• Ich meine dispensiert, glaube das hab ich sogar gesagt!


    Das meine ich doch auch. "Lossprechen meine ich". Die Reden der Politiker werden ob ihrer Vielschichtigkeit von der Anklage des Kitsches freigesprochen.


  • Vielleicht fallen wir aber auch auf die Propaganda der Etablierten herein.


    Oder den Futterneid? Kitsch ist eben effektiver und die Toleranzbotschaft in Nathan der Weise erreicht ein breiteres Publikum mit Lex Barker als Old Shatterhand.


    Ja, die Propaganda der Etablierten. Darüber setzt sich der Künstler asketenhaft hinweg :angel: . Man lässt sich ungern von Fliegen lenken, die um den Kopf kreisen. Aber die Ehre gebietet es ,dem Etablierten dort Recht zu geben, wo er Recht hat.

  • Lieber Aaron.Gal,


    ich habe versucht, mir ein wenig Klarheit über deine Ausführungen zu verschaffen, gerade aber an einigen Stellen in Sackgassen.

    Lässt sich ein Werk auf unterschiedlichen Bedeutungsebenen interpretieren, handelt es sich nicht um Kitsch. [...] Diese Relativität in Bezug auf denejnigen der wertet, verschwindet , wenn verständige Interessierte bewerten.


    Ist die Möglichkeit zur Interpretation auf verschiedenen Bedeutungseben nicht weniger eine Eigenschaft des Werkes als des Betrachters? Wenn ich bei der Betrachtung eines Bildes von Thomas Kinkade zu dem Urteil komme, es handele sich um Kitsch, denn es lasse eine Interpretation nur auf einer oder wenigen Bedeutungsebenen zu, ja, was kann ich denn dann erwidern, wenn man mir antwortet, mein Urteil erwachse aus dem Umstand, dass ich nicht zum Kreise der verständigen Interessierten gehöre?


    Der Kitschier glaubt sein Werk habe eine Tiefe/Dimension, die es in Wahrheit nicht hat. Unfreiwillig, denn er wünscht und glaubt ja, dass sie es hat!

    "In Wahrheit"? Ist Tiefe/Dimension messbar? Was, wenn man Tiefe und Dimension empfindet, und erfährt hinterher, dass das Werk als "Kitsch" gilt. Verschwindet die empfundene Wirkung oder wird sie falsch?

    "Geduld und Gelassenheit des Gemüts tragen mehr zur Heilung unserer Krankheiten bei, als alle Kunst der Medizin." (W.A. Mozart)

  • Ich denke, man kann alles auf unterschiedliche Weise interpretieren.
    Und dass jemand etwas anderes glaubt, als in Wahrheit der Fall ist, taugt schon gar nicht zur Definition.

  • Wo hier aktuell allen Ernstes, also unironisch in Beiträgen der Begriff „russische Seele“ verwendet wird, sei einmal der „Kitsch“-Thread aus der Vergangenheit ans Licht geholt und an den russischen Begriff „poschlost“ erinnert, der von Vladimir Nabokov geprägt wurde:


    "Die russische Sprache vermag mit Hilfe eines einzigen mitleidlosen Wortes die Quintessenz eines weitverbreiteten Defekts zu bezeichnen, für den die anderen drei europäischen Sprachen, deren ich mächtig bin, über keinen speziellen Begriff verfügen."


    Der Begriff steht dabei für das Klischeehafte, Bedeutungsvoll-Aufgedonnerte allgemeiner, vorgefertigter und reproduzierter Ideen. Die Vorstellung sowjetischer Feierlichkeiten zum Beispiel waren für ihm im höchsten Maße Poschlost, man höre im Zitat "Getöse von Albernheiten, den Kesselpauken der Langeweile und sklavischer Prachtentfaltung das kleine Piepsen einer billigen Wahrheit"


    Dabei grenzt er Poschlost vom lediglich Trivialen ab:


