oft genug die Tränen über die Wangen gerollt“ seien. Es muss also dabei sehr viel innere Anteilnahme an der Aussage des lyrischen Textes, ja personale Betroffenheit im Spiel gewesen sein.
Das nun wiederum scheint auf den ersten Blick verwunderlich, geht es doch im Gedicht Mörikes von der zentralen dichterischen Aussage her um Gottsuche. Der angebliche Biedermeier-Idylliker Mörike gibt darin wieder einmal Einblick in sein von Selbstzweifeln und dem Ringen um den rechten Weg des Glaubens gequältes Inneres.
Nun kann man nicht behaupten, dass Wolf ein Mensch von großer Glaubenstiefe gewesen sei und einer, den solche Fragen umtrieben, wie Mörike sie zum Gegenstand seines Gedichts gemacht hat. Dazu geben die historischen Quellen keinen Anlass. Wo könnte also die Wurzel für diese innere Anteilnahme zu suchen sein?
D. Fischer-Dieskau meint hierzu:
„Wen kann es bei dem kranken Wolf verwundern, dass er an der irdischen Liebe verzweifelte und das erhabene Einswerden mit Gott suchte?“Ich kann ihm in diesem Gedanken folgen und würde in diesem Zusammenhang auf die unglücklich verlaufenden Versuche Wolfs verweisen, eine in Liebe gründende Bindung zu einer Frau zu entwickeln. Da gibt es bei ihm eine – vielleicht auch z.T. in seiner syphilitischen Erkrankung wurzelnde – Bindungsscheu. Man kann das, wenn man sich mit seiner Biographie beschäftigt, gleich mehrfach erleben.
Ganz bezeichnend etwa die kurze Liebesbeziehung zu der Mezzosopranistin Frieda Zerny, die sich 1894 entwickelte. Schon bei der ersten Probe zu einem Liederabend meldete sich in ihm eine tiefe Furcht, er könne sich in diese junge Frau verlieben. „Das fehlte nur noch zu all meinem Pech“, schrieb er der Baronin Lipperheide. Offensichtlich schwangen dabei die leidvollen Erfahrungen mit, die er in seiner Beziehung zu Vally Franck machte. Jedenfalls rückte er, nach einer kurzen Phase großer Verliebtheit, noch im gleichen Jahr wieder von Frieda Zerny ab. Er kommentierte dies mit den Worten:
„Wenn sich unsere Liebe nicht als machtvoll genug erweist, diese Schrecken zu bannen, bin jedenfalls ich der leidendere Teil, denn mit der Hinfälligkeit dieses süßesten und stärksten Trostes muss ich ja in einen Zustand völligster Hoffnungslosigkeit versinken…“.
Man kann man also bei Hugo Wolf tatsächlich von einem „Verzweifeln an irdischer Liebe“ sprechen. Allerdings meine ich, dass er selbst, der sich ja, nach einer kurzen katholisch geprägten Jugend, schon bald zum Freidenker entwickelte, nicht das „Einswerden mit Gott“ suchte, sondern dem, was ihm in Mörikes Versen begegnete, sehr gut nachvollziehen konnte, - aus dem Wissen um die Unerfüllbarkeit der eigenen Sehnsucht danach.
-
Lieber Helmut,
Deine biographischen Ausführungen finde ich sehr hilfreich! Besten Dank einmal mehr für Deine Mühe! Bei Mörkes "Gebet" ist es vielleicht doch so, daß diese Art der Schicksalsergebenheit und des "holdenen Bescheidens" sehr zu der in der Romantik aufkommenden fatalistischen Haltung dem Weltlauf gegenüber paßt. Man kann sich von daher fragen, ob nicht schon Mörike seinen christlichen Glauben in diesem Sinne bereits "romantisch" interpretiert, nicht etwa von der Hoffnung her, das Unmögliche zu versuchen, sondern als die Art, sich ins Unvermeidliche zu fügen. So kann auch Wolf, der eigentlich kein religiöser Mensch ist, von dieser romantischen Schicksalsergebenheit ergriffen sein, etwas von sich selbst in diesem "Gebet" wiederfinden.
