Naheliegendere Vergleichspunkte als Renaissancepolyphonie wären, um bei Streichern zu bleiben, eine barocke Triosonate für 2 Vl und b.c. oder ein Konzert für Solo-Violine und Streicher wie von Vivaldi. (Tapio nannte ja Tschaikowskys Violin-Konzert.) Ich lehne mich mal aus dem Fenster und behaupte, dass verglichen mit einem typischen Vivaldi-Konzert schon ziemlich frühe Quartette von Haydn, Boccherini oder Richter gleichberechtigter beteiligte Mittelstimmen haben.
Ich habe mich nur an dem Wort Gleichberechtigung aufgehängt und nach gleichberechtigten Stimmen gesucht. Die gibt es in barocken Fugen und vorher in noch größerer Menge in der Vokalmusik. Bezüglich barocker Kammermusik würde ich davon ausgehen, dass in Triosonaten die beiden Violinstimmen deutlich gleichberechtigter sind (und zwar beginnend mit den ersten Triosonaten bei Cima, die ja noch sehr nach Renaissancepolyphonie klingen bis zum Spätbarock) als im Streichquartett. Auch die Violinduette der Frühklassik haben oft gleichberechtigte Violinen - das Streichquartett nicht. Als Beispiel ein Klarinettenduo:
CPE Bach: Duett für Klarinetten
Beim Adagio würde ich von Gleichberechtigung sprechen. Das folgende Allegro hat das nicht mehr zu bieten, klingt aber dafür deutlich klassischer als das sehr galant/empfindsam-verschnörkelte Adagio.
Es ist ja doch irgendwie witzig, dass jener durchbrochene Satz mit den gesanglichen Melodien, der ein vernünftiges Gespräch gebildeter Männer sein soll, das (vorläufige) Ende der Gleichberechtigung zwischen den Stimmen darstellt (abgesehen von mitunter auftretenden Bach-Hommagen, äh Fugen). Ich überlege gerade, ob wir OT sind, aber eigentlich passt das schon, "was verbindet ihr mit dem Begriff Streichquartett?" Die Gattung etabliert sich ja gerade an diesem Punkt, wo an die Stelle gleichberechtigter polyphon organisierter Stimmen in der Triosonate oder dem Violinduett der oberstimmenbetonte durchbrochene Satz tritt, der unser Hören so geprägt hat, dass wir im Mittelalter z.B. auf die falsche Stimme achten und den Tenor verschlafen, auf den sich eigentlich alles bezieht. Offenbar sind wir das so gewohnt, dass wir gar nicht mehr das Ungleichgewicht zwischen den Stimmen des Streichquartetts wahrnehmen? Insofern gratuliere ich Tapio für den Vergleich. Soweit ich mich erinnern kann, hat er ja auch nie behauptet, dass im Streichquartett die erste Violine ebenso dominant wäre wie bei Tschaikowskis Violinkonzert, es stört ihn nur in beiden Fällen die (virtuose) Dominanz der Solovioline. (Dass ihn dann auch bei Orchestermusik die Dominanz der ersten Violinen stören könnte, ist wieder ein anderer Kaffee.)