    Literatur ist einer der besten Brutplätze von poschlost, und unter poschlost verstehe ich nicht, was auch „Schund“ oder „Groschenroman“ genannt wird oder früher in Russland „gelbe Literatur“ hieß. Offensichtlicher Plunder enthält seltsamer Weise manchmal ein gewisses gesundes Etwas, das Kinder und simple Gemüter ohne weiteres zu schätzen wissen. Superman ist zweifellos poschlost, aber er ist poschlost in solch harmloser, unaufdringlicher Form, dass sie nicht der Rede wert ist, und die Märchen von einst enthielten genau besehen ebensoviel triviales Gefühl und naive Vulgarität wie die Storys von modernen Riesenkillern. Poschlost, daran sei erinnert, ist besonders wirksam und bösartig, wenn das Falsche nicht in die Augen springt und wenn die von ihr nachgeäfften Werte zu Recht oder zu Unrecht dem höchsten Rang der Kunst, des Denkens oder Fühlens zugerechnet werden. Es sind Bücher dieser Kategorie, die im Feuilleton der Tageszeitungen so „poschlostig“ rezensiert werden – die Bestseller, die „aufwühlenden, tiefgründigen und schönen“ Romane; in den Behältnissen dieser „erhabenen und gewaltigen“ Bücher schlägt sich die eigentliche Essenz der poschlost nieder.“


    Man könnte Kitsch in diesem Sinne also als selbstzufriedene Vulgarität und aufgedonnerte Trivialität auf den Punkt bringen.


    Herzliche Grüße

    Christian

    "...man darf also gespannt sein, ob eines Tages das Selbstmordattentat eines fanatischen Bruckner-Hörers seinem Wirken ein Ende setzen wird."



  • Ich habe es weiter oben schon zu definieren versucht.

    Kitsch - und auch Poshlost vermutlich sind Bewertungen, die aus einem gewissen Lebensgefühl heraus entstanden sind.


    Man denke hier an die Heiligenbilder des 19. Jahrhunderts oder an zahlreiche Gedichte aus jener Zeit. Russland hat seine Helden mit übertrioeben geschmückten Orden geschmückt, die man - so man es drauf anlegt - auch als kitschig bezeichnen könnte....


    Man bedenke an die Kaiser der Vergangenheit in ihrem Krönungsornat, an die Päpste.


    Aber es hat die Leute beeindruckt - sie waren ergriffen oder gerührt, begeistert oder voll Inbrunst.

    Heute - in unserer sachlichen herzlosen Zeit lächeln oder lachen viele über solchen Schmuck.

    Und man findet nichts ergreifend schönes oder Erhabes, nicht das zu Bewundern wert wäre.

    Sogar die Musik ist hässlich - und wenn sie es nicht ist, dann mancht man sie hässlich.

    Schon das Wort "behübschen " ist heute negativ besetzt.

    Unser österreichischer Vizekanzler fand es nicht mal notwendig bei seiner Angelobung eine Krawatte zu tragen....:thumbdown:


    mfg aus Wien

    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ich habe es weiter oben schon zu definieren versucht.

    Kitsch - und auch Poshlost vermutlich sind Bewertungen, die aus einem gewissen Lebensgefühl heraus entstanden sind.

    Lieber Alfred,


    der Kitsch ist wahrlich ein hochinteressantes Phänomen. (Die Ausführungen von Nabokov finde ich sehr bedenkenswert!) Woher kommt bei uns das Kitschbedürfnis? Ich hatte das vor drei Jahren (2018) am Beispiel von "Allerseelen" analysiert - und es gab eine rege Diskussion dazu in meinem Kolumnenthread:


    (K)Ein Platz für Kitsch? – „Allerseelen“-Sentimentalität


    Hier beginnt die Diskussion:


    Kolloquium zu meinem Kolumnen-Thread "Doctor Gradus ad Parnassum"


    Einen schönen Sonntag wünschend

    Holger

  • (...)

    Kurz gesagt, KITSCH ist eine willkürliche Definition. Jugendstil ist hier ein gutes Anschauungsbeispiel.

    (...)

    Kitsch als Definition ist nichts als eine zeitliche und räumliche Wertvorstellung (...)

    Ist das wirklich so?

    Ist das Urteil "Kitsch" reine Anschauungssache, und darin historisch zeitlich und gesellschafts-gruppenspezifisch bedingt? Eine "willkürliche Definition" also?

    Oder lässt sich "Kitsch" - literarischer, musikalischer und solcher der bildenden Kunst - als solcher ausweisen, als sich in bestimmten Merkmalen konstituierendes Faktum?

    Dann müsste es dafür Kriterien geben.

