Beethoven: Klaviersonate Nr. 8 in c-moll op. 13: "Pathetique"

  • Gould hatte nun einmal mit der CBS einen Plattenvertrag über alle Beethovensonaten unterschrieben ;) . Einige schätzte er und interpretierte sie gut, andere verabscheute er. Aber auch diese spielte er nicht einfach runter sondern überbetonte meist einen Aspekt, der ihm interessant erschien. Bei der Appassionata scheint aber die Absicht darin gelegen zu haben, in Zeitlupe zu zeigen, dass das Werk "aufgeblasen" sei. Gould machte dasselbe auch mit einigen Bachwerken. Das Italienische Konzert (welches er hasste) hackte er in einem Affentempo runter, die Cembalofantasie in c-Moll spielte er im Zeitlupentempo (Apassionataeffekt). Gould ist immer - auch bei Bach - eine Klasse für sich und kann eigentlich nie als "Referenz" gelten. Er wollte das auch gar nicht und hat "Referenzen" sogar per se abgelehnt. Viel eher träumte er davon, dass der Konsument seine eigene Idealeinspielung aus mehreren Einspielungen zusammenschneidet. Aus diesem sollte sich die Kritik an seinen Interpretationen auch anders orientieren, finde ich.

  • Ich will nur einen Aspekt herausgreifen. Wir haben in den vergangenen Monaten das eine um das andere Mal, und wenn ich mich recht entsinne, besonders von einem Pianisten, gelesen, dass er dynamische Unterschiede einebne. Und ich finde, wenn das beim einen (Säulenheiligen) erlaubt ist, muss das auch beim anderen erlaubt sein. Wenn wir hier die Aufgabe haben, Interpretationen der Beethoven-Sonaten zu besprechen und zu vergleichen, dann halte ich es für mich nicht nur für legitim, sondern auch für fair, zu schauen und vor allem zu hören, ober und in wie weit der einzelne Interpret nach meiner Ansicht die Vorgaben des Komponisten umgesetzt hat. Und wenn ein Interpret bei jeder Sonate sein Bestes gibt und sich bemüht, eine mustergültige Interpretation abzuliefern, dann muss ich das auch sagen, selbst wenn er pianistisch vielleicht dem einen oder anderen Kollegen unterlegen ist, was er aber durch Ernsthaftigkeit und Herzblut wieder ausgleicht.
    Für mich ist er dem Interpreten vorzuziehen, der ihm vielleicht pianistisch überlegen ist, aber meint, sich nur bei den Stücken um eine mustergültige Interpretation bemühen zu müssen, die er mag, und die anderen nicht beiseite lässt, sondern sie dennoch spielt, aber so verquer, um damit auszusagen, dass der Komponist bei der Komposition dieser Stücke doch wohl den letzten Schuss nicht gehört habe.
    Schade dass Herr Gould nicht mehr lebt, sonst würde ich ihm sehr gerne schreiben, dass er mit der Interpretation der Pathétique, der Appassionata oder der Sonate Nr. 11 A-dur KV 331 nicht den Komponisten diskreditiert hätte, sondern sich selbst. Ich an seiner Stelle hätte die Stücke einfach nicht aufgeführt. Punktum.
    Nicht, dass wir uns falsch verstehen, ich habe auch seine Beethoven-Konzerte, und da habe ich ganz anders über ihn geschrieben. Gould hat doch, wenn ich mich recht entsinne, mal in Moskau in einem Konzert Swjatoslaw Richters gesessen. Ich weiß nicht mehr, was Richter da gespielt hat, aber die Appassionata kann das nicht gewesen sein, und die Pathétique auch nicht. Wenn doch, und Richter hätte hinterher gehört, was Gould da abgeliefert hat, dann weiß ich nicht, wie Richter reagiert hätte.


    Liebe Grüße und schönen Sonntag


    Willi ?(^^:no:

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Viel eher träumte er davon, dass der Konsument seine eigene Idealeinspielung aus mehreren Einspielungen zusammenschneidet. Aus diesem sollte sich die Kritik an seinen Interpretationen auch anders orientieren, finde ich.

    So sehe ich das auch, lieber Felix. Gould hat z. B. auch den ersten Satz von Scriabins 3. Klaviersonate im Zeitlupentempo gespielt. Das ist höchst aufregend. Man "sieht" auf einmal die syntaktische Struktur so plastisch wie auf einem Röntgengenbild.


    Ich will nur einen Aspekt herausgreifen. Wir haben in den vergangenen Monaten das eine um das andere Mal, und wenn ich mich recht entsinne, besonders von einem Pianisten, gelesen, dass er dynamische Unterschiede einebne. Und ich finde, wenn das beim einen (Säulenheiligen) erlaubt ist, muss das auch beim anderen erlaubt sein.

    Das ist richtig, lieber Willi. Aber ebenso stellt sich dann die Frage, warum er das tut! Für Gould ist das musikalische Zentrum, der Maßstab, an dem er die Musik mißt, im Grunde Bachs Fugengeist. Wenn er dynamische Unterschiede einebnet, dann geschieht dies in der Absicht einer Linearisierung, nämlich Beethoven mit dem Auge von Bach zu lesen. Das ist eine geistige Leistung. (Ich hatte das "Dekonstruktion" genannt.)


    Schöne Grüße
    Holger

  • Gould hat doch, wenn ich mich recht entsinne, mal in Moskau in einem Konzert Swjatoslaw Richters gesessen. Ich weiß nicht mehr, was Richter da gespielt hat, aber die Appassionata kann das nicht gewesen sein, und die Pathétique auch nicht.


