Hugo Wolf und Eduard Mörike

  • Lieber Helmut,


    herzlichen Dank für die schönen Ausführungen zu Wolf! :) Im Geiste Wagners hat Wolf ja auch einen Verriß der 4. Symphonie von Brahms geschrieben, wenn ich mich recht erinnere. Interessant ist auch, daß Bruckner offenbar von beiden Parteien abgelehnt wird, weil er in diesem Streit zwischen allen Stühlen steht. Brahms hatte ja kein Problem, in der Oper sich Wagner anzuhören. Bruckner aber war für ihn ein Ärgernis, weil er mit Wagners Prinzipien auf seinem ureigensten Gebiet - der Symphonie - "wildert"! ;)


    Schöne Grüße
    Holger

  • In diesem Lied, dem ja ein leicht balladenhafter lyrischer Text zugrundeliegt, ist auf eindrucksvolle Weise zu erleben, wie die Musik in den Dienst am lyrischen Text gestellt wird. Und insofern wundert es gar nicht, dass George Szell mit seiner Frage ausgerechnet auf dieses Bezug nahm. Die melodische Linie der Singstimme weist eine große klangliche und strukturelle Vielfalt auf, - bedingt durch die Vielfalt der seelischen Regungen des lyrischen Ichs und der situativen Gegebenheiten, auf dies es in seiner Imagination Bezug nimmt. Das geht von mürrisch grober Deklamation auf einer tonalen Ebene über lustvoll energisches, melodisch tumultuarisches Sich-Einlassen auf die Natur in Gewittersturm und Regen bis hin zu zärtlichen, sich behutsam auf tonal hoher Ebene entfaltenden melodischen Anwandlungen bei der imaginativen Vergegenwärtigung der Liebsten in ihrem Kämmerlein.


    Und bei all dem, was sich da an Vielfalt in der melodischen Linie ereignet, hat das Klavier ein gehöriges Wörtchen mitzureden. Hier entfaltet Wolf wieder einmal all seine Genialität im Ausschöpfen der klanglichen Expressivität des Klaviersatzes, - von einem im Grunde orchestralen kompositorischen Ansatz her. Eine energisch akzentuierte Rhythmik dominiert ihn. Aber er erschöpft sich nicht darin, sondern er reflektiert in seiner klanglichen Struktur in höchst expressiver Weise die Aussagen der Singstimme.


    Vielfach kann man dies auf beeindruckende Weise erleben. So etwa wenn, bei den Worten „Willkommen denn, des Jägers Lust“ die Akkorde energisch und forte in die Höhe steigen und schließlich bei dem Wort „jauchzend“ harmonisch schrill im dreifachen Forte aufgipfeln; oder wenn sich das Klavier bei dem Bild von der Geliebten im Kämmerlein mit einem Mal „zart und ausdrucksvoll“ von grober Akkordik auf melodisch sich bewegende Terzen und Quinten zurücknimmt; oder wenn es schließlich Lärm und einen veritablen Knall hören lässt und in Gestalt eines im dreifachen Piano verhallenden Tremolos den „in den Tälern verhallenden Donner“ klanglich evoziert.


    Das ist ein klanglich überaus eindrucksvolles Lied. Für den Liebhaber des Schubert-Liedes ist es in der Schroffheit, ja zuweilen Grobheit seiner Melodik und der klanglichen Expressivität seines Klaviersatzes vielleicht jenseits dessen, was ein Kunstlied sich leisten darf und kann. Aber es ist musikalisch ehrlich, weil den lyrischen Text radikal reflektierend. Es ist ein ganz und gar typisches Hugo Wolf-Lied.

  • Bin jung gewesen,
    Kann auch mitreden,
    Und alt geworden,
    Drum gilt mein Wort.


    Schöne reife Beeren
    Am Bäumchen hangen:
    Nachbar, da hilft kein
    Zaun um den Garten;
    Lustige Vögel
    Wissen den Weg.


    Aber, mein Dirnchen,
    Du laß dir raten:
    Halte dein Schätzchen
    Wohl in der Liebe,
    Wohl im Respekt!


    Mit den zwei Fädlein
    In eins gedrehet,
    Ziehst du am kleinen
    Finger ihn nach.


    Aufrichtig Herze,
    Doch schweigen können,
    Früh mit der Sonne
    Mutig zur Arbeit,
    Gesunde Glieder,
    Saubere Linnen,
    Das machet Mädchen
    Und Weibchen wert.


    Bin jung gewesen,
    Kann auch mitreden,
    Und alt geworden,
    Drum gilt mein Wort.


    Was mag Mörike zu diesen sprachlich so seltsam mageren, weil in der Diktion so sehr direkten Versen bewogen haben? Er notiert im Jahre 1832 selbst dazu:
    „Am 25. März – ich kam von der Begleitung der geliebten Luise, von Grötzingen zurück und lief, poetisch aufgeregt, die Ochsenwanger Steige keuchend hinauf – unwillkürlich mußt´ ich ein paar Verse ausbilden, deren Inhalt mir auf keine Weise nahe lag. >Rat einer Alten< (an die verliebte Jugend).“


    Der Inhalt „lag ihm nicht“. Gleichwohl musste er ihn in Verse bringen. Warum das? Vielleicht, weil es ihn trieb, dem nachzugehen, was sein eigentliches dichterisches Anliegen ist: Das Leben in all seinen Varianten, dem Reichtum seiner Formen und Gestalten und dem tieferen Sinn, der sich darin äußert, mit den Mitteln der Poesie erfassbar werden zu lassen.


    Alter ist ein Teil dieses Lebens. Alter drückt sich in der knappen, vielleicht sogar ein wenig schroffen sprachlichen Direktheit aus, die nicht mehr gefallen will. Alter will nicht mehr gefallen. Ihm sind die Träume abhanden gekommen, die Illusionen und emotionalen Aufwallungen, die Jugend in ihrem Wesen ausmachen. Es hat sie selbst durchlebt und in ihrem Wesen durchschaut: „Bin jung gewesen…Und alt geworden, // Drum gilt mein Wort“.


    Es ist auf den ersten Blick biedere schwäbisch-moralische Hausmannskost, was einem da lyrisch entgegenkommt. Die peinlichen geschlechtsspezifischen Rollenbilder meint man auf den ersten Blick sogar ignorieren zu müssen. „Gesunde Glieder, saubere Linnen…“, - das ist finster-schwäbisches neunzehntes Jahrhundert. Oder doch nicht?


    Der Rahmen ist zu beachten, der sich lyrisch-sprachlich um all das legt. Nicht ohne guten Grund hat der große Lyriker Mörike die erste Strophe wortgleich am Ende des Gedichts wiederkehren lassen. Sie ist lyrischer Ausdruck der Historizität der dichterischen Aussage. Das Alter gibt seine Erfahrungen und die daraus sich herleitende Haltung zum Leben überhaupt an die junge Generation weiter. Was das „Dirnchen“ damit anfangen wird, bleibt offen.


    Und man möchte aus der Rigidität, mit der Mörike die „Alte“ sprechen lässt, schließen, dass die Jugend auf ihre eigene Weise damit umgehen wird, - dass sie auch „jung gewesen“ sein wird.

  • Auffällig rhythmisch akzentuiert erklingen die Worte der Alten in der ersten Strophe. Sie sind in e-Moll harmonisiert und werden gleichsam stoßweise deklamiert, weil mehrfach Pausen in die Bewegung der Vokallinie treten, die erst gegen Ende einen etwas mehr fließenden Charakter annimmt. Das Klavier begleitet mit einer Abfolge von zwei Achtel-Akkorden mit nachfolgender Achtelpause, was den Eindruck dieses stockend akzentuierten, energischen Artikulierens der lyrischen Aussage noch verstärkt. Und als wäre es damit nicht genug, erklingt am Ende der Rede ein Akkord im Sforzato, und im Nachschlag noch einmal einer. Als würde die Alte mit einem Schlag auf den Tisch ihren Worten zusätzlichen Nachdruck verleihen.