    Aber handelt es sich dabei um solche, die objektive, zeitunabhängige Gültigkeit beanspruchen können?


    Darüber kann man gewiss streiten. Aber was in einem solchen Diskurs könnte unstrittig sein?

    Ich denke, ich liefere Mal ein Fallbeispiel, damit nicht ins Blaue hinein philosophiert wird, sondern die eventuellen Beträge zu dieser Frage Hand und Fuß haben können.


    "Fernher rauscht das Meer in die holde Stille, der Wind regt sanft das starre Laub. Ein mattseidenes Gewand, elfenbeinweiß und golden bestickt, umfließt die Glieder und lässt einen zartgeschwungenen Nacken frei, auf dem die feuerfarbenen Flechten lasten. Noch brannte kein Licht in Brundhilds einsamem Gemach, - die schlanken Palmen ragten wie dunkle, phantastische Schatten aus ihren kostbaren chinesischen Kübeln empor, die weißen Marmorleiber der Antiken glänzten gespenstisch dazwischen, und an den Wänden verschwanden die Bilder in ihren breiten mattschimmernden Goldrahmen.

    Brunhild saß vor dem Flügel und ließ die Hände voll süßer Schwärmerei über die Tasten gleiten. Suchend floss ein schweres Largo daher, wie such Rauchschleier aus glimmenden Aschen lösen, vom Winde zerfetzt werden und in bizarren Brocken herumfliegen, getrennt von der Flamme, wesenlos. Langsam wuchs die Melodie zum Maestoso, sie rollt dahin in mächtigen Akkorden und kehrt wieder mit holden, flehenden, unsäglich süßen Kinderstimmen und mit Engelschören und rauscht über nächtliche Wälder und einsame, weite, brennend rote Heiden, wo alte Heidenmale stehen, und spielt um verlassene Dorfkirchhöfe. Helle Wiesen gehen auf, Frühlinge spielen mit leicht bewegten Gestalten, und vor dem Herbst sitzt eine alte Frau, eine böse Frau, um die herum alle Blätter fallen.

    Winter wird sein. Große glänzende Engel, die den Schnee nicht streifen, aber so hoch wie die im Himmel sind, werden sich zu horchenden Hirten neigen und ihnen singen von dem Märchenkinde von Bethlehem. Der heiligen Weihnacht geheimnisgesättigter Himmelszauber umwebt die in tiefem Frieden schlummernde winterliche Heide, als ob ein Harfenlied fremd im Tageslärm klänge, als ob das Geheimnis der Wehmut selber den göttlichen Ursprung besänge. Und draußen streicht der Nachtwind mit zarten, tastenden Händen um das Goldhaus, und die Sterne wandeln durch die Winternacht."


    Ist das literarischer Kitsch?

    Und das objektiv? Oder reine Auffassungssache?

    Wenn ja: Warum?

  • Lieber Helmut,


    für mich ist das Poesie. Paßt aber nicht mehr in unsere Zeit, so etwas verstehen nur noch wir Alten. Aber die Zeit wird kommen......


    La Roche

    Ich streite für die Schönheit und den edlen Anstand des Theaters. Mit dieser Parole im Herzen leb' ich mein Leben für das Theater, und ich werde weiterleben in den Annalen seiner Geschichte!

    Zitat des Theaterdirektors La Roche aus Capriccio von Richard Strauss.

  • Nur soviel......


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    ......lieber H.Hofmann ! :)


    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

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  • für mich ist das Poesie. Paßt aber nicht mehr in unsere Zeit,

    Lieber La Roche , obwohl ich auch nicht mehr der Jüngste bin, ist das für mich keine Poesie. Ich versuche meine Ansicht im Rahmen meiner Möglichkeiten zu erläutern.

    "Fernher rauscht das Meer in die holde Stille, der Wind regt sanft das starre Laub. Ein mattseidenes Gewand, elfenbeinweiß und golden bestickt, umfließt die Glieder und lässt einen zartgeschwungenen Nacken frei, auf dem die feuerfarbenen Flechten lasten...."

    Das hat für mich schon zum Grausen gereicht. Für mich ist jedes Substantiv hier in den Sätzen überbestimmt. Das Meer rauscht nicht nur, sondern auch noch fernher, die Stille muss hold sein und der Wind regt das Laub nicht nur sondern sanft und das Laub ist auch noch starr .... etc. etc.