    Das war Schuberts Klaviersonate B-Cur D 960 - die Richter Gould zum ersten Mal beeindruckend nahebringen konnte, wie er sagte. :hello:


    Schöne Grüße
    Holger


  • Beethoven, Sonate Nr. 8 c-moll op. 13
    Michael Korstick, Klavier
    AD: Mai 2006
    Spielzeiten: 8:57-6:16-4:05 – 19:18 min.;


    Michael Korstick beginnt mit energischem Zugriff, aber gemessenem Tempo. Er gehört ja zu denjenigen, die die langsamen Stücke wirklich langsam spielen und die schnellen wirklich schnell. Aber weshalb wiederhole ich mich eigentlich dauernd? Er gebraucht für das Grave 2:01 min. und macht das großartig.
    Demzufolge geht bei ihm auch im Allegro die molto e con brio die Post ab. Auch hier großer dynamischer Rahmen und feinste Abstufungen. Das Seitenthema ab Takt 51 spielt er auf höherem temporalen Niveau als andere dennoch etwas langsamer als das Hauptthema, wie andere. Sein Derescendo ab Takt 85 ist natürlich auch hervorragend, ebenso die tremolierende Sequenz ab Takt 89 mit den Legatobögen und der Steigerung zum Fortissimo am Ende der Exposition. Ich vergaß zu erwähnen, dass er ebenfalls die Sforzandi in Takt 45 bis 48 exzellent spielt, im Gegensatz zu manch anderem (siehe meine bisherigen Rezensionen). Zu seinem werktreuen Vortrag gehört auch, dass er die Fortepiani im Grave und im ersten Einschub forte spielt und nicht mehr. Es bleibt ohnehin genügend dynamische Gefälle zu seinem berückenden Piano.
    Auch die Durchführung spielt er unnachahmlich, technisch wie ausdrucksmäßig auf hohem bis höchstem Niveau, großartig auch der Achtelabstieg zur Wiederholung des Hauptthemas ab Takt 195, und so nimmt der Satz seinen Fortgang, spannungsreich musiziert hin zum zweiten Grave-Einschub, in dem er die Generalpausen voll auskostet und auch die kurze Allegro-Coda souverän gestaltet.


    Zum Adagio, in dem er, wie man es von ihm kennt und wie sich zu Recht zeigt, zu den Langsamsten zählt und gleichzeitig mit am ausdrucksstärksten ist, wählt er im Eröffnungsteil ein Pianissimo, dazwischen die moderaten Crescendi und in der Wiederholung das nunmehr vorgeschriebene Piano.
    Dies ist m. E. eines der besten Adagios, die ich je gehört habe.


    Das Rondo allegro nimmt Korstick dagegen sehr flott vorwärtsdrängend, treibend, sehr bewegt, aber nach wie vor dynamisch sehr ausgewogen mit großer Spannweite und pianistisch keine Grenzen kennend. Vor allem in den Tremoli ab Takt 105 drängt es unaufhörlich, im weiteren Verlauf auch die Legatobögen superb musizierend, desgleichen das Calando. Auch in dem Reprisenteil behält er exakt das Tempo bei, im Codateil noch einmal das dramatische Drängen erhöhend – Klasse!!
    Korstick stelle ich hier auf eine Stufe mit Gulda, wenngleich er die temporalen Gegensätze etwas anders gestaltet hat.


    Liebe Grüße


    Willi :thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup::thumbsup:

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  • Zitat

    Dr. Holger Kaletha: Gould hat z.B. auch den ersten Satz von Scriabins 3. Klaviersonate im Zeitlupentempo gespielt. Das ist höchst aufregend.

    Na, dann bin ich mal gespannt, ihr Lieben, was ihr sagt, wenn es um Korsticks Interpretation des Adagios in Beethovens Hammerklavier-Sonate geht.


    Liebe Grüße


    Willi :)

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  • Und ich finde, wenn das beim einen (Säulenheiligen) erlaubt ist, muss das auch beim anderen erlaubt sein.


    Natürlich ist es erlaubt. Ich finde es nur nicht sehr zielführend, jede einzelne Vorschrift, die Gould missachtet anzuführen. Damit rennst Du nur offene Türen ein. Goulds Interpretationen sind fast immer verfälschend, bzw. umdeutend. Deswegen läuft er bei mir immer außer Konkurrenz mit. Niemand könnte ernsthaft Goulds Beethoven-Einspielungen als "Erstkauf" empfehlen. Holger hat aber auf jeden Fall Recht, wenn er meint, es würde sich auszahlen, zu überlegen, weshalb Gould etwas auf eine bestimmte Art macht.


    Übrigens, mit Richter hast Du Dir ein bisschen ein Eigentor geschossen ;) . Seine Deutung der B-Dur Sonate von Schubert ist ja auch alles andere als "normal". Gould soll das gefallen haben (mir nicht, viel zu langsam).

  • Ich sehe das nicht als Eigentor an, lieber Felix. Immerhin ist es ein großer Unterschied, ob ein Swjatoslaw Richter den Kopfsatz der B-dur-Sonate in 24 Minten spielt und ein Wilhelm Kempff in 21 Minuten, wobei beider Interpretation von tiefem Ernst und Überzeugung durchdrungen ist, oder ob ein Michael Korstick den Kopfsatz der Appassionata in knapp 9 Minuten spielt und ein Glenn Gould in 15 Minuten. Wessen Interpretation da von tiefem Ernst und Überzeugung durchdrungen ist, wissen wir ja beide. Übrigens spielt Richter den Kopfsatz von Schuberts G-dur-Sonate sogar in 26 Minuten. Ich habe das Konzert einige Male im Fernsehen gesehen- höchst spannungsreich und faszinierend. Ich finde, es kommt immer darauf an, ob ein Pianist seine Interpretation überzeugend rüberbringt, und das halte ich bei Richter unbedingt für gegeben. Vielleicht sollten wir als übernächste Sonate irgendwann im Frühjahr die "Appassionata" besprechen, dann könnte ich meine beiden Richter-Aufnahmen von 1959 (Prag) und 1960 (New York) schön mit der Gould'schen vergleichen.
    Natürlich halte ich es auch für interessant zu überlegen, warum ein Interpret etwas auf eine bestimmte Art macht, solange es ihm nur darum geht, die nach seiner Überzeugung bestmögliche Interpretation eines Stückes im Sinne des Komponisten zu erreichen. Gould hatte aber bei einigen schon von mir genannten Sonaten von Beethoven und in zumindest einem Falle auch bei Mozart nicht diese Intention.