    Ein neuer Ton kommt mit der zweiten Strophe in das Lied, - ausgelöst durch die lyrischen Bilder („Schöne reife Beeren // Am Bäumchen hangen…“). Die melodische Linie der Singstimme bewegt sich jetzt lebhaft in hoher Lage, und in den Klaviersatz tritt ein zusätzliches Achtel, was den energisch akzentuierten Rhythmus aus ihm herausnimmt. Bei den Worten „lustige Vögel“ geht es melodisch munter auf und ab.


    „Langsamer“ lautet die Anweisung für die dritte Strophe. Das „Aber“ am Versanfang wird durch einen Terzsprung mit nachfolgender Pause markant hervorgehoben. Der Ton des guten Rats, der die melodische Linie prägt, erhält am Ende wieder musikalischen Nachdruck durch dreimal energisch auftrumpfende Achtel-Akkord-Paare, - wieder mit Halbtonvorschlag versehen.


    Die melodische Linie der vierten Strophe setzt im Pianissimo ein, bewegt sich in zwei Anläufen lebhaft nach oben und verlangsamt sich ausdrucksstark mit einer Dehnung auf dem Wort „gedrehet“. Wolf will ihm ganz bewusst einen hintergründigen Akzent verleihen. In der gleichen Weise verfährt er – mit einem ein wenig opernhaft anmutenden melodischen Gestus – bei den Worten „schweigen“ und „Linnen“ in der fünften Strophe. Man weiß nicht recht - möchte aber vermuten, dass dem so ist -, ob er der ein wenig altschwäbischen Biederkeit dieser hauswirtschaftlichen Ratschläge einen leicht ironischen Akzent verleihen wollte. Die Wiederholung der beiden letzten Verse („Das machet Mädchen // Und Weibchen wert“), bei der die melodische Linie in arienhafter Weise mit einem Sekundsprung auf dem Grundton landet, mutet ähnlich an.


    Die Wiederholung der ersten Strophe erfolgt mit identischer musikalischer Faktur. Man kann das eigentlich nur so hören und verstehen, dass die Alte in gleichsam apodiktischer Weise auf der Gültigkeit ihrer Ratschläge beharrt. Denn auch jetzt vernimmt man am Ende diesen Sforzato-Akkord mit bekräftigendem Nachschlag.

  • Wolf meinte später zu diesem Lied, das am 22. März 1888 entstand: „Der ganze Mörike-Band ist gut, nur das >Lied einer Alten< gefällt mir nicht“. Vielleicht liegt es ja an den Versen Mörikes, die nicht gerade zu seinen großen lyrischen Würfen zählen, dass auch deren Vertonung nicht sonderlich inspiriert wirkt.


    Obwohl, - dieses Lied hat durchaus seine musikalischen Reize. So kann man zum Beispiel die durchgehend erklingenden Halbtonvorschläge der Achtel- Akkorde im Klavierdiskant als Ironisierung der Ratschläge und Weisheiten dieser „Alten“ hören. Dazu würde auch der Walzerrhythmus passen, dieser Dreiachteltakt, der dem Lied zugrundeliegt. Auch er gibt vom lyrischen Text her nicht recht einen Sinn. Es sei denn, man versteht ihn als musikalisch-schelmische Untermalung dessen, was „die Alte“ zu sagen hat.


    Denn wenn sie von sich selbst spricht, wirkt der Dreiachteltakt ja keineswegs flüssig, sondern stockend, weil das dritte Achtel im Klaviersatz durch eine Pause ersetzt ist. Ist sie schon ein wenig verknöchert, diese Alte? Auf jeden Fall ist sie rechthaberisch Wie anders wäre der lang gehaltene Sforzato-Akkord, dem noch ein Art Nachschlag folgt, am Ende der ersten Strophe zu deuten? Ist hingegen von den „schön reifen Beeren“ in Nachbars Garten die Rede, ist plötzlich das dritte Achtel da, die Musik entfaltet sich im Walzertakt, auch aus der melodischen Linie ist alle stockende Rhythmisierung verschwunden.


    Immer wieder kann man erleben, wie die Musik den lyrischen Text kommentiert, akzentuiert und sogar in seiner Gültigkeit in Frage stellt. Etwa wenn von den „zwei Fädlein“ die Rede ist und dann bei dem Wort „gedrehet“ eine Dehnung mit einem Ritardando in die Vokallinie kommt und die beiden nachfolgenden Verse („Ziehst du am kleinen / Finger ihn nach“ auf munter auf und ab sich bewegender melodischer Linie deklamiert werden.


    Auch hier entfaltet Wolf also seine Fähigkeit, Klaviersatz und Vokallinie in eine interaktive Beziehung treten zu lassen, die den lyrischen Text in seinen verschiedenen Aussagedimensionen erschließt. Aber davon gibt es bei diesem Gedicht eben nicht so viele. Und eben deshalb kann man dieses Lied durchaus zu den „Leichtgewichten“ des Mörike-Opus zählen, ohne es deshalb abzuqualifizieren.

  • Lieber Helmut,


    ich finde dieses humoristische Lied köstlich! Die Musik enthüllt hier die "Alte" als eine etwas verschrobene, kauzige Jungfer, die glaubt, der Jugend, die noch Lebenssaft in sich hat, etwas raten zu können. Vergleblich natürlich. Das hat etwas von "Des Antonius von Padua Fischpredigt": Die Welt hört der Belehrung artig zu, jeder bleibt aber der, der er ist. :D


    Schöne Grüße
    Holger

  • Zit.: "Ich finde dieses humoristische Lied köstlich! "


    Das ist es auch! Und die Möglichkeit, musikalischen Humor zu entfalten, dürfte auch das entscheidende Motiv gewesen sein, weshalb Wolf zu diesem Gedicht Mörikes gegriffen hat.


    Das nächste Lied ( Nr. 42: "Erstes Liebesklied eines Mädchens") ist nun aber von ganz anderer Art, und damit zeigt sich wieder einmal die große liedkompositorische Vielfalt, die dieses Mörike-Opus Wolfs aufweist.

  • Was im Netze? Schau einmal!
    Aber ich bin bange;
    Greif ich einen süßen Aal?
    Greif ich eine Schlange?


    Lieb ist blinde
    Fischerin;
    Sagt dem Kinde,
    Wo greifts hin?


    Schon schnellt mirs in Händen!
    Ach Jammer! o Lust!
    Mit Schmiegen und Wenden
    Mir schlüpfts an die Brust.


    Es beißt sich, o Wunder!
    Mir keck durch die Haut,
    Schießt’s Herze hinunter!
    O Liebe, mir graut!


    Was tun, was beginnen?
    Das schaurige Ding,
    Es schnalzet da drinnen,
    Es legt sich im Ring.


    Gift muß ich haben!
    Hier schleicht es herum,
    Tut wonniglich graben
    Und bringt mich noch um.


    Verfasst wurde dieses in der Kühnheit seiner Metaphorik zweifellos ungewöhnliche Gedicht von dem vierundzwanzigjährigen Theologen Eduard Mörike. Kühn warum? Niemand, selbst ein Goethe nicht, hat die sinnlich-sexuelle Komponente von Liebe mittels eines derart drastischen und unverblümten Spiels mit Phallus-Symbolik in Verse gesetzt. Man muss in der Geschichte der Lyrik lange suchen, bis man Vergleichbares findet. Eigentlich gibt es das nur in der Antike: Bei Sappho nämlich.