    Man muss sich doch fragen, ob das alles überhaupt ein Bild ergibt oder einfach eine Aneinanderreihung von Stereotypen. Das "starre Laub" überrascht ein wenig, veileicht bloß ein Fehlgriff ;). Aber die holde Stille ergibt doch mit einem fernher rauschenden Meer für mich überhaupt nichts ... X(.


    Besser wäre doch einfach: "das Meer rauscht in die Stille". das ist jetzt nichts Dolles, hat aber einen Inhalt ....


    Ich kenne den Autor dieser Zeilen nicht, vermute aber den Ursprung in einem Groschenroman ... . Mir fällt es schwer, hier Kunst zu sehen, sondern eher Künstlichkeit.


    Mein Urteil also -> Kitsch.

  • Das liest sich für mich spontan irgendwie wie eine etwas unentschlossene Stilmischung aus Thomas Mann und Hedwig Courths-Mahler oder Eugenie Marlitt. Warum? Einige wenige Passagen erscheinen mir literarisch durchaus gelungen, die meisten Metaphern lesen sich aber doch ziemlich schwülstig-überladen. Eher wie eine Persiflage auf echte Erzählkunst.

    >>So it is written, and so it shall be done.<<

  • Das ist dermaßen über jedes metaphorische Maß hinaus gesteigert, das KONNTE nur eine K…..ge sein… Und richtig!


    Ach ja, Kitsch ist es natürlich hoch zehn. Und das ist Stifter zum Beispiel nicht.

    "...man darf also gespannt sein, ob eines Tages das Selbstmordattentat eines fanatischen Bruckner-Hörers seinem Wirken ein Ende setzen wird."



  • Zitat von MDM

    Einige wenige Passagen erscheinen mir literarisch durchaus gelungen,

    da hast Du nicht unrecht.


    Zum Beispiel würde ich der Formulierung

    Zitat von Helmut Hofmann

    " ...Winter wird sein. Große glänzende Engel, die den Schnee nicht streifen, ..."

    eine gewisse literarische Qualität nicht absprechen. Nur warum müssen es wieder Große glänzende Engel sein? Reichen "große" oder "glänzende" alleine nicht aus? "Große" würden sogar einen interessanten Sinn ergeben.


    Natürlich könnte sich auch hier das Doppelattribut als sinnvoll herausstellen, aber diese Alliteration wirkt schon wieder etwas preiswert :(

  • Auf dem Theater, in der Oper und im Film gibt es das, was im Englischen als overacting bezeichnet wird. Das ist hier auch der Fall. Neuerdings gibt es das auch im Sport, besonders im Fußball, etwa in der vergangenen EM. Nach jedem Tor wird gejubelt (vor Begeisterung verzerrte Gesichter), man wirft sich aufeinander, das TV zeigt 15 x das Tor aus der Sicht von 10 verschiedenen Kameras. Das ist Kitsch auch deshalb, weil es meist dem Anlass (nur ein Tor) nicht adäquat entspricht.

    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Ich hatte mir ja vorgenommen, erst einmal Zurückhaltung zu üben mit Beiträgen meinerseits zu den hier direkt und indirekt aufgeworfenen Fragen. Und dabei möchte ich auch bleiben, bis morgen jedenfalls.

    Aber loswerden muss ich - abgesehen von der Freude über die vielen Beiträge - heute schon dieses:

    Ich bin schwer beeindruckt von der analytischen Kompetenz und der Sensibilität im Umgang mit literarischer Sprache, die sich in den Stellungnahmen zu meinem obigen Beitrag zeigen.

