Ist Bachs Musik spröde?

  • Was ich als Anfänger an Bach spröde fand, war nicht die Polyphonie, sondern die (für mich) Uneinprägsamkeit vieler Themen/Melodien,


    Und ich bin mir sicher, dass Du nun als "Nicht-Mehr-Anfänger" sorgfältig unterscheidest zwischen den Tonfolgen eines Themas (die auch eine Melodie sein kann) und denen einer Melodie (die nicht gesungen werden muss - was gibt es für herrliche Melodien fürs ganze Orchester, für Soloinstrumente oder konzertante Soloinstrumente).

    Bekanntlich hat Bach ja auch etliche höchst populäre Melodien hinterlassen;


    Was sogar für seine h-Moll-Messe gilt, die oft als ..., zumindest aber als nicht melodiös bezeichnet wird.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Lieber Johannes,


    Dir gefällt die Hammerklaviersonate von Beethoven, ich vermute mal, Du empfindest sie als melodisch; ich höre mehr Zerissenheit als Melodie.


    Du empfindest die schnellen Noten bei Bach als eher uniform, ich finde sie spannend.


    Was hältst Du von der Erklärung, daß wir vermutlich einen doch recht unterschiedlichen Geschmack haben, obwohl wir beide Händel mögen?

  • Gibt es weniger "spröde" Musik als "Schlummert ein, ihr matten Augen" (3. Satz aus BWV 82), "Schlafe, mein Liebster, genieße die Ruh" (aus dem WO) oder "Jesus bleibet meine Freude" (BWV 147)?




    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Nicht zu vergessen: "Mache dich, mein Herze, rein" aus der "Matthäus-Passion":



    Auch ein mitunter etwas "spröder" Wagner-Sänger wie Matti Salminen klingt da alles andere als "spröde"! :)

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Lieber Johannes,


    Dir gefällt die Hammerklaviersonate von Beethoven, ich vermute mal, Du empfindest sie als melodisch; ich höre mehr Zerissenheit als Melodie.


    Nein, ich empfinde die ebenfalls nicht als ausgesprochen melodisch (verglichen mit zB Beethovens op.101 oder 110), sondern stellenweise durchaus als "dornig", was aber der Faszination keinen Abbruch tut bzw. besteht sie vermutlich gerade darin.


    Zitat


    Du empfindest die schnellen Noten bei Bach als eher uniform, ich finde sie spannend.


    Ich versuche, 15 bis 20 Jahre später zu beschreiben, warum mir damals Bachs Klaviermusik (anders als die Brandenburgischen, h-moll-Messe etc.) wenig sagte. Das ist relativ schwierig, weil die damaligen Eindrücke ja sehr stark von den späteren überlagert sind. Denn heute habe ich nicht mehr diesen Eindruck gleichförmiger Langeweile, obwohl ich die meisten dieser Stücke immer noch nicht als "spannend" bezeichnen würde (und gleichmäßige schnelle oder mittelschnelle Noten sind ja objektiv bei etlichen Präludien, Allemanden usw. keine falsche Beschreibung der Musik). Und auch wenn ich heute keine Probleme mehr habe, dort Motive oder Melodien zu erkennen, so würde ich nach wie vor Bachs Klaviermusik nicht gerade als ein Füllhorn sanglicher und einprägsamer Melodien bezeichnen. Wenn man unter sanglicher Melodie beispielhaft so etwas wie das Thema des ersten Satzes von Mozarts A-Dur-Sonate oder meinetwegen auch "Mache dich, mein Herze, rein" versteht.
    Da ich aber auch sonst viel Musik (Haydn, Beethoven, Brahms u.a.) schätze, die nicht in erster Linie von sanglichen Melodien lebt (gleichwohl sie viele einzelne davon enthält) ist das für mich nicht unbedingt ein Manko bei Bach.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

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  • Was bedeutet denn eigentlich das Wort "spröde" ?
    Ein altes Brot vielleicht, unelastisch geworden, und ob schon Schimmelsporen enthalten sind, weiss man auch nicht so genau?