    Mörike selbst sah das Ganze eher sachlich. Es war eine Art Hochzeitsgeschenk für seinen Freund Friedrich Kauffmann. Er schickte es ihm im Juli 1828 mit den kommentierenden Worten:
    „Ein langes und breites Hochzeitlied schick´ ich Dir nicht, aber ein Liebesliedchen, das ich gestern auf der Steige von Weingarten vor mich hin brummte, und zwar vom dritten Vers an nach der Melodie: Was zieht mir das Herz so. Setz es in Musik, gib ihr am Brautmorgen einen Kuß und frag sie, wenn sie´s nun absingt, ob das Lied nicht auf ein Haar alle Seligkeit ausdrückt, die sie in den ersten Tagen Eurer Liebe empfunden! Wenn das seine Richtigkeit hat, so tu ich mir was drauf zugut.“


    Kühn – und großartig! – ist dieses Gedicht, weil es sprachlich originär wirkt. „Erste Liebeslied eines Mädchens“ … aus dem Volk, müsste man hinzufügen. Denn hier wird in unverblümt schlichter, einfacher und direkter Sprache ausgedrückt, wie die erste Begegnung mit der Liebe von einem jungen Menschen erfahren wird.


    Großartig schon der direkte lyrische Einstieg: Eine Frage, unmittelbar ohne Prädikat von sich gegeben. Und das in einem Gedicht. Und so geht das lyrisch ja weiter. Alle Verse wirken in ihrer sprachlichen Schlichtheit und gedanklich-logischen Unverbundenheit wie aus dem unmittelbaren Empfinden kommend. Das einzige, was sie verbindet, ist die bildliche „Logik“ der Situation: Das Mädchen als „Fischerin in Sachen Liebe“. Ansonsten sind die Verse rein lyrisch-sprachlich unmittelbare Evokationen.


    Und hierin gründet auch letzten Endes die Größe dieses Gedichts. Bei all der Drastik seiner Phallus-Symbolik wirkt es an keiner Stelle entlarvend oder gar obszön! Dies deshalb, weil es in lyrischer Sprache sich konstituierende Unmittelbarkeit des Empfindens ist.

  • „Äußerst schnell und leidenschaftlich“ lautet die Vortragsanweisung bei diesem Lied, das bemerkenswerterweise im Dreiachteltakt steht. Angesichts der elementaren lyrisch-sprachlichen und metrischen Unordnung von Mörikes Versen mutet das wie eine musikalisch-rhythmische Zähmung an. Und das ist es auch, allerdings nur zum Zwecke, auf der Grundlage der drei Achtel im Klavierbass den Diskant um so eindrucksvoller rhythmisch überborden zu lassen und damit im Klavier das zustande zu bringen, was typisch für ein Hugo Wolf-Lied ist: Das Klavier interpretiert die Singstimme und bringt zum Ausdruck, was diese eigentlich sagen will. Von der geheimen Lust nämlich sprechen, die sich beim imaginativen Ausleben der Sexualität einstellt.


    Was die Vortragsanweisung sagen will – und was das klangliche Wesen dieses Liedes ausmacht -, das erfährt man auf besonders eindrucksvolle Weise, wenn man versucht, hörend in den Noten mitzulesen. Man kommt kaum nach. Es herrscht eine überaus expressive Atemlosigkeit.


    Die ersten Worte wirken deklamatorisch wie herausgestoßen: Lange Pausen isolieren die drei bis vier Töne, die auf den Worten, bzw. Silben liegen. Nur bei dem Wort „bange“ kommt eine längere Dehnung in die wie zerstückelt wirkende melodische Linie der ersten beiden Verse. Die längsten melodischen Passagen liegen auf den Versen drei und vier der ersten Strophe. Aber auch sie sind durch Pausen voneinander abgesetzt. Das zu „bange“ gehörende Reimwort „Schlange“ trägt wie dieses eine melodische Dehnung in hoher Lage.


    Ein wenig Ruhe kommt in die überaus nervöse und von großen Intervallen geprägte Bewegung der melodischen Linie bei der zweiten Strophe, - insbesondere bei den Worten „Sagt dem Kinde, // Wo greifts hin?“ Die melodische Linie verbleibt jetzt auf einer tonalen Ebene, und es ist ausdrücklich ein Ritardando vorgeschrieben. Auch über dem nachfolgenden Zwischenspiel findet sich die Anweisung: „Immer mehr nachlassend“.


    Das betrifft aber nur sechs Takte. Kurz vor dem Einsatz der Singstimme zum ersten Vers der vierten Strophe erklingen fortissimo im Tanzrhythmus fallende Akkorde, und die Singstimme deklamiert wieder heftig, stoßweise und im hurtigen Auf und Ab die ersten beiden Verse. Bei dem Wort „Lust“ steigt die Vokallinie im Forte zu einem hohen „gis“ empor, das äußerst expressiv über fast vier Takte gehalten wird. Und bei den beiden nächsten Versen setzt sich diese Expressivität fort, dieses Mal in Gestalt eines Oktavsprungs bei dem Wort „Brust“ und einer hektisch in Achteln sich vollziehenden Aufgipfelung bei den Worten „Wunder“ und „Haut“. Bei den Worten „Schießt´s Herze hinunter“ fällt die melodische Linie in tiefe Lage ab, um gleich darauf mit einem Quintfall und einem unmittelbar nachfolgenden Oktavsprung die Worte „mir graut“ zum Ausdruck zu bringen.


    Die Frage „Was tun, was beginnen?“ ist wieder durch eine Pause isoliert und stellt deshalb eine äußerst markante melodische Passage dar. Und nachdem die Singstimme beim zweiten Vers der fünften Strophe zunächst auf einem Ton deklamiert und von dort auf eine zweite tonale Ebene emporsteigt, mach sie danach bei dem Wort „Ring“ wieder einen verminderten Sextsprung.


    Bei den beiden letzten Versen setzt sich die stoßweise Deklamation in hoher Lage zunächst fort. Bei dem Wort „wonniglich“ („graben“), das mit einer Dehnung in hoher Lage deklamiert wird, kommt ein wenig Zurückhaltung in die melodische Linie. Sie macht bei der zweiten Silbe des Wortes „graben“ einen Quintfall, und die letzten Worte („…bringt mich noch um“) erklingen auf überraschend langsam fallender und syllabisch exakt deklamierter melodischer Linie.


    Wieder lässt das Klavier im dreifachen Forte seine bogenförmig fallenden Akkorde hören. Aber was nachfolgt, ist ein im Tanzrhythmus und in Dur-Akkorden erklingender Lobpreis der sinnlichen Liebe.

  • Das Lied entstand am 20. März 1888. Wolf hat darüber sofort Edmund Lang zu berichten:
    „Heute, gleich nach meiner Ankunft habe ich mein Meisterstück geliefert. >Erstes Liebeslied eines Mädchens“ (Ed.Mörike) ist das weitaus beste, was ich bis jetzt zu Stande gebracht. Gegen dieses Lied ist alles Vorhergegangene Kinderspiel. Die Musik ist von so schlagender Charakteristik, dabei von einer Intensität, die das Nervensystem eines Marmorblocks zerreißen könnte. Das Gedicht ist wahnsinnig, die Musik nicht minder, ebenso Ihr Fluchu.“