  • ^^ Aha! Interessant daran ist, dass das Beispiel eine "Textcollage" ist. Kitsch kommt ja von "Zusammenkitschen" - die ästhetische Wertung ist da: Kitsch = was nicht wirklich organisch zusammengefügt ist, sondern nur äußerlich zusammengekittet. Es gibt nun Stile, die einen solchen Kollage-Charakter haben. Und es ist klar, dass ein solcher Kollage-Stil in höherem Maße Kitsch gefährdet ist als ein betont einheitlicher Stil. Aber: Nicht jeder Kollage-Stil ist kitschig. Der Kollage-Charakter alleine reicht also nicht, um Kitsch zu erzeugen. Sonst müsste der Postmoderne-Stil per se kitschig sein. Kitschig wird es, wenn durch eine Übertreibung und Überhäufung von Bildern, also eine emblematische Verdichtung, der Schein eines Organisch-Einheitlichen evoziert wird. Das wirkt dann "überladen" und kitschig - wie in diesem Beispiel und die Stil-Einheit stellt sich als "Kitsch-Lüge" heraus. Auch ein einheitlicher Stil kann kitschig werden - wie der Klassizismus, wenn er in autoritären oder totalitären Staaten zum Monumentalstil wird - etwa bei den Protzbauten im deutschen Kaiserreich oder im Stalinismus. Das Klassische ist nämlich an sich nicht monumental, sondern schlicht. Die erhabene Wirkung des Klassischen ist also zusammengekitscht - und wirkt entsprechend "unecht". Oder in diesem Beispiel: Abgenutzten sprachlichen Klischeebildern, die eigentlich schon keine Wirkung mehr haben, durch ihre Überhäufung eine "erhabene" Wirkung verschaffen, ist Kitsch. Dann wird der Kitsch zudem noch zur unfreiwilligen Komik. :D


    Schöne Grüße

    Holger

  • Das Klassische ist nämlich an sich nicht monumental, sondern schlicht. Die erhabene Wirkung des Klassischen ist also zusammengekitscht - und wirkt entsprechend "unecht".


    Schöne Grüße

    Holger

    Ich weiß nicht, wie viele Tausend Kirchen, Dome, Kathedralen ich in meinem Leben besucht habe. Seltsamerweise mochte ich die großen Barockkirchen wie etwa Zwiefalten überhaupt nicht. Die sind ja nun überhaupt nicht schlicht. Als theologischen Grund kann man vielleicht anführen, dass barocke Pracht mit den Grundideen des Christentums schlecht vereinbar ist. Die gotischen Dome haben ja eine andere Aussage: "Sie bauten ein Abbild des Himmels!" Hier liegt die Pracht in der Größe und der Höhe.

    Auf der anderen Seite gibt es doch auch großartige Barockkirchen wie die Wies und Steinhausen ("Die schönste Dorfkirche der Welt").

    Mein Gefühl bei diesen Erörterungen ist das einer ziemlichen Ratlosigkeit; vielleicht könnt ihr zu meiner Erhellung beitragen.

    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

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  • Zunächst einmal:
    Von der Existenz dieses von Rheingold hier verlinkten Artikels "Fragespiele mit Literatur. Übungen im produktiven Umgang mit Texten. 1985" wusste ich nichts. Wäre das der Fall gewesen, so hätte ich meinen obigen Beitrag nicht hier eingestellt, und ich verspüre deshalb auch keine große Lust, mich weiter an diesem Thread zu beteiligen.

    Mein Zitat habe ich nicht von dort, sondern aus der Schrift „Deutscher Kitsch. Göttingen 1962“ des Germanisten und Literaturwissenschaftlers Walter Killy. Der Text stellt eine von ihm vorgenommene Kompilation aus literarischen Werken von sieben deutschen Autoren dar, nämlich: Werner Jansen, Nahaly von Eschtruth, Reinhold Muschler, Agnes Günther, Rainer Maria Rilke und Wilhelm Schäfer. Aus wirklich existierender Literatur also.
    Daher rührt der fehlende innere Zusammenhang des Texts, der einigen hier ja auch – erfreulicherweise - aufgefallen ist.
    Walter Killy versucht in dieser Schrift stilistische Elemente aufzuzeigen, die nach seiner Meinung prägend für literarischen Kitsch sind. Das soll nun in keiner Weise hier im Einzelnen wiedergegeben werden

    So viel nur:
    Hauptkriterium von literarischem Kitsch ist für ihn die Kumulation von stilistisch-kompositorischen Elementen, die bei den Lesern positive Emotionen wecken. Das sind in erster Linie Adjektive, Adverbien und eine entsprechend angelegte Metaphorik. Bei „Kitsch“ handelt es sich also um primär auf den emotionalen Effekt hin angelegte und ausgerichtete Literatur, und ich denke, dass man das auch auf die Musik übertragen kann.
    Das schmückende Beiwort wird in einem von der Sache völlig unnötigen Ausmaß eingesetzt, wobei im Text jegliche Differenzierung im Sinne einer Herausarbeitung von Problematik, Zwiespältigkeit und Doppeldeutigkeit, wie sie die Realität menschlichen Lebens nun einmal mit sich bringt, ausgeschlossen bleibt.