Schöne Grüße
Holger -
Zu Deinen Überlegungen lieber Holger (Zit):
„Man kann sich von daher fragen, ob nicht schon Mörike seinen christlichen Glauben in diesem Sinne bereits "romantisch" interpretiert, nicht etwa von der Hoffnung her, das Unmögliche zu versuchen, sondern als die Art, sich ins Unvermeidliche zu fügen.“
Mörikes Glaube ist eine komplizierte Sache. Bei Hugo Wolf kann man hingegen zu etwas klareren und eindeutigeren Aussagen kommen. Als Atheisten würde ich ihn, nach dem, was ich von ihm weiß, nicht bezeichnen. Wohl aber stand er religiösen Fragen recht gleichgültig gegenüber. Ihn beschäftigte allein sein Künstlertum. Erst in der Phase seines Lebens, wo das Leiden unter dem Spätstadium der Syphilis ihm schwer zusetzte, tauchen in seinen schriftlichen Äußerungen wieder religiöse Wendungen auf, etwa von der Art:
„Gott im Himmel möge mir´s vergeben, wenn ich je wissentlich gegen ihn gesündigt.“Insofern würde ich also das, was in dem Lied „Neue Liebe“ – und auch in der ganzen Gruppe der religiösen Lieder dieses Opus – musikalisch aufklingt, eher seiner Fähigkeit zuschreiben, sich in einen lyrischen Text voll und ganz einfühlen zu können. Dies nicht auf der Basis einer Seelenverwandtschaft mit Mörike im speziellen Fall des Glaubens und der Frömmigkeit, sondern auf der allgemein-menschlichen Basis der Suche und des Ringens um Erlösung aus seelischen Konflikten, Zweifeln, Bedrückungen und einer Sinnsuche in elementar existenziellen Fragen.
All dem war nämlich auch Mörike ausgesetzt. Nur kam bei ihm hinzu, dass er nicht nur ein gläubiger Christ war, sondern zudem auch noch unter dem Gebot seiner Amtspflichten als Pfarrer stand. Die Gedichte religiösen Inhaltes, die Wolf vertont hat und in deren Besprechung wir hier gerade stehen, sind als ein wirkliches Ringen um religiöse Fragen zu lesen.
Mörike sah sich immer wieder im Konflikt zwischen seiner, in seinem Künstlertum wurzelnden, Hinneigung zur sinnlichen Seite dieser Welt, und den Werten und Verhaltens-Normen, die der christliche Glaube ihm vorgaben. In gleichsam exemplarischer Weise bringt dies das Gedicht „Karwoche“ zum Ausdruck. Und Gedichte wie „Gebet“ oder „Neue Liebe“ lassen eine Haltung erkennen, die sich als eine sich abgerungene enthüllt, - wenn man gleichsam hinter die Verse schaut.
Gerade das Gedicht, das dem eben hier besprochenen Lied „Neue Liebe“ zugrunde liegt, zeigt das ja. Das lyrische Ich fragt sich, aus der existenziellen Befindlichkeit der Einsamkeit heraus, ob es denn nicht die Möglichkeit gebe, dass es in der dauerhaften und beständigen Bindung an einen anderen Menschen selbst zum „ganzen Menschen“ werden könne, einem also, der damit aus einer Einsamkeit erlöst wird. Die Erkenntnis, dass dies allein in der Bindung an Gott möglich sei, wirkt in diesem Gedicht wie eine dem Akt der Erkenntnis abgerungene. Der Vers „Mich wundert, daß es mir ein Wunder sollte sein“ zeigt das recht deutlich.
In dieser Haltung des Suchens nach Sinn und existenziellem Halt findet sich Hugo Wolf in Mörike wieder. Darin erweisen sie sich beide als Menschen der gerade beginnenden Moderne. Wolf unterscheidet sich freilich von Mörike darin, dass er es nicht mehr zu glauben vermag, diesen existenziellen Halt im Glauben wirklich zu finden. Bei Mörike gibt es diese – nebenbei eminent protestantische – Duplizität des Glaubens an den Glauben noch, - bei allen so sehr modernen Zweifeln.
Hugo Wolf hingegen sucht und findet diesen existenziellen Halt im musikalisch-künstlerischen Nachvollzug dessen, was der Dichter ihm lyrisch vorgegeben hat. Und darin erweist er sich noch um einen Grad moderner als dieser.