    Liebe Grüße


    Willi :)

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  • Es gibt auch Leute, die seeehr viel langsamer als Gould spielen, und die trotzdem großartige Interpretationen abliefern, obwohl sie durchaus nicht virtuoser Elemente entbehren:


    Wie schon im Thread "Britische Pianisten" erwähnt:


    Freddy Kempf, Pathetique Satz 1:


    http://www.youtube.com/watch?v=lq4G3KRAuXc


    Mir gefällt allerdings auch die Gouldsche Interpretation sehr gut, auch wenn er statt 10 nur ca. 6 Minuten benötigt.

  • Ich sehe das nicht als Eigentor an, lieber Felix. Immerhin ist es ein großer Unterschied, ob ein Swjatoslaw Richter den Kopfsatz der B-dur-Sonate in 24 Minten spielt und ein Wilhelm Kempff in 21 Minuten, wobei beider Interpretation von tiefem Ernst und Überzeugung durchdrungen ist, oder ob ein Michael Korstick den Kopfsatz der Appassionata in knapp 9 Minuten spielt und ein Glenn Gould in 15 Minuten.


    Brendel spielt den Kopfsatz der B-Dur aber in knapp 15 Minuten, Pollini braucht 19 Minuten. Das heißt, Richter ist schon sehr langsam, und wenn man den dünnen Ton der damaligen Klaviere bedenkt, halte ich es für völlig offensichtlich, dass Richter viel zu langsam spielt. Auch das ist eine verfälschung. Ob sie erfolgreich ist oder nicht, ist wieder eine andere Frage.

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  • Das heißt, Richter ist schon sehr langsam, und wenn man den dünnen Ton der damaligen Klaviere bedenkt, halte ich es für völlig offensichtlich, dass Richter viel zu langsam spielt. Auch das ist eine verfälschung.


    Man kann das aber auch andersherum sehen, lieber Felix: Der moderne Konzertflügel erlaubt es, daß man es so langsam spielt. Was wäre, wenn Schubert ein solches Instrument zur Verfügung gehabt hätte? Hätte er es dann nicht auch langsamer gespielt? Die Rede von "Verfälschung" ist hier heikel, denn von einer Fälschung kann man nur sprechen, wenn man das Original kennt, was gar nicht der Fall ist. Besonders beim Tempo läßt sich das kaum ausmachen. Von Mahler z.B. ist überliefert, daß er seine Symphonien je nach Aufführung in sehr unterschiedlichen Tempi dirigierte. Richter gibt dem Satz durch das bedächtige Tempo einfach eine erhabene Größe - Ausdruck von totaler Erstarrung in der Unendlichkeit. Mir gefällt das melodisch fließendere Tempo auch - aber die Dimension, die Richter erschlossen hat, möchte ich wie viele andere auch nicht mehr missen. Die Musik verliert dadurch ja nichts, sie gewinnt nur - und zwar eine geistige Dimension. Das ist ja die Stärke von Richter, Klavierspiel in einen Prozeß reinen "Denkens" in Tönen verwandeln zu können. :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Man kann das aber auch andersherum sehen, lieber Felix: Der moderne Konzertflügel erlaubt es, daß man es so langsam spielt.


    Natürlich. Ich werfe Richter ja auch nichts vor. Man kann die Frage der Authentizität bei praktisch allen Interpretationen stellen, sofern man will. Natürlich ist Gould oft extrem (nicht immer, denn sein Haydn und Brahms sind weitgehend "normal"), und man kann das mögen oder nicht. Aber die Tatsache, dass Gould anders verfährt als vorgeschrieben reicht nicht aus, um seine Interpretation abzulehnen. Das habe ich bei Brendel auch nicht getan. Ich habe ausgeführt, weshalb mich Brendels Lesart nicht anspricht.

  • Ein großer Unterschied ist, dass, wie schon angedeutet, wohl niemand Goulds Einspielung von op.13 als Standardempfehlung nennen würde wie im Falle Brendel oder Richter bei Schubert.


    Ich kann nachvollziehen, dass man sich über die stark eingeebnete Dynamik von Goulds Einspielung wundert. Das geht mir ähnlich, auch wenn es mich nicht so stört wie Willi. Aber insgesamt finde ich diese Interpretation erheblich weniger irritierend als sein op.27/1 oder gar die Appassionata! Es gibt meines Wissens keine direkten Belege dafür, dass Gould das Stück nicht mochte und es "dekonstruieren" wollte. Im Gegenteil hat er sich allgemein sehr positiv über den "frühen" Beethoven geäußert. Zwar könnte ihm der "pathetische" Ton missfallen haben, aber andererseits war das kaum weniger pathetische c-moll-Konzert meines Wissens das Konzert, das er mit Abstand am häufigsten gespielt hat, solange er noch konzertierte.
    Wenn man den etwas kreativen Umgang (oder das Ignorieren) der dynamischen Angaben mal beiseite lässt, finde ich, dass Gould sowohl den Einleitungscharakter des Grave (u.a. durch rubato, außerdem heißt "grave" "schwer" nicht "so langsam wie möglich", das Tempo finde ich hier eigentlich nicht so ungewöhnlich) als auch den Kontrast zum Allegro sehr deutlich herausbringt. Das allegro ist sehr schnell, aber nicht verwaschen und wie zu erwarten, bringt Gould einige Aspekte deutlicher als die meisten anderen, so zB die ominöse Basslinie T 114-120 (und an entsprechenden späteren Stellen).
    Im Mittelsatz mag man die Begleitung etwas penetrant hervorgehoben finden, ein verbreitetes feature bei Gould. Auch hier finde ich aber die unkonventionelle dynamische Gestaltung zB T. 24-28 durchaus überzeugend, weil es beinahe "sprechend" wirkt, was bei einer sonst etwas zur Motorik neigenden Interpretation besonders hervorsticht.
    Völlig in seinem Element ist Gould dann im Rondo, das zwar wieder an der Oberkante des Tempos und weit eher spielerisch als dramatisch (was m.E. aber dem Charakter des Satzes entspricht). Trotz des rasanten Tempos sehr klar, deutliche linke Hand und die polyphonen Ansätze beim 2. Couplet und später wie zu erwarten superklar herausgearbeitet. Das ist für mich weit mehr als einfach nur schnell runtergezockt (daher glaube ich eben auch nicht, dass Gould das Stück verhasst war).