    In der von Killy vorgenommenen Kompilation wird das auf exemplarische Weise deutlich: „Stille“ wird zu „holder Stille“, das „Gewand“ muss zu einem „mattseidenen“ werden, das „die Glieder umfließt“, die „Melodie“ erklingt nicht einfach, sie „rauscht mit Engelchören über nächtliche Wälder“, der „Nachtwind“ ist nicht einfach „zart“ er hat „zarte Hände“ mit denen er um ein „Goldhaus tastet“. Und so weiter …
    Nun wäre die Schlussfolgerung für die Thematik dieses Threads also:
    Das Phänomen „Kitsch“ – hier literarischer – gibt es tatsächlich, es konstituiert sich aus bestimmten definierbaren Kriterien, und es ist deshalb nicht einfach Ansichtssache, ein Kunstwerk, musikalisch, literarisch oder bildnerisch, als „Kitsch“ zu qualifizieren oder nicht.

    „Wäre“. Aber so einfach liegen die Dinge nicht.
    Das Wort „Kitsch“ impliziert ein Werturteil, es sagt etwas aus über den Wert und die Qualität des Gegenstandes, auf das es Bezug nimmt.
    Und jedes Werturteil wirft die Fragen auf:
    Auf welches grundlegende ideale Konzept von Kunst stützt es sich, aus welchem leitet es sich her?
    Kann dieses Konzept absolute, also überzeitliche Gültigkeit für sich beanspruchen?
    Oder ist es nur das Produkt einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe, von dieser entworfen, damit sie sich in ihm wiederfinden und als Gruppe zu konstituieren vermag?

    Mit diesem Fragenkomplex hat sich (unter anderem) Theodor W. Adorno in einem Artikel mit dem Thema „Kitsch“ (konzentriert vorwiegend auf Musik) auseinandergesetzt, der dreißig Jahre vor dem Buch von Walter Killy erschien. Daraus möchte ich zwei Passagen zitieren.

    „Unmöglich, die Idee Kitsch freischwebend ästhetisch zu fassen. Das soziale Moment konstituiert sie wesentlich. Denn indem der Kitsch vergangene Formwesen den Menschen als gegenwärtig aufredet, hat er soziale Funktion: sie über ihre wahre Lage zu täuschen, ihre Existenz zu verklären, Ziele, die irgendwelchen Mächten genehm sind, ihnen im Märchenglanz zu lassen. Aller Kitsch ist wesentlich Ideologie. So hat im neunzehnten Jahrhundert der musikalische Kitsch die Existenz des Bürgers und Proletariers, die im Existenzkampf aufgehen, durch eine Romantik verklärt.“ (…)

    Adorno geht also auch von der Existenz von künstlerischen Produkten aus, die als „Kitsch“ qualifiziert werden können. Und er misst ihnen eine – im Grunde ja gefährliche – soziale Funktion zu: Ihre Rezipienten über ihre wahre existenzielle Lage zu täuschen.
    „Kitsch“ wäre dann wesenhaft Lüge. Eine Feststellung, die ich für bedenkenswert halte.

    Aber auf einen weiteren Aspekt macht er in seinem Aufsatz aufmerksam:
    „Es gibt kein allgemeines Kriterium für Kitsch, denn der Begriff ist selber ein Rahmen, der sich je und je erst geschichtlich erfüllt und sein eigentliches Recht allein in der Polemik hat. Heute ist er längst vom juste milieu adoptiert und selber zum ideologischen Mittel geworden, eine mittlere >Kultur< des Musikalischen zu verteidigen, der keine Kraft mehr innewohnt.
    So beginnt die Rede vom Kitsch selber kitschig zu werden, indem sie der geschichtlichen Dialektik erliegt, der ihr Gegenstand entstieg.“

    Über diese mit dem Begriff „Kitsch“ eng verbundene „geschichtliche Dialektik“ wäre nachzudenken.
    Sie lässt die von Alfred Schmidt vertretene These „Kitsch als Definition ist nichts als eine zeitliche und räumliche Wertvorstellung“ unter neuen Aspekten diskussionswürdig erscheinen.