-
Die Musik dieses Liedes spricht von tiefer innerer Betroffenheit. Es ist viel Leidenschaft in ihr zu vernehmen. Und das, wo man hinsieht. Von der Steigerung der Dynamik vom dreifachen Piano bis zum dreifachen Forte im Raum von nur fünf Takten, über die Unruhe in der Bewegung der melodischen Linie der Singstimme mit ihren vielen übermäßigen Sprüngen und der Steigerung in hohe Lagen hinauf, bis hin zu den dramatischen Tremoli im Klavier, die am Ende in einen großen Bogen von mächtigen, Bass und Diskant einbeziehenden Akkorden im Fortissimo münden.
„Innigste Empfindung“ will Wolf hier zum Ausdruck gebracht wissen. Das Klaviervorspiel gibt sie in seiner fallenden, sich wieder erhebenden und harmonisch modulierenden Klanglichkeit vor. Sein Melos wird von der Singstimme aufgegriffen. Und da das Klavier sich nun sozusagen zurückzieht und sich auf akkordische Begleitung beschränkt, meint man, dass nun der besinnliche Ton, der da gerade angeschlagen wird, im Folgenden vorherrschen würde.
Aber dieses Lied ist von gedanklicher und seelischer Unruhe geprägt. Und sie ist alsbald zu vernehmen: Bei dem unruhigen, weil kurzschrittigen Auf und Ab der melodischen Linie mit den Worten: „In langer Nacht bedacht ich mir´s“. Und das über einem lang gehaltenen Des-Dur-Akkord. Das ist rezitativischer Ton, der da in die Melodik des Liedanfangs einbricht. Und er mündet prompt in ein melodisch und harmonisch grelles „Nein“. Ein Nonensprung mitten in einem c-Moll-Akkord, der zu dem des-Dur, das gerade zu hören war, harmonisch gar nicht passen will.
Die Worte „und niemand wäre mein“ wirken mit dem Sextsprung am Anfang, der sich dann am Ende zu einem hohen „as“ im Fortissimo steigert, wie ein einziger verzweifelter Aufschrei. Dem folgt die dramatisch in Sekundschritten emporsteigende melodische Linie, die ebenso in ein hohes „as“ mündet. Dieses aber wirkt nun wie ein Jubelruf. Er wirkt deshalb so emphatisch, weil dieser Aufstieg der Vokallinie von aus tiefer Lage ebenfalls aufsteigenden Tremoli begleitet wird.
Diese bringen einen ein wenig opernhaft wirkenden Effekt in diese Liedpassage. Man hat Wolf das auch schon mal angekreidet und wohl zu Recht Nachwirkungen des vielen Nachspielens von Opern-Klavierauszügen vermutet, dem er sich mit Leidenschaft hingab. Gleichwohl halte ich diese Kritik für unangebracht. Diese Tremoli haben an dieser Stelle des Liedes einen tiefen Sinn. Sie sind ausdrucksstarker Bestandteil jener tiefen seelischen Erregtheit und Unruhe, die musikalisches Wesensmerkmal dieses Liedes sind.
-
Hugo Wolf hat dieses Lied „Neue Liebe“ am 5. September 1890 orchestriert. Als Klavierlied höre ich es die letzten Tage immer wieder, und es ist mir sehr vertraut. Eben aber kam ich auf die Idee, einmal in die Orchesterfassung hineinzuhören. Ich hätte das lassen sollen. Es war eine einzige Enttäuschung, wenn nicht gar ein Schock.
Ich empfand das, was ich hörte, wie eine einzige musikalische Verflachung dessen, was das Klavierlied zu sagen hat. Dieser, aus dem unmittelbaren Aufgreifen des lyrischen Textes hervorgehende Monolog des lyrischen Ichs, der in seiner fesselnden Binnenspannung zwischen Introvertiertheit und nach außen gerichteter Expressivität wirklich in Bann zu schlagen vermag, - er ist hier nicht mehr zu vernehmen. Das äußerst ausdrucksstarke „Nein“ am Ende der ersten Strophe, das einem im Klavierlied ans Herz geht, erklingt hier wie beiläufig gesanglich artikuliert.