    Ingesamt finde ich die Interpretation sehr hörenswert und auch wenn ich sie nicht zu seinen besten Beethoven-Interpretationen (wie zB die Variationen, die Konzerte 1+2, op.28, op.14, einiges aus opp. 2, 10 und 31) zählen würde, ist sie noch weniger mit einer absichtlichen Dekonstruktion wie bei op.57 zu vergleichen.


    (Bei Äußerungen wie Goulds muss man immer sehr vorsichtig sein. Warum hat er das ital. Konzert sogar zweimal aufgenommen, wenn er es nicht leiden konnte? Zum Zeitpunkt der zweiten Aufnahme der Goldberg-Variationen hat er sogar betont, dass die auch nicht sein Lieblingsstück von Bach seien und er sie in Teilen überschätzt fände oder so ähnlich. Mittleren Beethoven hat er angeblich nicht gemocht, dann aber zwei Musterbeispiele für das, was daran angeblich so schwach und oberflächlich sei, die 5. u. 6. Sinfonie als Transkription eingespielt usw.)

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Ich hatte damit gerechnet, lieber Felix, dass du Brendel ins Feld führen würdest. Aber da liegt die Sache, galube ich, etwas anders. Ich habe die B-dur-Sonate 2008, in seinem letzten aktiven Jahr, zweimal live von ihm gehört, in Köln und in Flensburg. Das kam mir gar nicht so schnell vor. Das kann möglicherweise folgende Ursache haben, was die Wiederholungen betrifft:

    Zitat

    Alfred Brendel, über Musik, S. 181: Exposition und Reprise sind fast identisch. Ich halte daher die Wiederholung der Exposition in mindestens der Hälfte aller Fälle nicht nur für überflüssig, sondern geradezu für schädlich. Einzig in der D-Dur-Sonate scheint mir die Wiederholung notwendig, in drei anderen Fällen (a-Moll op. 143, a-Moll op. 42, c-Moll finde ich sie immerhin möglich, weil Schubert hier das Material verhältnismäßig straff exponiert hat.


    Es wäre also demnächst vielleicht eine lohnenswerte Sache, gerade im Falle der B-dur-Sonate, natürlich mit Noten, zu untersuchen, inwieweit die kürzeren Kopfssatz-Interpretationen auf strafferem Tempo beruhen und in welchen Fällen sie vielleicht auf Weglassen der Wiederholungen zurückzuführen sind.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Es wäre also demnächst vielleicht eine lohnenswerte Sache, gerade im Falle der B-dur-Sonate, natürlich mit Noten, zu untersuchen, inwieweit die kürzeren Kopfssatz-Interpretationen auf strafferem Tempo beruhen und in welchen Fällen sie vielleicht auf Weglassen der Wiederholungen zurückzuführen sind.


    Da hast Du wahrscheinlich recht ;) . Aber, dass Brendel viel schneller spielt als Richter ist dennoch sehr ohrenfällig, oder?

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  • Bitte den Schubert im passenden Thread abhandeln, der hier ist schon lang genug!

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Ich habe gerade den ersten Satz von der « Pathétique » gehört mit folgenden Pianisten : Wilhelm Kempff, Pollini, Gilels, Arrau, Gould, Freddy Kempf.. Außer Kempff und Arrau, macht jeder was er will mit der Partitur. Das Mindeste bei Beethoven ist : allen Anweisungen zu folgen ! Die Besserwisser könnten andere Werke spielen und nicht so Beethoven massakrieren. Gould spielt es wie ein mechanisches Werk von Bach, ohne Dynamik. Freddy Kempf ist einfach lächerlich. Man braucht nur die 3 ersten Takte des Grave zu hören : das ist nicht Beethoven, das ist Kempf, das heißt triviale Musik. Im Allegro spielt er ganz mechanisch. Es gibt sogar falsche Noten. fp (fortepiano) mit einem Pedaleffekt, mein Gott, was für ein Genie ! Ganz steifes Spiel, keine Differenzierung ! Furchtbar !
    Kempff spielt das sehr gut, vielleicht zu geradlinig, etwas zu brav. Für mich ist Arrau wirklich der beste. Selbst wenn er einige Freiheiten (sehr selten) mit der Partitur nimmt, spürt man, daß er Beethoven verstanden hat. Die Noten, die er in den Akkorden betont, zeigen auch ein sehr gutes Verständnis von der Harmonie. Der Grave hat den Charakter eines Grave, man spürt überall eine große Sensibilität. Das nennt man Musik. Eine wunderbare Interpretation !


    Viele Grüße
    Jacques

  • Na, das ist ja mal ein Verriß für Kempf.


    "Keine Differenzierung" kann ich nun gar nicht nachvollziehen. Wenn es Dir nicht allzuviel Mühe macht, wäre ich zudem dankbar, wenn Du Deine Kritik an der Zeit des youtube-Videos festmachen könntest, Grave, Allegro etc. kann man ja nur erkennen, wenn man die Partitur hat (die ich ohnehin nicht lesen könnte). Was außerdem heißt "mechanisch"? Gleiche Zeitabstände zwischen zwei Anschlägen?