    Wenn das auf irgendeine Musik nicht zutrifft, dann auf Bachs Musik. Bach ist Vollmusiker in jeder Hinsicht, auch ein Extremist, sowohl in seinem Ausdruckswillen als auch in der Fähigkeit, diesen Ausdruck in eine klaren und logischen Formsprache konzentriert dem aufmerksamen Zuhörer zu vermitteln.
    Ich habe mich einmal ein Jahr lang intensiv mit der Kunst der Fuge beschäftigt. Motivation hierfür war für mich damals, dass in dieser Musik die expressive und die architektonische-mathematische Seite enorm stark verhanden ist.
    Als Menschen wollen wir fühlen und verstehen. Diesem Bedürfnis kommt Bach nach - er gibt sowohl den Gefühlen als auch dem Verstand Nahrung und bringt beide Seiten in eine perfekte Balance.
    Spröde kann ich das gerade nicht nennen....


    Noch zu meiner Bemerkung mit den eingängigen Melodien:


    Wenn ich sage, dass man dem Bachkenner z.B. BWV 100 sagen kann, und er dann schon das einprägsame und eigenständig nebem der Choralmelodie stehende Achtelmotiv der instrumentalen Choralbearbeitung hört, dann meine ich eben diese Themen und nicht die Choräle.
    Man denke nur an BWV 147: Da ist eben nicht nur der zurecht berühmte Choral "Wohl mir das ich Jesum habe" mit den Triolen im Orchester gemeint, sondern eben auch der schmissige Anfang des Eingangschores.
    Oder solche expressiven Melodien wie "Ich will bei meinem Jesu wachen" aus der MP oder "Et exultavit" aus dem Magnificat. Hier könnte man bald so lange Listen schreiben wie es Geschlechtsregister in der Bibel gibt.


    Für mich wirken die Melodien aus dem WO so eingängig wie Popsongs, allerdings ohne deren Flachheit.


    Da ist überall Leben und Bewegung, so ähnlich wie die norwegischen Gebirgs"bäche" (!) im Frühjahr überall rauschen, fliessen, strömen, gluckern.....mit sprühenden Wassertropfen und tanzenden Wellen.


    Man muss es natürlich auch dementsprechend spielen, damit diese körperliche, dynamische Dimension erfahrbar wird. Hier wird einem Interpreten alles abverlangt...
    Spielt man den Bach unartikuliert, ohne Verständnis der körperbetonten Gesten und der Klangrede, dann kann es auch trocken und steif werden, gerade auch bei den Orgelwerken, aber nicht nur. Das ist dann aber nicht Bachs Schuld.


    Gruss
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Und auch wenn ich heute keine Probleme mehr habe, dort Motive oder Melodien zu erkennen, so würde ich nach wie vor Bachs Klaviermusik nicht gerade als ein Füllhorn sanglicher und einprägsamer Melodien bezeichnen.


    Für mich ist die Bachsche Klaviermusik schon so ein Füllhorn - vielleicht nicht unbedingt "sanglicher" aber sicherlich "markanter" Motive (wobei für mich die Aria aus den Goldberg Variationen die schönste Melodie aller Zeiten ist). Ich denke, dass das viele so sehen, denn es ist schon auffällig, wie oft gerade Bachs Klavierwerke in Filmen oder Computerspielen auftauchen. Das Melodische per se spielt hier keine Rolle, sondern eher das rhythmische Moment. Im Eingangsvortrag erwähnt Alfred Toccata und Fuge in d-Moll als Paradebeispiel für "nicht spröden" Bach. Diese Themen dieses Werkpaars haben gar nichts sangliches an sich, sie sind rein figurativ - aber rhythmisch sehr markant. Aufgrund seiner ausgeprägten Rhythmik ist Bach auch für Nichtklassikhörer interessant.

  • ...Goldbergvariationen:


    im neuesten FonoForum steht ein lesenswerter Artikel über wichtige Aufnahmen der Goldbergvariationen sowie die -immer wieder aktuelle- Frage: Klavier oder Cembalo.


    Viele Grüße


    J.Schneider

    "Die Musik steht hinter den Noten" (Gustav Mahler)