Alles wirkt wie in einen die lyrische Aussage vernebelnden und in ihrer melodischen und harmonischen Expressivität verflachenden Orchester-Sound eingetaucht. Man empfindet bei Hören eine elementare und fast drängende Sehnsucht nach dem Klavier. Nur dieses ist in der Lage, mit seinen klanglichen Möglichkeiten und der Fähigkeit, sich neben orchestralen Klängen auch melodisch zu artikulieren, der Singstimme den Raum zu lassen und die Basis zu schaffen, all die Ausdrucksmöglichkeiten zu entfalten, die sie braucht, um den lyrischen Text als solchen liedhaft zum Erklingen zu bringen.
Das Klavier vermag sich auf die Singstimme musikalisch einzulassen. Das Orchester ist nicht in gleichem Maße dazu in der Lage. Es muss zwangsläufig in eine klanglich dominante Position geraten. Mehr denn je bin ich mir sicher, dass man Klavierlieder nicht orchestrieren kann. Es sei denn, sie sind als solche von vornherein orchestral konzipiert. Wie das etwa bei Gustav Mahlers Liedern der Fall ist.
Dieses, das Lied „Neue Liebe“, ist das auf keinen Fall. Warum Hugo Wolf es dennoch orchestriert hat, das ist ein eigenes Kapitel, auf das am Ende dieses Threads noch einmal eingegangen werden soll.
-
Eduard Mörike ist ja sozusagen gleichberechtigter Gegenstand dieses Threads, insofern es bei den einzelnen Liedern jeweils um die Frage geht, wie der Komponist den Dichter gelesen hat , welche interpretatorischen Akzente er mit den Mitteln der Musik setzt und welche Dimensionen des lyrischen Textes er erschließt.
In diesem Zusammenhang ist ein Blick auf das Verhältnis Wolfs zu Mörike und seiner Lyrik höchst aufschlussreich. Dieses ist nämlich durchaus komplexer Natur. Auf der einen Seite stellt man eine tiefe innere Bindung an die Lyrik Mörikes fest. Bei der Thread-Eröffnung wurde schon darauf hingewiesen, dass Wolf schon mit achtzehn Jahren einen Band mit Mörike-Lyrik besaß und sich bei einer Begegnung mit Henriette von Schey (1886) weigerte, ihr diesen zu leihen, weil „er sich einfach keine Sekunde davon trennen“ könne.
Auf der anderen Seite trifft man auf Äußerungen zu Mörike, die erkennen lassen, dass es eine gewisse Distanz zu dem Menschen Mörike, seiner Lebenswelt und seiner allgemein-menschlichen und geistigen Grundhaltung gab. Wie ich im obigen Beitrag, das Lied „Neue Liebe“ betreffend, anmerkte, erweist sich Hugo Wolf in seinem Kunstverständnis, aber auch in seiner menschlichen Grundhaltung, als mehr der Moderne zugehörig, als dies bei Mörike der Fall war. So hat er dies auch zum Ausdruck gebracht.
Die Lyrik Mörikes war für ihn der Inbegriff einer das innerste Wesen der menschlichen Existenz treffenden künstlerischen Aussage. So liest man bei ihm:
„Zu welchen Exzessen läßt seine Muse sich hinreißen, wenn sie der dämonischen Seite der Wahrheit ihr Antlitz zukehrt! (…) Welche krampfhafte Innigkeit, welches wollüstige Behagen am Peinlichen spricht sich in den unnachahmlichen Versen aus: >Erinn´rung reicht mit Lächeln die verbittert / bis zur Betäubung süßen Zauberschalen; / so trink ich gierig die entzückten Qualen< (Besuch in Urach). Das ist mit Blut geschrieben, und solche Töne weiß nur anzuschlagen, wer – leidend – sein innerstes Wesen einer tief wahren Empfindung hinzugeben imstande ist.“
Im Mai 1895 las er während einer längeren Fahrt in einer Ausgabe der Briefe Mörikes. Hier nun begegnet er dessen Lebenswelt und seinem Denken und Fühlen als Mensch. Und er merkt an, dass für ihn die erste Hälfte dieser Briefe „entschieden als schwach und ziemlich uninteressant gelte darf. Die andere Hälfte hat … meinen Beifall gefunden, obschon ich mir die Briefe origineller und geistreicher vorgestellt hatte. Ein gewisser altfränkischer Ton in ihnen drängt sich allzusehr vor.“Und dann folgt eine Feststellung, die im Zusammenhang mit der Thematik dieses Threads höchst interessant und vielsagend ist:
„Wir >Modernen< empfinden eben anders. Ich glaube, wir hätten uns (Mörike und ich) doch nicht gut verstanden.“
Wolf empfindet sich als der modernere Mensch Künstler. Das heißt als einer, der sich in der dichterischen Aussage Mörikes zwar als Mensch wiederfindet, diese sich aber mit seinen künstlerischen Mitteln, der Musik also, anverwandeln und sie auf diese Weise interpretierend in die eigene Lebenswelt einbringen möchte und muss. . -
Lieber Helmut,
Deine schönen Ausführungen zu "Neue Liebe" sind wieder einmal wunderbar zu lesen. Ich habe gerade "Neue Liebe" mit Fischer-Dieskau und Svjatoslav Richter gehört. Gerade bei diesem Lied, das wahrlich Mahlersche Ausdrucksdimensionen hat, ist Richter mit seinem russischen Expressivo und deutscher Strenge wie unglaublicher Konzentration zugleich der ideale Partner für Fidi. Das ist einfach umwerfend - eins der eindrucksvollsten Wolf-Mörike-Lieder!