  • Von Krystian Zimermans Vortrag der "Pathetique" gibt es nur dieses Youtube-Video. Damit kann ich schlicht gar nichts anfangen. Pianistisch makellos aber ohne Sinn für die Syntax von Beethovens Musik. Bezeichnend dafür die Zerdehnung der Pausen in der Grave-Einleitung. Beethoven war noch nie und ist offenbar auch heute nicht Zimermans Welt.



    Schöne Grüße
    Holger

  • Zitat

    von m-mueller
    Na, das ist ja mal ein Verriß für Kempf.



    "Keine Differenzierung" kann ich nun gar nicht nachvollziehen. Wenn es Dir nicht allzuviel Mühe macht, wäre ich zudem dankbar, wenn Du Deine Kritik an der Zeit des youtube-Videos festmachen könntest, Grave, Allegro etc. kann man ja nur erkennen, wenn man die Partitur hat (die ich ohnehin nicht lesen könnte). Was außerdem heißt "mechanisch"? Gleiche Zeitabstände zwischen zwei Anschlägen?


    Es ist ganz einfach. Grave ist die Bezeichnung des langsamen anfänglichen Teils. Dann kommt ein schneller Teil, es ist das Allegro, das zweimal von der veränderten Wiederkehr des Anfangsteils unterbrochen wird. Deine Definition von « mechanisch » ist absolut korrekt. Wenn Du eine Maschine (heute ein Synthesizer) Musik spielen läßt, wird sie peinlich genau dieselben Abständen zwischen den Noten (mit gleichen Werten) reproduzieren. Deswegen gibt es in den heutigen Synthesizern eine spezielle Funktion, um diese Starre aufzuheben, sie heißt, bezeichnender Weise « human touch ». Die Interpreten spielen in der Regel nicht starr, es gibt Unterschiede, aber sie sind meistens unbewußt und ereignen sich im Millisekundenbereich. Es gibt aber bei den Komponisten zwei Extreme : manche Werke von Bach für Tasteninstrumente, die eine Art abstrakter Perfektion aufweisen, kann man ohne Schaden mechanisch spielen. Chopin hingegen verlangt manchmal vom Interpret eine sehr große Freiheit ( « rubato » in der Partitur) die weit über den Bereich von Millisekunden hinausgeht.


    Beethoven weiß genau was er will und schreibt es mit Akribie in die Partitur. Da er der größte Komponist der Musikgeschichte ist, muß man den zahlreichen und genauen Anweisungen seiner Partituren folgen, es sei denn, man ist mindestens so genial wie er (ist aber niemand) . Und um festzustellen , wie groß die Abweichungen des Interpreten sind, braucht man tatsächlich die Partitur.
    Um auf Kempf zurückzukommen, spielt er das Grave wie als wäre es Chopin und das Allegro wie als wäre es Bach. Manchmal gibt es bei Beethoven Stellen, die stark an Chopin erinnern, es gibt auch viele Stellen mit improvisatorischem Charakter. Es ist aber hier nicht der Fall, es ist keine Fantasie, sondern eine sehr ernste Stelle, die so präzise wie ein Totenmarsch ausgeführt werden muß.
    Der Anschlag von Kempf ist obendrein sehr starr (die linke Hand klingt oft wie eine Maschine). Das Tempo ist sehr hoch (was im Grunde im Sinne von Beethoven ist (Allegro di molto e con brio)), wie bei Gould , aber beide schaffen es nicht , den dynamischen Anweisungen zu folgen (p, pp, f, ff, crescendo, decrescendo). Das ist ein sehr großer Fehler. Die besten Interpreten verfügen über eine sehr große dynamische Palette ( wie z.B. bei dem Geiger Gidon Kremer).
    Arrau spielt das Allegro sehr flüssig, überhaupt nicht mechanisch oder abgehackt.


    Viele Grüße
    Jacques

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  • Ich habe heute noch einmal die Gould-Aufnahme angehört und kann die Aufregung nicht ganz nachvollziehen. Klarerweise ignoriert er die dynamischen Angaben - so etwas hielt er, von Beethoven völlig unabhängig, für oberflächlich und nichtig - aber ansonsten spielt er das Werk doch vollkommen ernsthaft! Sicherlich keine Referenz, aber interessant, da mit "Drive" gespielt.

  • Um es vorwegzunehmen, ich finde daß Gould ein faszinierender Pianist ist. Ich hatte einige Seiten vom Thread gelesen und wollte mir auf die Schnelle ein Bild machen von einigen hier vorgestellten Pianisten, habe alles in youtube gehört, mit Partitur. Es kann sein, daß ich etwas zu hart (mit « massakrieren ») für einige Pianisten (Pollini, Gilels) war wegen Freddy Kempf, der mich tatsächlich ziemlich aufgeregt hat. Ich habe gerade noch Gould gehört. Das hat natürlich nichts mit Kempf zu tun. Selbst wenn es kein « echtes » Beethoven ist, man hört einen echten Musiker, der in anderen Werken absolut genial und einzigartig ist.


    Viele Grüße
    Jacques

  • Zitat

    Jacques: Um es vorwegzunehmen, ich finde, dass Gould ein faszineirender Pianist ist.

    Richtig, lieber Jacques, das finde ich auch. Ich habe auch andern Ortes geschrieben, wie gut mir seine Aufnahmen von Beethovens Klavierkonzerten gefallen haben. Aber ich habe auch gesagt, dass ich nicht verstehe, wieso er eine Sonate, die er nicht mag, trotzdem aufnimmt und sie in absichtlicher bestimmter Weise "fehlinterpretiert", nur um bestimmte "Schwächen" Beethovens dadurch offenzulegen. Wenn ich an seiner Stelle gewesen wäre, hätte ich die Stücke gar nicht aufgeführt.


    Bonne année


    Willi

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Aber ich habe auch gesagt, dass ich nicht verstehe, wieso er eine Sonate, die er nicht mag, trotzdem aufnimmt und sie in absichtlicher bestimmter Weise "fehlinterpretiert", nur um bestimmte "Schwächen" Beethovens dadurch offenzulegen. Wenn ich an seiner Stelle gewesen wäre, hätte ich die Stücke gar nicht aufgeführt.