  • Ich weiß nicht, wie viele Tausend Kirchen, Dome, Kathedralen ich in meinem Leben besucht habe. Seltsamerweise mochte ich die großen Barockkirchen wie etwa Zwiefalten überhaupt nicht. Die sind ja nun überhaupt nicht schlicht. Als theologischen Grund kann man vielleicht anführen, dass barocke Pracht mit den Grundideen des Christentums schlecht vereinbar ist. Die gotischen Dome haben ja eine andere Aussage: "Sie bauten ein Abbild des Himmels!" Hier liegt die Pracht in der Größe und der Höhe.

    Auf der anderen Seite gibt es doch auch großartige Barockkirchen wie die Wies und Steinhausen ("Die schönste Dorfkirche der Welt").

    Mein Gefühl bei diesen Erörterungen ist das einer ziemlichen Ratlosigkeit; vielleicht könnt ihr zu meiner Erhellung beitragen.

    Lieber Dr. Pingel,


    Kirchenbauten - schon die der Romanik - verherrlichen ja nicht nur Gott, sondern damit verherrlicht sich immer auch die Kirche selber und ihre Macht. ;) Davon zeugen nicht zuletzt die großen Türme. Es erklärte mir mal Jemand (der ehemalige Kastellan von Schoss Benrath, der aus einer berühmten Düsseldorfer Künstlerfamilie stammt) sehr schön die Wirkung der Klosterkirche in Knechtsteden bei Düsseldorf (auf der anderen Rheinseite, dahin kann man eine schöne Fahrradtour machen!). Man muss sich vorstellen, dass die armen Bauern im Mittelalter in ihrem ganzen Leben nie von ihrer kläglichen Scholle wegkamen. Sie haben also von der großen Welt nie etwas gesehen. Dann hat sie dieser Kirchenbau beim sonntäglichen Kirchgang im wahrsten Sinne des Wortes "erschlagen": Gott und die Kirche sind groß und mächtig! Genau das war von der Kirche auch beabsichtigt - der Gläubige sollte sich klein fühlen vor ihrer Größe. Im Barock ändert sich zudem die Theologie. Während im Mittelalter der Ordo-Gedanke vorherrschend war, verherrlicht man nun den allmächtigen Willen Gottes. Das ist - wie Du natürlich weißt - der "Voluntarismus". Entsprechend ist die Herrlichkeit Gottes seine Macht und ebenso die der kirchlich-weltlichen Herrscher, die ihre Position als gottgleich empfinden. Lebensfülle, Macht, Größe - das macht den Barockstil aus. Die Ästhetik wird deshalb zu einer Ästhetik des Erhabenen und nicht mehr des Schönen. Die originalen Barockkirchen finde ich auch nie kitschig wie - beeindruckend! - von Balthasar Neumann die Kapelle in Schloss Würzburg oder die Wieskirche. In vergangenen Jahrhunderten hat man aber dann dem barocken Zeitgeist entsprechend in gotische Kirchen einfach ein barockes Inventar reingestellt. Skrupel - von wegen Denkmalschutz - hatte man keine und nahm auch keine Rücksicht auf die einfach nicht zusammen passende Ästhetik und den guten Geschmack. Da kann dann ein barockes Inventar "reingekitscht" und tatsächlich überladen wirken - weil es einfach zu einer gotischen Kirche nicht wirklich passt. (Beispiel, wo es mir so vorkam: Die Kathedrale in Oliwa bei Danzig, an sich eine sehr schöne Kirche - die natürlich eine tolle Barockorgel hat!)


    Bahnbrechend und wirklich eine Offenbarung, um den Barockstil richtig zu verstehen sind immer noch wie ich finde die Analysen des Barockforschers Heinrich Wölfflin. Ich bin ein großer Liebhaber des Barockstils - den ich nicht zuletzt durch Wölfflin wirklich verstanden habe! :)


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    Schöne Grüße

    Holger

  • Mein Zitat habe ich nicht von dort, sondern aus der Schrift „Versuch über den literarischen Kitsch. Göttingen 1961“ des Germanisten und Literaturwissenschaftlers Walter Killy. Der Text stellt eine von ihm vorgenommene Kompilation aus literarischen Werken von sieben deutschen Autoren dar, nämlich: Werner Jansen, Nahaly von Eschtruth, Reinhold Muschler, Agnes Günther, Rainer Maria Rilke und Wilhelm Schäfer. Aus wirklich existierender Literatur also.