Schöne Grüße
Holger -
Du beziehst Dich vermutlich auf jenen Konzertmitschnitt „Wolf: Mörike-Lieder. Fischer-Dieskau, Sviatosav Richter“, den die DG 1975 veröffentlichte, lieber Holger.
Ach ja, - wie recht Du hast mit diesem Hinweis darauf und mit Deinem Urteil über diese Interpretation. Die CD steht schon lange in meiner Sammlung, aber ich habe sie schlicht aus dem Auge verloren. So sehr ist mein Blick gehalten, - auf die Noten fixiert und den Text, der darunter steht.
Im Hintergrund taucht gerade der erhobene Zeigefinger jenes Tamino-Liedfreundes auf, der mich jüngst in einem anderen Thread mit der Parole „Clara war es nicht egal“ daran erinnern zu müssen meinte, dass Lieder zum Hören komponiert wurden und Sänger und Pianisten dabei eine maßgebliche Rolle spielen, - und nicht zum strukturanalytischen Studieren.
Recht hat er, dieser Tamino-Geselle.Aber es muss, so denke ich, hier in diesem Forum auch Menschen geben, die nicht nur Liedsängerinnen und –sänger (mitsamt der Abbildung der zugehörigen CD-Covers) anpreisen, sondern auch einsichtig zu machen versuchen, warum und aus welchen Gründen es sich bei diesem oder jenem Lied, diesem oder jenem Lied-Opus oder –Zyklus um ein bedeutendes musikalisches Kunstwerk handelt.
Allerdings – und da sollte ich mich an die Nase (besser: die Ohren) fassen – sollte man bei all diesen Bemühungen nicht die klangliche Schönheit dieser Lieder aus dem Auge und dem Ohr verlieren. Ganz konkret hieße dies, dass man bei dem analytischen Sich-Einlassen auf sie auch hie und da den Aspekt ihrer sängerischen Interpretation mit einbezieht.
Und aus diesem Grund habe ich mir mir diese ganze CD mit Sviatoslav Richter als Begleiter Fischer-Dieskaus in aller Ruhe und Stille genießerisch zu Gemüte geführt. Aber schreiben werde ich dazu hier nichts. Nicht weil ich nicht möchte, sondern weil´s mir sonst zu viel wird und die Sache hier ausufern würde.
-
Eine Liebe kenn ich, die ist treu,
War getreu, solang ich sie gefunden,
Hat mit tiefem Seufzen immer neu,
Stets versöhnlich, sich mit mir verbunden.Welcher einst mit himmlischem Gedulden
Bitter bittern Todestropfen trank,
Hing am Kreuz und büßte mein Verschulden,
Bis es in ein Meer von Gnade sank.Und was ists nun, daß ich traurig bin,
Daß ich angstvoll mich am Boden winde?
Frage: Hüter, ist die Nacht bald hin?
Und: was rettet mich von Tod und SündeArges Herze! Ja gesteh es nur,
Du hast wieder böse Lust empfangen;
Frommer Liebe, frommer Treue Spur,
Ach, das ist auf lange nun vergangen.Ja, das ists auch, daß ich traurig bin,
Daß ich angstvoll mich am Boden winde!