    Das verstehe ich schon lieber Willi - ich würde da auch zustimmen - aber die Interpretation der Pathetique zähle ich nicht zu den "Verunglimpfungen". Ich habe da nichts absurdes (wie bei der Appassionata) herausgehört.

  • Da gebe ich dir Recht, lieber Felix, aber man muss doch sagen, dass ihm der "nötige" Ernst ein wenig abging.


    Liebe Neujahrsgrüße


    Willi ^^

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

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  • Zitat von »William B.A

    Zitat

    nur um bestimmte "Schwächen" Beethovens dadurch offenzulegen


    Lieber Willi,
    Ich kenne leider nicht die Konzeptionen von Glenn Gould. Ich kann, persönlich, keine Schwäche in dieser Sonate finden. Wenn es nicht Glenn Gould wäre, würde ich wie Jan Reichow antworten :
    « Gern würde ich jedem etwas sagen, der mir erzählt, dass er diesen Satz oder jenen Satz eines Werkes von Beethoven “nicht mag”. Ich würde vielleicht sagen: das ist nicht korrekt ausgedrückt, vielmehr ist es wohl der Satz, der dich nicht mag. Nicht du beurteilst Beethoven, sondern dieser beurteilt dich. Und zwar vernichtend..... »
    (http://www.janreichow.de/wordpress/?p=17573)
    Bei einer Ausnahmeerscheinung wie Glenn Gould ist es natürlich ganz anders. Man wird rätseln, nachdenklich werden. Ich finde, dieser Pianist hat verdient, daß man überlegt, warum er solche Urteile fällt.
    Im Grunde finde ich seine Pathétique ordentlich, ich sehe keine offensichtliche Verunglimpfung.
    Ich habe gerade seine Appassionata gehört und da bin ich richtig nachdenklich geworden. Im youtube Titel steht das Wort « scandal » : ja, am Anfang ist man schockiert, aber wenn man den ganzen Satz hört, hat man nicht den Eindruck, finde ich, daß es sich um eine Art Provokation handelt.
    Dahinter scheinen Intentionen zu sein, z.B. bei den Trillern die er zuerst grotesk langsam spielt, dann an gewisse Stellen ganz normal. Wenn man den ersten Schock überwunden hat, hört man eine sehr schöne Musik (Eigentor!!!), wunderbar gespielt, mit einem wunderbaren Klang. Vielleicht sollte man es nicht als eine Interpretation deuten, sondern eher als eine Wiederschöpfung oder eine Art Variation über die Appassionata oder vielleicht als eine Art Auseinandersetzung mit Beethoven? (Nie war ich so wohlwollend :) )
    Meilleurs vœux pour 2014 :hello:
    Jacques
    P.S. : Und jetzt werde ich die wahre Appassionata hören (Yves Nat).




  • Ich habe gerade seine Appassionata gehört und da bin ich richtig nachdenklich geworden. Im youtube Titel steht das Wort « scandal » : ja, am Anfang ist man schockiert, aber wenn man den ganzen Satz hört, hat man nicht den Eindruck, finde ich, daß es sich um eine Art Provokation handelt.
    Dahinter scheinen Intentionen zu sein, z.B. bei den Trillern die er zuerst grotesk langsam spielt, dann an gewisse Stellen ganz normal. Wenn man den ersten Schock überwunden hat, hört man eine sehr schöne Musik (Eigentor!!!), wunderbar gespielt, mit einem wunderbaren Klang.


    Muß ich Dir mal zustimmen.

  • Angeregt durch die intensive Diskussion habe ich mir nun auch nochmals Glenn Gould vorgenommen. :)



    Glenn Gould über die Pathétique: Sie ist für ihn unter den frühen Klavierwerken Beethovens „vielleicht am deutlichsten symphonisch angelegt.“ Sie beginne mit einer „imposanten Grave-Einleitung“, wie Beethoven sie in seiner 1., 2. 4. und 7. Symphonie verwende. Obwohl „sie in einer etwas flüchtigen Beziehung zu den thematischen Hauptproblemen des folgenden Allegro steht, ist die Grave-Vorstellung durch die üppige Textur ihrer wohlklingend ausbalancierten Dreiklänge Dreiklänge und dem etwas theatralischen Charakter ihres unheilverkündenden doppelt punktierten Rhythmus unauflöslich an dieses Allegro gebunden. Im Allegroteil des Satzes gewinnt Beethoven sowohl dynamischen als auch rhythmischen Antrieb aus dem beharrlichen paukenwirbelartigen Tremolo, womit die linke Hand streng jenes schlecht beratene Liebäugeln mit dem Rubato beaufsichtigt, das die beständige Versuchung der rechten ist.“