    „Fluchu“ war Wolfs Spitzname im Freundeskreis. Er wurde ihm wegen Neigung zum kräftigen Fluchen verliehen. In der Beurteilung dieses Liedes kann man ihm sicher ohne jede Einschränkung zustimmen, - mit einer Einschränkung freilich: Das „Vorhergegangene“ ist keineswegs „Kinderspiel“, und dieses Lied ist auch nicht „das beste, was er „bis jetzt zu Stande gebracht“ hat. Er neigt – aus der unmittelbaren Begeisterung für das Zustandebringen einer Liedkomposition – häufig zur Übertreibung und muss alsbald widerrufen. So auch in diesem Fall: Am 21. März komponierte er nämlich die – hier schon besprochene - „Fußreise“ (Lied 10) und meldet dem gleichen Eduard Lang:
    „Ich revociere, daß das >erste Liebeslied eines Mädchens mein Bestes sei, denn was ich heute Vormittag geschrieben: >Fussreise< (Ed. Mörike) ist noch millionenmal besser. Wenn Sie dieses Lied gehört haben, kann Sie nur noch ein Wunsch beseelen: zu sterben.“

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  • Der Text ist wirklich bemerkenswert für die Zeit, aus der er stammt - aber auch die kongeniale Vertonung, finde ich! Sinnlichkeit ausgedrückt ohne jede Verklärung. Im Grimmschen Märchen "Von einem der auszog, das Fürchten zu lernen" schrecken den Helden Tod und Teufel nicht, das Fürchten lernte er erst, als eine Magd über dem Schlafenden morgens einen Eimer mit kaltem Wasser und Fischen ausschüttet. Das wird Mörike natürlich gekannt haben. Sinnliche Erotik verführt und erschreckt - ein ambivalentes Erlebnis zwischen Süßigkeit der Lust und Ekel.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Zit.: „Der Text ist wirklich bemerkenswert für die Zeit, aus der er stammt…“

    Mörikes Gedicht ist in der Weise, in der hier in gleichsam unverhüllter Form die Phallus-Symbolik zum Einsatz kommt, ganz und gar außergewöhnlich für die damalige Zeit. Auffällig ist freilich, dass ihm jegliche Obszönität abgeht. Das liegt daran – und hier kriegt man wieder die Größe des Dichters zu fassen – dass Mörike ganz bewusst lyrisch-sprachlich durchweg auf der Ebene der naiven, unmittelbaren und unreflektierten Erfahrung bleibt.


    So setzt das Gedicht ja schon ein: Mit einer syntaktisch nicht ausgearbeiteten, sozusagen stichwortartig unmittelbar artikulierten Frage: "Was im Netze?" - Und diesen Stil, der Ausdruck eben dieser unreflektierten Unmittelbarkeit der Erfahrung ist – es ist die Erfahrung eines naiven Mädchens – hält Mörike bis zur letzten Strophe durch. Eine Feststellung folgt parataktisch auf die andere, ohne dass eine Art gedankliche Verbindung zwischen den einzelnen Versen hergestellt würde.


    In dieser lyrischen Authentizität liegt die Stärke des Gedichts. Und hierin ist auch der Grund dafür zu suchen, dass es in seiner drastischen Bildlichkeit nicht obszön oder irgendwie anstößig wirkt.

  • In einem Brief an Heinrich Potpeschnigg (8.3.1894) spricht Wolf mit Blick auf dieses Lied von „einem Stück komprimierter Leidenschaftlichkeit und ungezähmter Gefühlsausbrüche.“ Damit trifft er das Wesen dieses Liedes sehr genau. Diese „Ungezähmtheit“ hat sich unüberhörbar in seiner Faktur niedergeschlagen. Die melodische Linie der Singstimme wirkt, durch die vielen Pausen in der Deklamation und ihr immer wieder aufs Neue erfolgendes Ausgreifen in hohe Lagen bei gleichzeitiger Steigerung der Dynamik in den Forte-Bereich wie von innerer Erregung zerrissen. Hinzu kommt das starke klanglich-rhythmische Drängen, das vom Klaviersatz ausgeht. Es ist diese im Vorspiel auftauchende bogenförmig angelegte und stark rhythmisierte akkordische Klangfigur, die sich permanent in die Vokallinie drängt, - ja regelrecht bedrängend wirkt, weil sie auch noch die Pausen ausfüllt.


    Wolf erweist sich auch hier wieder als ein Liedkomponist, der den dichterischen Text in all seinen Tiefendimensionen musikalisch auslotet, und dies in der Weise, dass er sich voll und ganz auf die lyrische Sprache, ihre spezifische Struktur und ihre Semantik einlässt. Mörikes Verse scheinen in der ihnen eigentümlichen Diktion auf der Ebene der Musik wiederzukehren, - freilich in ihrer jeweiligen Aussage intensiviert und dimensional erweitert.


    Höchst aufschlussreich, weil auf ein tiefes Verständnis von Mörikes Lyrik hinweisend, ist eine Bemerkung, die Wolf mit Blick auf dieses Gedicht gemacht hat:
    „Selbst Mörike, dieser Liebling der Grazien, zu welchen Exzessen läßt er sich durch seine Muse hinreißen, wenn sie der dämonischen Seite der Wahrheit ihr Antlitz zukehrt.“
    Man darf davon ausgehen, dass er bei dieser auf Mörike bezogenen Aussage auch sich selbst in seiner künstlerischen Grundhaltung im Auge hatte.

  • Ich möchte die Lieder, die ich hier vorstelle, nicht mit allzu viel Worten in ihrer musikalischen Schönheit totschwatzen. Aber sie weisen in ihrer Faktur halt einen solchen kompositorischen Reichtum auf, dass man immer wieder auf etwas Neues stößt.


    Eben erst ist mir beim neuerlichen Hören dieses Liedes so recht bewusst geworden, dass es sich dabei wohl um eine der kühnsten Kompositionen Wolfs im Rahmen dieses Mörike-Opus handelt. Die Art und Weise, wie hier die melodische Linie der Singstimme behandelt wird, kann man nicht anders als kühn qualifizieren. Die Singstimme bewegt sich in nahezu völliger Emanzipation vom Klaviersatz, in atemlos stockender Deklamation. Derweilen versucht das Klavier mit seinen permanent wiederkehrenden rhyhthmisiert fallenden Akkorden so etwas wie die innere musikalische Einheit des Liedes zu konstituieren, treibt damit die Singstimme in der Atemlosigkeit ihrer Bewegungen zugleich aber weiter an.


    Und noch etwas sei noch angefügt:
    Im Grunde leuchtet das Lied Mörikes Gedicht psychologisch in Dimensionen aus, die der Dichter selbst lyrisch-sprachlich so nicht zum Ausdruck gebracht hat. Im Grunde versucht er ja mit der Einfachheit der lyrischen Sprache und der parataktischen Fügung der Verse die Naivität zum Ausdruck zu bringen, in der hier ein einfaches Mädchen seine ersten Erfahrungen von Sinnlichkeit und Sexualität artikuliert.


    Wolf bringt aber noch etwas in sein Lied, das in dieser Weise bei Mörike nicht zu finden ist: Eine aus der Kontrapunktik von Singstimme und Klaviersatz und den permanenten harmonischen Rückungen sich musikalisch speisende Eskalation der Lusterfahrung, die im Nachspiel am Ende in diesem nicht enden wollen Wirbel der Terzen ihren Höhepunkt erreicht

  • Die Singstimme bewegt sich in nahezu völliger Emanzipation vom Klaviersatz, in atemlos stockender Deklamation. Derweilen versucht das Klavier mit seinen permanent wiederkehrenden rhyhthmisiert fallenden Akkorden so etwas wie die innere musikalische Einheit des Liedes zu konstituieren, treibt damit die Singstimme in der Atemlosigkeit ihrer Bewegungen zugleich aber weiter an.


    Das finde ich sehr treffend auf den Punkt gebracht, lieber Helmut! :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • In aller Früh, ach, lang vor Tag,
    Weckt mich mein Herz, an dich zu denken,
    Da doch gesunde Jugend schlafen mag.


    Hell ist mein Aug um Mitternacht,
    Heller als frühe Morgenglocken:
    Wann hättst du je am Tage mein gedacht?