Hüter, Hüter, ist die Nacht bald hin?
Und was rettet mich von Tod und Sünde?In diesem Gedicht schimmert zwischen seinen Versen – wie das in Mörikes Lyrik immer wieder einmal vorkommt - der Theologe Mörike durch. Aber, und das kann man hier lesend erfahren: Niemals erschöpft sich seine Lyrik in theologischem Gedankengut und Glaubensfragen; immer transzendiert sie zur existenziellen Dimension menschlichen Lebens.
Jesaia (21.11) ist es, der hier lyrisch aufklingt: „Man ruft mir aus Seir: Wächter, ist die Nacht bald hin?“ Aber hinter dieser Frage steht für den gerade mal dreiundzwanzig Jahre alten Dichter Mörike jene, die ganz unmittelbar die eigene Existenz berührt, und die Lebenserfahrung, die er angesichts der im Sterben liegenden Schwester Luise macht: „Was rettet mich vor Tod und Sünde?“
Es ist die Unzulänglichkeit menschlicher Existenz und ihr Unvermögen, in der Liebe des Gottes, der sein Leben für das ihre geopfert hat, Genüge zu finden und sich ihrer würdig zu erweisen, was hier lyrisch artikuliert wird. Zunächst fühlt man sich hier an die Selbstzweifel Luthers erinnert. Aber es ist mehr als das. Hier spricht ein Lyriker der Moderne: Diese Verse enthalten eine Aussage über ein Wesensmerkmal menschlicher Existenz überhaupt: Es ist ihre Begrenztheit, das Gefangen-Sein in sich selbst, das blind machen kann für die Liebe, die einem als Geschenk zuteilwird.
Das lyrische Ich windet sich „angstvoll am Boden“. Es empfindet sich als in existenzieller Nacht gefangen. Das ist ein höchst modernes Lebensgefühl, das sich hier lyrisch artikuliert. Dies auch deshalb, weil ihm der Glaube an die Erlösung daraus abhanden gekommen ist, obgleich das überkommene theologische Wissen darum noch da ist und sich zu Wort meldet.
-
Noch einmal – ein letztes Mal – ein religiöses Lied mit bohrenden, an den Kern der Existenz rührenden Fragen. Dieses Mal aber bleibt die erlösende Antwort aus. Die Frage: Was rettet mich von Tod und Sünde? bleibt offen im Raum stehen. Und Wolf, der den Seelenqualen des Lyrikers mit einer äußerst expressiven und von eigener Betroffenheit kündenden Musik folgt, lässt sie ebenfalls in musikalischer Offenheit stehen, indem er die melodische Linie harmonisch auf der Dominante enden lässt.
„Langsam und sehr ausdrucksvoll“ lautet die Vortragsanweisung. Das erinnert an das vorangehende Lied „Neue Liebe“. Und in der Tat: Beide Lieder bilden eine Art kompositorische Einheit. In beiden fühlt sich der – im Grunde der Religiosität Mörikes fern stehende – Komponist Wolf musikalisch auf eine gleichsam nahtlose und voll angemessene Weise in die von Zweifeln zerrissene und nach Erlösung dürstende Seele des Dichters ein.
Von zwei musikalischen Motiven ist dieses Lied geprägt. Das eine artikuliert sich in der melodischen Linie der Singstimme, das andere im Klaviersatz. Das erste klingt gleich am Anfang auf. Es ist die fallende melodische Linie auf den Worten: „Eine Liebe kenn ich, die ist treu“. Es kehrt beim ersten Vers der dritten und der fünften Strophe wieder und wird damit zu einem konstitutiven Faktor der musikalischen Einheit des Liedes. Und das ist lyrisch sehr wohl motiviert, denn hierin artikuliert sich die Fragehaltung des lyrischen Ichs.
Das andere Motiv sind diese im Klavierbass oder –diskant in Dreiergruppen triolisch oder in Oktaven aufsteigenden und sich bohrend und klopfend in die melodische Linie drängenden Achtel. Man empfindet sie als musikalischen Ausdruck der tiefen existenziellen Betroffenheit des lyrischen Ichs und der der Qualen, denen es sich ausgesetzt sieht. Und so sind sie kompositorisch wohl auch gemeint.