    „Wohlklingend ausbalanciert“ – Goulds eigene Worte umschreiben sehr gut seinen volltönenden, wunderbar organischen und mit beseeltem Ton gespielten Vortrag der Grave-Einleitung – das hat darin schon fast Rubinstein-Qualitäten. Dabei ist die Syntax des Frage-Antwort-Spiels glasklar herausgearbeitet und auch die rhythmischen Strukturen. Das Allegro beginnt für meinen Geschmack in einem etwas zu forschen Tempo. Doch die Souveränität und Leichtigkeit, die Klangperspektivität in der Durchführung lassen Goulds Geschwindigkeit nie aufdringlich erscheinen. Der „rhythmische Antrieb“ ist das Prinzip – Motorik als dominierende Kraft des Ganzen. Gould setzt sein Konzept hier sehr konsequent um. Am radikalsten geschieht dies im langsamen Satz. Wenn er schreibt, dass die linke Hand den „Zensor“ spielt für die Ambitionen der rechten, sich mit subjektivistischem Rubato hervorzutun, dann führt dies hier zu einer Umwertung der Werte: Die „Begleitung“ wird zur Hauptsache, einer durchlaufenden rhythmischen Bewegung, welche die Melodik trägt und nicht umgekehrt diese figurativ umspielt. (Im ersten Satz der Mondscheinsonate setzt er dies ebenso konsequent um.) Der Gewinn ist, dass man nur bei ihm die durchlaufende Bewegung auch im Mittelteil spürt. Eine sehr „barocke“ Sicht auf eine klassische Sonate freilich, aber erhellend finde ich und niemals gewaltsam wirkend. Gould hat auch hier einen beseelten Ton – die Melodik ist da, aber gewissermaßen unauffällig schön. Das Finale beginnt burschikos, mit fast schon positivistisch trockenem Ton. Das ist sehr irdisch und völlig unmetaphysisch – pianistisch fabelhaft, muss man sagen! Aber auch
    hier wirkt er für meinen Geschmack nie etüdenhaft. Er kann den burschikosen Gestus fein zurücknehmen. Die Fuge ist grandios gespielt, so als ereigne sich hier die Auferstehung von Bach. Für mich ist diese Aufnahme zwar nicht die aller erste Wahl, aber einfach eine Bereicherung, die ich nicht missen möchte. Eine wirklich konsequent umgesetzte musikalische Sicht, die zeigen kann, wie nah und zugleich fern Beethoven barockem Musikdenken steht. Noch etwas zur Einebnung der Dynamik: Gould mochte bezeichnend Bachs „Chromatische Fantasie“ überhaupt nicht – also denjenigen Barock, der sehr affektgeladen ist. Dynamische Kontraste stehen für den Affekt, den affektiven Gegensatz, den Beethoven bis zum Extrem auskostet. Da Gould diese Affektivität als äußerlich verabscheut, reduziert er sie auf ein für ihn erträgliches und notwendiges Maß, auf das, was der Verdeutlichung der musikalischen Substanz, dem thematischen Kontrast, dient.


    Goulds Appassionata finde ich eindeutig eine nicht gelungene „Dekonstruktion“. Das ist eine schwer durchschaubare Mischung aus Parodie, fast schon Boshaftigkeit, und Ernst.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Jetzt bin ich auch wieder angeregt. Ich hatte mir sehr schnell einen Überblick von der Pathetique gemacht, um mir ein Bild der verschiedenen Pianisten zu machen. Jetzt habe ich die Sonate selbst unter die Lupe genommen, sowie die Interpretation von Glenn Gould.


    1. Satz
    Atemberaubend! Die Tempi sind schneller als bei Arrau, das Verhältnis des Grave zum Allegro identisch (Arrau : 94 (Grave, Sechzehntel) : 158 (Allegro, Achtel) = 0,59; Gould : 110 : 184 = 0,59). Da Gould mit einem nicht zu langsamen Grave beginnt, mußte er das Allegro sehr schnell spielen, um den Kontrast zu bewahren. Denn er ist wichtig in diesem Werk. Beethoven setzt immer auf einem großen Kontrast in den ersten Sätzen seiner Sonaten (1. Thema der Sonatenform männlich, 2. Thema weiblich). Hier geschieht der Kontrast auf einer anderen Ebene. Egon Voss schreibt über die langsamen Takte des Grave: « Wie es scheint, hat es Beethoven geradezu darauf angelegt, ihre Rolle als Fremdkörper im Sonatenablauf, als Widerpart des Allegros, nicht durch motivische Beziehungen zu unterlaufen. Gemeinsamkeiten sind jedenfalls äußerst rar (...) Grave und Allegro bilden den zentralen Kontrast des Satzes, einen Kontrast, über dem all jene Gegensätze, die gewöhnlich zwischen den Teilen der Sonatenform bestehen, gänzlich in den Hintergrund treten. » (*)
    Das Tempo scheint mir obendrein das Richtige zu sein, es muß ein Allegro di molto e con brio sein !
    Beethovens dynamische Anweisungen werden nur am Ende von Glenn Gould respektiert (letzte kurze Wiederkehr des Anfangs des Allegros); schade für die nebligen pp Stellen (T. 167-170 und 175-178).
    Was die Technik betrifft, so gibt es nur eine Stelle die nicht ganz sauber ist, das zweite Thema. Merkwürdigerweise machen diese Stelle allen Pianisten zu schaffen, selbst bei langsameren Tempo. Entweder sind die Verzierungen der rechten Hand verschwommen oder die staccato-Bässen nicht gestochen genug.


    2. Satz
    Das Tempo ist im Grunde wieder das Richtige. Wir sind zu gewöhnt diesen Satz zu hören wie ihn Arrau spielt (sehr langsam, fast wie das Grave, als eine wehmütige, romantische Melodie mit Begleitung). Bei Gould keine Romantik, keine begleitete Melodie. Seine Technik (die Noten sehen wie glasklare Perlen aus) ermöglicht ihm, das Ganze kammermusikalisch zu spielen, wie ein Streichensemble mit gleichberechtigten Stimmen (mit einer Präferenz für die Mittelstimmen (etwas störend in den Takten 59-61 )).


    3. Satz
    Hervorragend! Glenns Auffassung ist streng. Es beginnt wie ein Bach- Stück, geradlinig , mechanisch, trocken. Diese Vision gilt merkwürdigerweise nur für den Anfang. Ab Takt 62 (Widerkehr des Refrains) wird diese Strenge aufgehoben. Und jetzt weiss ich warum (ich war verblüfft ) : er spielt den Anfang ohne Pedal!!!


    Fazit : Nach wie vor bin ich von Glenn Gould begeistert. Es wäre noch viel zu schreiben über seine phenomenale Technik, seine musikalische Intelligenz, seine Leichtigkeit, seine große Einfühlsamkeit und seinen wunderbaren Klang. Seine Tempi sind überzeugend, scheinen durchdacht zu sein. Dafür ignoriert er schamlos Beethovens dynamische Anweisungen und bringt eine Mozartische Eleganz zu Tage, die die Fortissimo-Stellen fast immer meidet. Das wäre untragbar in der Appassionata, aber in dieser eher sorglosen Sonate (schnelle Sätze) ohne Gefühlsausbrüche kann man ein Auge zudrücken.