    Wär ich ein Fischer, stünd ich auf,
    Trüge mein Netz hinab zum Flusse,
    Trüg herzlich froh die Fische zum Verkauf.


    In der Mühle, bei Licht, der Müllerknecht
    Tummelt sich, alle Gänge klappern;
    So rüstig Treiben wär mir eben recht!


    Weh, aber ich! O armer Tropf!
    Muß auf dem Lager mich müßig grämen,
    Ein ungebärdig Mutterkind im Kopf.


    Unglückliche Liebe, - ein großes Thema des Lyrikers Mörike. Dieses Gedicht ist nicht eines seiner wirklich großen, aber auch im schlichten sprachlichen Ton seiner mit jeweils drei Versen mit dem Reimschema a-b-a flüssig und reibungslos aufeinander folgenden Strophen zeigt es dessen Format als Lyriker: Es ist die wie aus einem Zentrum menschlicher Existenz hervorgehende und sich nährende Konkretheit, Dichte und Plastizität der lyrischen Bilder.


    Der junge, offensichtlich im Gemüt einfache Mensch, der da zu Bett „in aller Früh“ seiner Liebsten gedenkt, äußert sich sprachlich-lyrisch vollkommen authentisch. Und Mörike hat dem Ganzen in äußerst dezenter Art eine Spur Humor beigemischt. Der junge Mann beklagt sich, dass ihm die untreue Geliebte den der Jugend doch eigentlich angemessenen und gehörigen Schlaf raubt. Er kokettiert gedanklich mit der ernsthaften Tätigkeit eines Fischers oder Müllers und wünscht sich, in deren tätiges Leben einzutreten, weil es für Gedanken dieser Art, wie sie ihn eben umtreiben, gar keinen Raum lässt.


    Niemand würde ihn eigentlich davon abhalten Was aber tut er? Grämt sich „müßig“ auf dem morgendlichen Lager, „ein ungebärdig Mutterkind im Kopf“. Man meint, aus all diesen so verdächtig glatt hinfließenden Versen den weisen Dichter herauszuhören, der Liebesleid und –freud in vielerlei Weise erfahren und durchlebt hat und sich sein Verslein darauf zu machen weiß.

  • Nach dem hochkomplexen und von kompositorischer Genialität sprühenden Lied „Erstes Liebeslied eines Mädchens“ mutet dieses „Lied eines Verliebten“ musikalisch ein wenig flach an. Mir scheint, es ist wie beim „Rat einer Alten“: Der dichterische Text enthält wenig musikalisch inspirierendes Potential.


    Andererseits ist dieses Lied aber klanglich durchaus reizvoll. Und dieser Reiz kommt aus dem musikalischen Motiv des Klaviersatzes, das es von Anfang bis Ende durchzieht und mit seinen verschiedenen strukturellen Modifikationen in ein vielfältig expressives Spannungsverhältnis zur melodischen Linie der Singstimme tritt. Und der Humor, mit dem Wolf Mörikes Gedicht kompositorisch handhabt, äußert sich nicht zuletzt darin, dass dieses Motiv im Nachspiel klanglich regelrecht einschläft. Den verliebten Burschen, dessen Auge „hell um Mitternacht“ ist, hat nun doch der Schlaf heilsam überwältigt.


    Das besagte musikalische Motiv des Klaviersatzes klingt gleich im ungewöhnlich langen (neun Takte!) Vorspiel auf. Dieser Umfang lässt darauf schließen, dass Wolf ihm in seinem Lied eine große musikalische Bedeutung beimisst. Und so ist es ja auch. Es ist im Klavierbass zu vernehmen und besteht aus einer bogenförmigen Bewegung von Achteln, die, zwischen Piano und Forte schwankend, immer höher steigt, um am Ende in großer Höhe mit einem Sekundschritt gleichsam wankend auszuklingen. Im Diskant erklingen derweilen, sich im Sechsachteltakt gleichsam rhythmisch dazwischendrängend, Dreiergruppen von Sechzehntel-Akkorden.


    Dass der „Verliebte“ in sich selbst bemitleidender Weise um sich selber kreist, ist der melodischen Linie, die Wolf ihm in den Mund legt, deutlich zu entnehmen. Auffällig oft kehrt eine bestimmte Figur in ihrer Bewegung wieder, - nicht in identischer Firm zwar, aber in ihrer Ähnlichkeit sehr wohl erkennbar. Der permanente Fall der Vokallinie mit nachfolgendem Wiederanstieg und erneutem Fall, der das Jammern und Klagen musikalisch ausdrückt, kehrt zu Beginn der dritten und der fünften Strophe wieder. Und immerzu artikuliert das Klavier unverdrossen jenes musikalische Motiv, mit dem es im Vorspiel einsetzt. Auch dies ein musikalischer Indikator des Um-sich-selbst-Kreisens des lyrischen Ichs.


    Ansonsten dominiert immerzu die fallende Linie bei der Singstimme. Besonders eindrucksvoll zu vernehmen bei der zweiten Strophe, wo es von einem hohen „e“ in klagevollem Fall hinunter bis zum tiefen „cis“ geht. In der vierten Strophe kommt – fast schon überraschend – ein anderer Ton in das Lied. Die Vision vom „Müllerknecht“ in der Mühle und seinen Aktivitäten fordert das. In spitzem Stakkato erklingt jetzt das bekannte Motiv im Klavierbass, und die melodische Linie der Singstimme bewegt sich ausnahmsweise einmal nicht abwärts, sondern hüpft in munteren Sprüngen hin und her.


    Aber nicht lange geht das so. Mit dem „Weh“ der letzten Strophe setzt das Lamento wieder ein, und mit der melodischen Linie geht es wieder abwärts. Alle drei Verse erklingen in fallender melodischer Linie. Nur beim dritten ereignet sich am Ende ein Anstieg, der bei dem Wort „Kopf“ auf der Quinte von fis-Moll in Form einer langen Dehnung endet.


    Ist das die Vorstufe zu dem Einschlafen, das sich musikalisch im Nachspiel ereignet?

  • Dieses Lied entstand am 14. März 1888. Am Tag zuvor hatte Wolf die Lieder „Gebet“ und „Verborgenheit“ geschrieben, und man möchte Erik Werba darin folgen, wenn er mit dem „Lied eines Verliebten“ die Bemerkung verknüpft: „Entspannung folgt auf dem Fuße“. Es wirkt auf den Hörer, der gerade noch das im Mörike Opus vorangehende „Erste Liebeslied eines Mädchens“ im Ohr hat, wie ein kompositorisch vergnügliches Sich-Tummeln in Heiterkeit und verschmitztem Humor. Der Wolf-Biograph Honolka spricht sogar von einem „bloßen Leichtgewicht, textlich wie musikalisch“ und bemängelt das „zu Tode gerittene Sechsachtel-Thema im Klavier“.


    Darin möchte ich ihm nicht folgen. Gewiss, auf dem Hintergrund der gerade vorangegangenen Peregina-Lieder ist dieses Lied tatsächlich ein „Leichtgewicht“. Aber das ist es nur in seiner – von Mörikes Text vorgegebenen – musikalischen Aussage. Es geht hier nicht um die Abgründigkeit des Zugleich von glückhafter Erfahrung und seelischem Leid in der Liebe. Da ist zwar einer unglücklich in seiner Verliebtheit, aber so recht mag man ihm das „Weh, aber ich! o armer Tropf“ nicht abnehmen. Der morgendliche Monolog enthüllt ein sich in Selbstmitleid suhlendes lyrisches Ich. Und genau so hat es Wolf auch in Musik gesetzt.