Schon das viertaktige Vorspiel deutet klanglich an, was sich in diesem Lied ereignen wird: Harmonisch einsetzende Klangfiguren münden in Disharmonien. In der ersten Strophe ist davon noch nicht viel zu vernehmen. Zwar setzt die melodische Linie in einer c-Moll-Harmonisierung ein, aber sie bewegt sich ruhig, und das Klavier trägt sie mit im Viervierteltakt artikulierten Akkorden. Am Ende mündet sie sogar in eine Dur-Harmonisierung.
Mit der zweiten Strophe setzen die drängend aufsteigenden Oktaven im Klavier ein, die von Einzeltönen im Diskant unterstützt und in ihrer klanglichen Wirkung verstärkt werden. Die melodische Linie bewegt sich jetzt nicht mehr ruhig. Sie steigt bei den lyrisch expressiven Bildern in hohe Lagen empor: Bei den Worten „bittern Todestropfen“ und „Hing am Kreuz und büßte mein Verschulden“. Beim letzten Vers der zweiten Strophe sinkt die melodische Linie dann wie erschöpft auf ein tiefes „g“ ab.
Mit dem ersten Vers der dritten Strophe klingt das melodische Motiv des Liedanfangs wieder auf. Aber danach, bei den Worten „Daß ich angstvoll mich am Boden winde“ steigt die melodische Linie in fast dramatischer Weise im Sekundschritt zu einem hohen „f“ auf, und in der nachfolgenden Pause erklingt auch im Klavier eine Abfolge von aufsteigenden Achtel- und Sechzehntel-Oktaven. Sie münden in einen im Fortissimo angeschlagenen Akkord.
Und damit setzt eine klangliche Phase ein, bei der das Klavier wie mit schweren Schlägen, die von triolisch bohrenden Achteln unterbrochen werden, auf die Vokallinie einwirkt. Die zentralen und gewichtigen Fragen werden gestellt: „Hüter, ist die Nacht bald hin…?“ Wie herausgestoßen wirken sie klanglich. Die Vokallinie beschreibt dabei, von Pausen isoliert, zwei bogenförmige Bewegungen in hoher Lage. Hier ist die dramatische Expressivität des Liedes auf die Spitze getrieben. Wie in einer Art klanglichem Ermatten erklingen danach in einem fünftaktigen Nachspiel die triolischen Achtel im Klavierbass, unter gehaltenen Akkorden im Diskant immer leiser werdend.
Klanglich bohrend werden die Worte „Arges Herze“ gesungen. Die Selbstvorwürfe erklingen auf einer Tonhöhe, von Pausen unterbrochen. Und im Klavierbass drängen wieder die Oktaven in Dreiergruppen nach oben. Wehmütig, langsam absinkend und in Moll-Harmonien eingebettet, artikuliert die melodische Linie die Worte „Das ist lange nun vergangen“.
Und wieder erklingt das melodische Eingangsmotiv auf den ersten Worten der letzten Strophe. Die ersten beiden Verse sind mit denen der dritten Strophe fast identisch, und sie tragen auch die gleiche musikalische Faktur. Und wieder setzen danach bei den Worten „Hüter, Hüter ist die Nacht bald hin?“ die musikalischen „Hammerschläge“ in Verbindung mit den bohrenden Triolen ein. Auch die Frage „Was rettet mich von Tod und Sünde?“ erklingt in dieser bogenförmig drängenden melodischen Linie, die man von der dritten Strophe her kennt.
Das Nachspiel lässt wieder die langsam verklingenden Achtel-Triolen vernehmen. Dieses Mal fahren aber mehrfach disharmonische Akkorde hinein, bevor am Ende sich dann doch, klanglich wie eine Erlösung wirkend, ein reiner Dur-Akkord einstellt.
-
Und aus diesem Grund habe ich mir mir diese ganze CD mit Sviatoslav Richter als Begleiter Fischer-Dieskaus in aller Ruhe und Stille genießerisch zu Gemüte geführt. Aber schreiben werde ich dazu hier nichts. Nicht weil ich nicht möchte, sondern weil´s mir sonst zu viel wird und die Sache hier ausufern würde.
Lieber helmut,das freut mich! Diese CD kann man wirklich immer wieder hören und genießen!
Schöne Grüße
Holger