    Neben dieser Interpretation der Pathétique scheint tatsächlich die Appassionata eine « Dekonstruktion » zu sein, besonders der Anfang!



    Pluspunkt für Boccherini


    Egon Voss versucht zu verstehen, was genau Beethoven mit « pathétique » sagen wollte : « ...Daß es Theater- und Vokalstücke und nicht Sonaten oder Symphonien sind, in denen das Wort « pathetisch » erscheint, stimmt zusammen mit der Einschätzung und Bewertung in Sulzers Allgemeine Theorie der schönen Künste, wo es im Artikel Pathos;Pathetisch heißt : « In der Musik herrscht es vorzüglich in Kirchensachen und in der tragischen Oper. ».....Behält man dies in Erinnerung und vergegenwärtigt sich andererseits die untergeordnete Rolle der Instrumentalmusik im ästhetischen Bewußtsein der Zeit ausgangs des 18. Jahrhunderts, dann ließe sich denken, daß Beethoven mit der Bezeichnung seiner Sonate als « pathétique » eine Aufwertung der Instrumentalmusik, speziell der Gattung der Sonate im Sinn hatte; daß er den Anspruch erhob auf Gleichstellung der Sonate mit Tragödie und Ode. Die Beifügung « pathétique » im Titel ließe sich dann verstehen als Anweisung an den Spieler, das Werk vorzutragen, als sei es eine Ode von Klopstock.(**)
    Interessant in diesem Kontext ist zu bemerken, daß Boccherini 1795, also 3-4 Jahre vor der Pathétique, ein Streichquartett komponiert hat (op. 52 N°2 G.233), dessen zweiter Satz ein Andantino patetico ist.




    Seine Konstruktion ist aufschlußreich, im Vergleich mit der Pathétique :


    a PAUSE b PAUSE c PAUSE d PAUSE a PAUSE b PAUSE c PAUSE E sehr kurze Pause F g PAUSE a PAUSE b PAUSE c .


    a, b, c : sehr kurze Abschnitte, a ist der wehmütigste (d-moll, charakteristische Akkorde und Dissonanz)
    d : längerer Abschnitt, neutrale Stimmung
    E : Freudige Stelle in B-Dur (grosser Kontrast)
    F : Sorglose Stelle (Cello begleitet mit pizzicati)
    g : Dieser Abschnitt dient als Übergang zur traurigen Stimmung



    Die bedeutungsvollen Pausen spielen in diesem Satz eine große Rolle, genauso wie im Grave der Pathétique. Ob man sie als ein Merkmal des Pathos in den Instrumentalsätzen betrachten kann, sei dahingestellt.


    (*) BEETHOVEN Interpretationen seiner Werke, herausgegeben von Albrecht Riethmüller, Carl Dahlhaus und Alexander L. Ringer, Band I, Laaber-Verlag 1994, S. 89ff.
    (*) ibid


    Viele Grüße
    Jacques

  • Das Tempo scheint mir obendrein das Richtige zu sein, es muß ein Allegro di molto e con brio sein !

    Lieber Jacques, herzlichen Dank für Deine wirklich sehr lesenswerten Ausführungen! :hello: Goulds Tempo ist hier allerdings eindeutig zu schnell - er spielt Presto und nicht Allegro. Dadurch werden zwangsläufig die klassischen Themenkontraste eingeebnet. Aber darauf kommt es ihm nicht an - sondern den durchlaufenden Bewegungsimpuls, die Motorik. Das hat etwas von einer "Dekonstruktion", einer Barockisierung von Beethoven.


    Das Tempo ist im Grunde wieder das Richtige. Wir sind zu gewöhnt diesen Satz zu hören wie ihn Arrau spielt (sehr langsam, fast wie das Grave, als eine wehmütige, romantische Melodie mit Begleitung). Bei Gould keine Romantik, keine begleitete Melodie. Seine Technik (die Noten sehen wie glasklare Perlen aus) ermöglicht ihm, das Ganze kammermusikalisch zu spielen, wie ein Streichensemble mit gleichberechtigten Stimmen (mit einer Präferenz für die Mittelstimmen (etwas störend in den Takten 59-61 )).

    Der Unterschied zu Arrau ist, daß Arrau ein Gleichgewicht herstellt zwischen Melodie und Begleitung als kontrapunktischem Part. Gould dagegen barockisiert auch hier, er verschiebt das Gewicht zugunsten der Bewegungsfigur der Begleitung. Das ist wiederum eine Dekonstruktion. Die typisch klassische abggegrenzte Phrase verschwindet auf diese Weise in einer durchlaufenden Motivbewegung, die Zäsuren werden unscheinbar.


    Nach wie vor bin ich von Glenn Gould begeistert. Es wäre noch viel zu schreiben über seine phenomenale Technik, seine musikalische Intelligenz, seine Leichtigkeit, seine große Einfühlsamkeit und seinen wunderbaren Klang. Seine Tempi sind überzeugend, scheinen durchdacht zu sein. Dafür ignoriert er schamlos Beethovens dynamische Anweisungen und bringt eine Mozartische Eleganz zu Tage, die die Fortissimo-Stellen fast immer meidet. Das wäre untragbar in der Appassionata, aber in dieser eher sorglosen Sonate (schnelle Sätze) ohne Gefühlsausbrüche kann man ein Auge zudrücken.

    Auch das Finale ist eigentlich zu schnell im Tempo und der virtuose Gestus überwiegt. Es stimmt natürlich, was Du schreibst. Das Erstaunliche ist, daß ihm das alles gelingt. Nur entspricht das nicht ganz dem Geist eines Kehraus-Finales, gerade hier bei der Pathetique, das "Grave" ins Heitere zu wenden. Dazu fehlt dieser Forcierung dann doch die Gelassenheit. :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

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