  • Gerade entdeckt: Hier gibt es einen Film, der Barenboim und Fischer-Dieskau bei der Probe zum "Lied eines Verliebten" zeigt. Anschließend hören sie die Aufnahme ab und Barenboim äußert sich über Fischer-Dieskau:


    http://www.youtube.com/watch?v=G5wCn6bYwfU


    Interessant ist auch dieses Video, ein Konservatoriumskonzert. Da merkt man den Abstand zu Fischer-Dieskau und Barenboim. Alles wird nivelliert. Ein Schülervortrag eben:


    http://www.youtube.com/watch?v=fnt2a1IKgp0


    Ein großartiges Wolf-Lied!


    Schöne Grüße
    Holger

  • Dr. Holger Kaletha ist hier in diesem Thread ganz offensichtlich sehr in Sachen Internet-Connections aktiv (Motto: "Gerade entdeckt"), - und dafür sei ihm Dank!
    Dass sich freilich Fischer-Dieskaus Liedinterpretation durch die Verschmelzung von lyrischem Wort und Musik auszeichnet, wie ich gerade von Daniel Barenboim in dem angezeigten Video erfahre, das ist nun wahrlich keine große Erkenntnis.


    Mit den Videos ist das so eine Sache. Ich muss gestehen: Ich mag sie nicht. Sie verführen allzu leicht dazu, den optischen Reizen zu folgen und die Musik dabei aus den Ohren zu verlieren. Diesbezüglich besteht da ein fundamentaler Unterschied zwischen unmittelbar gegenwärtig erfahrenem Konzerterlebnis und Videoaufzeichnung. Nach all meinen Erfahrungen ziehe ich die reine Tonaufzeichnung von einem Liederabend dem Video vor. Sie bringt mich in engeren Kontakt mit der Musik selbst, weil mich meine Augen dabei nicht von den Ohren weglocken.


    Aber das ist ja vielleicht ein ganz und gar subjektives Urteil. Immerhin können solche im Internet zugängliche Videos, wie das von jenem munter bemühten, jugendlichen Interpreten besagten Hugo Wolf-Liedes, die sängerisch-interpretatorische Größe Dietrich Fischer-Dieskaus unmittelbar erfahrbar werden lassen. Na bitte! Das ist doch was!

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  • Das, was der Wolf Biograph Kurt Honolka bemängelt, dieses „zu Tode Reiten des Sechsachtel-Themas“, ist eines der kompositorischen Mittel, die Wolf einsetzt, um das gleichsam ziellose Um-sich-selbst-Kreisen des lyrischen Ichs musikalisch zu evozieren. Das permanent im Klavierbass sich wiederholende bogenförmige Auf und Ab der Achtel suggeriert, dass sich an der Situation, in der das lyrische Ich sich befindet und in der es sich selbst bemitleidet, nichts ändert. Nicht ohne Grund sind Vor- und Nachspiel in diesem Lied ungewöhnlich lang. Und ebenso wenig ohne Grund lässt Wolf im Nachspiel dieses melodische Motiv im Klavierbass regelrecht klanglich einschlafen. Die Bewegung erlischt langsam.


    Auch die melodische Linie der Singstimme greift ja in ihrer Struktur die seelische Befindlichkeit, dieses im Grunde taten- und kraftlose Gehabe des lyrischen Ichs auf, - mit ihrer ebenfalls sich permanent wiederholenden Bewegung, die bogenförmig angelegt ist und die fallende Linie betont, um den Klageton hervorzuheben. Nur kurz kommt ein wenig mehr Energie in Gestalt von stakkatohaften Akzenten in sie, wenn nämlich von wirklich tätigen Menschen die Rede ist, Fischern und Müllern.


    Alles an diesem Lied deutet darauf hin, dass Wolf Mörikes Gedicht eine Gehörige Portion musikalischen Humor beigegeben hat. Es dürfte in dessen Sinn gewesen sein.

  • Sehet ihr am Fensterlein
    Dort die rote Mütze wieder?
    Nicht geheuer muß es sein,
    Denn er geht schon auf und nieder.
    Und auf einmal welch Gewühle
    Bei der Brücke, nach dem Feld!
    Horch! das Feuerglöcklein gellt:
    Hinterm Berg,
    Hinterm Berg
    Brennt es in der Mühle!


    Schaut! da sprengt er wütend schier
    Durch das Tor, der Feuerreiter,
    Auf dem rippendürren Tier,
    Als auf einer Feuerleiter!
    Querfeldein! Durch Qualm und Schwüle
    Rennt er schon, und ist am Ort!
    Drüben schallt es fort und fort:
    Hinterm Berg,
    Hinterm Berg
    Brennt es in der Mühle!


    Der so oft den roten Hahn
    Meilenweit von fern gerochen,
    Mit des heilgen Kreuzes Span
    Freventlich die Glut besprochen -
    Weh! dir grinst vom Dachgestühle
    Dort der Feind im Höllenschein.
    Gnade Gott der Seele dein!
    Hinterm Berg,
    Hinterm Berg
    Ras't er in der Mühle!


    Keine Stunde hielt es an,
    Bis die Mühle borst in Trümmer;
    Doch den kecken Reitersmann
    Sah man von der Stunde nimmer.
    Volk und Wagen im Gewühle
    Kehren heim von all dem Graus:
    Auch das Glöcklein klinget aus:
    Hinterm Berg,
    Hinterm Berg
    Brennts! -


    Nach der Zeit ein Müller fand
    Ein Gerippe samt der Mützen
    Aufrecht an der Kellerwand
    Auf der beinern Mähre sitzen:
    Feuerreiter, wie so kühle
    Reitest du in deinem Grab!
    Husch! da fällts in Asche ab.
    Ruhe wohl,
    Ruhe wohl
    Drunten in der Mühle!


    Wann diese berühmte Ballade Mörikes entstand, ist nicht ganz sicher festzustellen. Sie könnte bereits 1823 verfasst worden sein, mit Sicherheit gehört sie aber der Zeit seines Tübinger Vikariats an. Auch sie ist, wie so viele andere hier relevante Gedichte, ohne zwingenden Bezug zur Handlung in den Roman „Maler Nolten“ eingefügt. Im tieferen Sinne, was nämlich die schicksalhafte Dimension menschlichen Lebens anbelangt, gehört sie ihm freilich doch an. Zugrunde liegt ihr ein Volksglaube an seltsame Menschen, die Feuerbrünste vorausahnen können und, obgleich sie das Feuer dann doch bekämpfen, in magischer Weise von ihm angezogen und in Bann geschlagen sind.


    Mörike verleiht dieser Gestalt jedoch eine Dimension, die über den Volksglauben hinausreicht. An Hartlaub schrieb er im Dezember 1841: „Der Feuerreiter hat eine neue Strophe zwischen der 2. und 3. erhalten, wodurch er ohne Note und ohne das Prädikat wahnsinnig in der Aufschrift verständlich wird.“ Gemeint ist die dritte Strophe, die davon handelt, dass der Feuerreiter das Zeichen des Kreuzes einsetzt, um das Feuer zu bekämpfen, und damit eine Sünde auf sich lädt. Im Kampf gegen die Elementargewalten maßt sich der Mensch etwas an, das ihm nicht zusteht. Der Tod in den Flammen ist die gerechte Strafe dafür.


    Großartig der Einstieg. Mörike verzichtet auf jegliche Einleitung, wie sie für Balladen typisch ist. Mitten hinein ins Geschehen geht es, - und das mit einem überaus expressiven Bild: Am „Fensterlein“ geht eine rote Mütze auf und nieder. Und dieses gleichsam enge und wie magische Bild öffnet sich dann perspektivisch noch im Verlauf der ersten Strophe zur Brücke und zum Feld. Das minimalistische rote Getanze vor dem Fenster weitet sich zum „Gewühle“ weit draußen. Und alles mündet in diesen so klanglich suggestiv wirkenden Refrain: „Hinterm Berg, hinterm Berg…“
    Ganz ohne Zweifel: Hier hat ein großer Lyriker sich als Balladendichter betätigt. Seine Sprache entfaltet klangliche Magie.


    Man muss sich ihr nur überlassen. Dann merkt man, wie man dabei – eigentlich ganz unballadenhaft – geführt und in Bann geschlagen. Mit dem Appell „Schaut“ setzt die zweite Strophe ein. Und was ist da zu schauen? Ein auf einem „rippendürren Tier“ durch das Tor sprengender Reiter. Die Kombination der Worte „querfeldein“ und „rennen“ verleiht dem Bild eine starke Plastizität. Man sieht diese Gestalt vor sich, so lyrisch intensiv ist das Bild gelungen. Und der erneut aufklingende Kehrreim erweist sich mehr und mehr als ein die Dramatik noch steigernder Rahmen des ganzen Geschehens.


    Um so wirkungsmächtiger jene Stelle, wo die die sprachliche Hektik, die ihm innewohnt, abrupt abbricht. Das Wort „brennt´s“ ragt buchstäblich in ein rhythmisches Loch. Es reflektiert das „Ausklingen“ des „Glöckleins“. Nach der Pause, die hier entstanden ist, setzt die letzte Strophe mit ruhig balladenhaftem Erzählton ein. Nur noch einmal kommt leise Bewegung in diesen. Das Wort „Husch“ setzt einen rhythmisch-sprachlichen Akzent, der wie hingehaucht wirkt. Und die dunklen Laute des dieses Mal nicht mehr hektisch erklingenden Kehrreims, dieses ruhig sich bewegenden „Ruhe wohl!“, wirken wie ein stark suggestiver Schluss der Ballade und des Geschehens in ihr.

  • Balladen weisen als episch-narrative Gebilde in der Regel einen ruhigen Erzählton auf, und am Anfang findet sich eine Art narrative Exposition. Diese Ballade wurde von einem Lyriker verfasst, und die dichterische Sprache stürzt sich vom ersten Vers an direkt und unvermittelt in ein atemraubendes Geschehen. Und Hugo Wolf?


    Von allen Komponisten, die diese Ballade verton haben, ist er ganz gewiss derjenige, der die Atemlosigkeit und Rasanz des dichterischen Textes nicht nur musikalisch adäquat eingefangen hat, - er hat sie sogar noch potenziert.


    „Sehr lebhaft“ lautet die Vortragsanweisung für dieses Lied, das in h-Moll steht und einen Vierviertelakt aufweist. Rasant setzen im zweitaktigen Klaviervorspiel auf und ab laufende Achtelketten ein, die bis zum vierten Vers einschließlich weiterlaufen, sich vom Pianissimo bis zum Fortissimo steigern und auf klanglich dramatische Weise chromatisch ansteigen. „Flüsternd“ (Anweisung) und stockend setzt die Singstimme im zweiten Takt ein. Pausen unterbrechen die atemlos-rezitativische Artikulation des Textes. Die tonale Ebene geht dabei spannungssteigernd in die Höhe. Bei „nicht geheuer“ ereignet sich ein übermäßiger Oktavsprung, und die Worte „auf und nieder“ werden dadurch markant hervorgehoben, dass die melodische Linie ansteigt und auf jeder Silbe nun ein Ton im Wert einer Viertelnote sitzt.


    Beim fünften Vers hat die Dynamik das Fortissimo erreicht. Die melodische Linie steigt zunächst lebhaft an, macht dann einen Oktavfall und beißt sich dann auf einem hohen „d“ fest, von dem sie am Ende einen verminderten Terzsprung macht. Im Klaviersatz tummeln sich jetzt in fast chaotischem Auf und Ab triolische Akkorde. Dieses tumultuöse Auf und Ab bleibt im Diskant erhalten, während der Vers „Horch, das Feuerglöcklein gellt“ silbengetreu deklamiert wird. Auf dem Wort „gellt“ liegt dabei eine lange, über fast zwei Takte sich erstreckende melodische Dehnung.


    Und dann der Refrain. Er hält das Lied musikalisch zusammen. Anders würde es durch die Rasanz der Bewegungen in der Vokallinie und im Klaviersatz in die Gefahr des Auseinanderfallens geraten. „Wild“, im Forte-Fortissimo und jetzt endlich in der Haupttonart h-Moll deklamiert die Singstimme in hoher Lage und sich nur um eine Sekunde von der tonalen Ebene wegbewegend: „Hinterm Berg…“. Das Klavier begleitet mit Tremoli im Diskant und Achtel-Akkorden im Bass. Wie ein klangliches Fanal wirkt diese Passage.


    Wenn der Feuerreiter durch das Tor sprengt, rasen im Klavierdiskant unablässig in Akkorde mündende Triolen nach oben, und im Bass donnern Oktaven. Die Singstimme deklamiert mit hektisch auf und ab steigender Vokallinie. Wieder trennen Pausen die einzelnen Aussagen, so dass sie dramatisch gesteigert wirken. Und wieder verharrt die melodische Linie der Singstimme vor dem Erklingen des Refrains bei dem Wort „fort“ lange auf einem hohen „e“.


    „Etwas ruhiger“ lautet die Anweisung für die dritte Strophe. Im Klaviersatz erklingen jetzt Achtel-Akkord-Repetitionen im Bass und im Diskant. Die melodische Linie steigt in vergleichsweise ruhigen Schritten langsam stufenförmig an und gipfelt nach einem dissonant wirkenden verminderten Sextsprung bei dem Wort „weh“ auf. Danach steigert sie sich in wieder dramatischen, weil stufenweise ansteigenden Schritten in immer größere Höhe.


    Das „Gnade Gott…“ wird auf einem hohen „g“ deklamiert, und danach fällt die melodische Linie ab: Nach dem letzten Vers des Refrains, der gesanglich wie „wild“ (Anweisung) herausgeschrien wird, rauschen im Diskant rhythmisierte Achtelakkorde abwärts, während im Bass Oktaven bogenförmig auf und ab steigen. Das ist ein wüst und wild wirkendes, weil durch Punktierung rhythmisiertes und chromatisch durchsetztes klangliches Feuerwerk, das da zu vernehmen ist.


    Die rhythmisierten Akkorde laufen fort, während die Singstimme die vierte Strophe in markanter, weil syllabisch exakter Deklamation erklingen lässt. Allerdings verbleiben sie jetzt durchweg über längere Strecken auf einer tonalen Ebene, so dass die Musik einen relativ gemäßigten, narrativen Charakter annimmt. Im Nachspiel nach dem vierten Vers („Sah man von der Stunde nimmer“) laufen die Akkorde im Diskant und die Oktaven im Bass immer weiter auseinander und schwächen sich dynamisch bis zum Piano-Pianissimo ab.


    Aber schon beim nächsten Vers kommt wieder größere Bewegung in die Vokallinie und den Klaviersatz. Die Singstimme bewegt sich im Sekundschritt rhythmisch akzentuiert aufwärts, während im Klavier, ebenfalls rhythmisiert, Akkorde abwärts streben. Musikalisches „Gewühle“ ist zu vernehmen, allerding piano. Das Glöcklein klingt wieder in Form einer Dehnung auf einem hohen „e“ aus, und im letzten Vers verklingt die melodische Linie in eindrucksvoller Wiese auf einem über den ganzen Takt gehaltenen hohen „g“. Das Klavier ahmt die letzten melodischen Schritte der Singstimme immer mehr stockend und leiser werdend nach und verklingt ebenfalls. Eine lange Pause folgt.


    „Bedeutend ruhiger“ soll die letzte Strophe vorgetragen werden. Sowohl die Vokallinie als auch der Klaviersatz sind ganz darauf angelegt. Die Singstimme bewegt sich mit ruhiger, silbengetreuer Deklamation, ohne dabei größere Intervalle zu nehmen. Die Ruhe ergibt sich daraus, dass auf den Silben nun Viertelnoten liegen. Im Klavier erklingen Achtelakkord-Repetitionen, auch sie ohne große Intervallsprünge.


    Eindrucksvoll steigert sich aber die melodische Linie langsam zu dem Bild vom auf der Mähre sitzenden Feuerreiter in die Höhe. Eine Pause folgt, im Piano-Pianissimo erklingen fünf Achtel-Akkorde. Und danach erklingt, pianissimo auf einem verminderten Quartfall in klanglicher Leere rezitiert, das geheimnisvolle „Feuerreiter“. Nach einer Pause folgt die auf gleicher Tonhöhe deklamierte Frage „Wie so kühle…?“. Und dann, nach fast zwei Takten Pause dieses singuläre „Husch“, - auf einem hohem „es“ wieder ins Leere gehaucht.


    Die Worte „da fällts in Asche ab“ erklingen dann im äußersten Pianissimo („pppp“) genau eine Oktave tiefer. Klanglich beeindruckender – und zugleich textgemäßer! - geht das wohl nicht mehr. Das „Abfallen“ ist im stockenden und schließlich abrupt stehen bleibenden Klaviersatz musikalisch zu vernehmen.


    Mit einem melodisch und harmonisch breiten und ruhigen „Ruhe wohl“ klingt das Lied aus.

  • Weil ich in meiner Besprechung Bezug auf die anderen Vertonungen dieser Ballade Mörikes nahm, möchte ich diese wenigstens auflisten, ohne dass ich freilich hier auf sie eingehen könnte. Ich hoffe allerdings sehr, dass dies zweiterbass in seinem Hugo Distler-Thread tut, denn Distlers Chorfassung ist kompositorisch hochinteressant und klanglich überaus in Bann schlagend.


    Die Vertonungen, von denen ich noch weiß, stammen von:
    Hugo Distler
    Robert von Hornstein (1833-1890)
    Wilhelm Killmayer (geb. 1927)
    Rabih Merhi (geb. 1986)


    Die oben getroffene Feststellung, dass Hugo Wolf unter allen anderen Komponisten auf diese Ballade derjenige sei, der ihre sprachliche Rasanz und Atemlosigkeit, die Intensität ihrer Bilder und die Dramatik des szenischen Ablaufs mit Abstand am besten musikalisch eingefangen hat, kann man getrost aufrechterhalten.

  • Der Feuerreuter von Wolf ist nicht nur eins der eindrucksvollsten seiner Lieder, sondern auch der einprägsamsten. Man vergißt es nie wieder! :)


    Schöne Grüße
    Holger

  • Zit:"... nicht nur eins der eindrucksvollsten seiner Lieder, sondern auch der einprägsamsten."...


    ...und eines, das denjenigen, der es in seiner musikalischen Struktur, seiner klanglichen Eigenart und seiner liedkompositorischen Größe zu beschreiben und zu erfassen versucht, vor große Herausforderungen stellt.
    Ich habe mich davor regelrecht gefürchtet! Aber das scheint mir jetzt im nachhinein ein bemerkenswertes Indiz für musikalisch allerhöchste Qualität zu sein.

  • Zitat Helmut:" Alter ist ein Teil dieses Lebens. Alter drückt sich in der knappen, vielleicht sogar ein wenig schroffen sprachlichen Direktheit aus, die nicht mehr gefallen will. Alter will nicht mehr gefallen. Ihm sind die Träume abhanden gekommen, die Illusionen und emotionalen Aufwallungen, die Jugend in ihrem Wesen ausmachen."


    ... und die Zähne sind auch abhanden gekommen! Es brabbelt so vor sich hin in diesem Text. Einfach genial ist das sprachlich erfasst, für mich gar nicht komisch oder humoristisch. Ein bisschen wie geistige Inkontinenz ist das. Dieses Gedicht ist unglaublich, unlgaublich gut. Ich kenne nichts Vergleichbares.


    Ich wollte das mit einiger Verspätung nachlegen. Danke für Deine erlesenen Texte, lieber Helmut.


    Dir zum Gruß!


    Rheingold

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • ich finde dieses humoristische Lied köstlich! Die Musik enthüllt hier die "Alte" als eine etwas verschrobene, kauzige Jungfer, die glaubt, der Jugend, die noch Lebenssaft in sich hat, etwas raten zu können. Vergleblich natürlich. Das hat etwas von "Des Antonius von Padua Fischpredigt": Die Welt hört der Belehrung artig zu, jeder bleibt aber der, der er ist


    Damit kann ich viel mehr anfangen und es dürft auch Mörikes Gedanken "zwischen den Zeilen" ausdrücken, siehe Helmuts Textanalyse.


    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Erstaunlich, - aber andererseits natürlich höchst erfreulich! - , dass ausgerechnet dieses Lied „Rat einer Alten“ auf so viel Echo stößt, wo es doch das einzige ist, dass Hugo Wolf nicht gefiel. Er setzte es übrigens in e-Moll, und Fischer-Dieskau vermutet darin eine Reverenz an Mozart und dessen Lied „Die Alte“.


    Aber Rheingold 1876 hat ja recht, wenn er meint: „Es brabbelt so vor sich hin in diesem Text. Einfach genial ist das sprachlich erfasst…“. Mörike verleiht den Worten der Alten durch die syntaktische Abmagerung einen faszinierend realistischen Ton. In der ersten – und den Rahmen bildenden Strophe – will sie ja, sprachlich elaboriert formuliert, sagen: Da ich auch einmal jung gewesen bin, kann ich in Dingen der Jugend heute sehr wohl mitreden. Und da ich ein alter Mensch mit viel Lebenserfahrung, kann das, was ich zu raten habe, Gültigkeit beanspruchen. Aber „die Alte“ hat solche Buhlerei um Aufmerksamkeit durch reichlichen Redefluss gar nicht mehr nötig. Sie kann sich schroffe Direktheit leisten. Vielleicht sind ihr aber auch längere Sätze mit zu viel Mühe verbunden.


    Wolf hat diesen sprachlichen Ton mit seinem Lied musikalisch wunderbar getroffen. Schon die schroffen, dissonant klingen Moll-Schläge im Klaviersatz, wie sie von Anfang an aufklingen, machen dass sinnfällig. Und wenn er am Ende einen einzelnen Akkord nachsetzt, klingt das tatsächlich, als würde die Alte das, was sie eben gerade definitiv verkündete, mit einem Schlag der flachen Hand auf den Tisch bekräftigen.


    Aber im Augenblick hat mich gerade der „Feuerreiter“ im Griff. Da gibt es noch ein paar Fragen, denen ich nachgehen muss.

  • Ich hoffe allerdings sehr, dass dies zweiterbass in seinem Hugo Distler-Thread tut, denn Distlers Chorfassung ist kompositorisch hochinteressant und klanglich überaus in Bann schlagend.


    Lieber Helmut,
    ja, das tue ich selbstverständlich. Und im Vorgriff auf meinen Beitag zu Distlers Feuerreiter-Vertonung:
    Die Wolfsche Komposition schlägt mich diesmal mehr in Bann als die von Distler - und wenn dann auch noch eine so beeindruckende Interpretation wie die von Fischer-Dieskau (den youtube-Link stelle ich bei Distler zum unmittelbaren Vergleich ein) hinzukommt - sehr überzeugend; das mag auch daran liegen (?), dass dieses sich sehr an einer Ballade ausrichtende Gedicht und dessen Vertonung zum Vortrag für eine Solostimme mehr eignet.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

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