    Lieber Helmut Hofmann vielen Dank für Deine Erläuterung zu diesem Text.


    Jetzt war ich etwas motiviert, im Web zu suchen. Meine Suche nach kitschigen Bildern war in meinem Sinne nicht erfolgreich. Ich habe aber zwei Videos gefunden, die den Versuch einer Definiton wagen. Ich finde sie recht interessant.



    und


  • Jetzt war ich etwas motiviert, im Web zu suchen. Meine Suche nach kitschigen Bildern war in meinem Sinne nicht erfolgreich. Ich habe aber zwei Videos gefunden, die den Versuch einer Definiton wagen. Ich finde sie recht interessant.

    Die erste Vorlesung von Harry Lehmann habe ich mir eben auf der Zugfahrt angehört. :)


    Dazu:


    1. Grundsätzlich finde ich die These richtig. Der Kitsch kommt aus der Romantik - ist eine Form von Sentimentalität. Und am Schluss hat er auch gut beschrieben, wie die romantische Kunst in Kitsch umkippt: in der Verharmlosung des Ungeheuerlichen, der Verniedlichung und dem Häuslich-Werden eines Unheimlichen und Unhäuslichen (das sind jetzt meine Worte, aber sie decken sich im Prinzip mit seinen Erläuterungen).


    2. Wo ich meine Fragezeichen anbringe:


    Er spricht mit Hermann Broch von der "Sentimentalitätsklippe". Es gibt die Neigung, Sentimentalität mit Kitsch einfach gleichzusetzen. Das ist mir nun zu einfach. In meiner Hifi-Kolumne beziehe ich mich auf Thomas Bauer. Er diagnostiziert in unserer Zeit den fundamentalistischen Wahn, alles eindeutig und einfach machen zu wollen - auch in der Kunst. Das zerstört das, was - so Bauer - die Psychologie "Ambiguitätstoleranz" nennt - die Fähigkeit, das Mehrdeutige, Zweideutige, Uneindeutige zu akzeptieren. Sentimentalität als "uneindeutiges" Gefühl ist ein schönes Beispiel für etwas, was "Ambiguitätstoleranz" fordert. Wenn man im Vereindeutigungswahn Sentimentalität mit Kitsch gleichsetzt, ist man das eben nicht mehr: ambiguitätstolerant, wie es die romantische Kunst war. Man sollte also schon sehr genau bezeichnen, wo Sentimentalität in Kitsch umkippt. Und das ist mein Kritikpunkt.


    Sentimentalität ist ein reflexives Gefühl - sentimental ist die "Weltschmerzliteratur": Byron, Senancour usw. Im sentimentalen Schmerz betrauert das Gefühl nicht nur einen Verlust, sondern bedauert und beweint sich zugleich selbst in seinem Leiden. Das ist die Zweideutigkeit der Sentimentalität: das Weinen über etwas und zugleich das Weinen über sich selbst: "ach, ich bin ja so traurig!" Lehmann bringt hier das Beispiel Eichendorff, das er mit Hermann Broch als Sturz über die Sentimentalitätsklippe interpretiert. Das ist meiner Meinung nach nicht haltbar und ein Beispiel für fehlende Ambiguitätstoleranz. Die beiden Schlusssätze des Gedichts, wo sich das träumende Ich wünscht, in der Traumwelt zu sein, sind freilich sentimental. Das hat Broch richtig erkannt. Aber eben nicht kitschig, wie Lehmann dann mit Broch behauptet. Warum nicht? Weil bei Eichendorff - auch formal - die Beschwörung der Traumwelt und der sentimentale Wunsch voneinander getrennt bleiben und nicht miteinander vermischt werden, wie das bei einem Kitsch-Gedicht geschehen würde. Das ist der entscheidende Unterschied.


    Ebenso halte ich Lehmanns Interpretation von Caspar David Friedrichs berühmtem Bild "Der Wanderer über dem Nebelmeer" in Richtung Kitsch für verfehlt. Er behauptet, dass dieses Bild kein wirkliches Gefühl für das Erhabene und Unendliche vermitteln könne, weil durch die Symmetrie im Bild das Schöne das Erhabene gleichsam begrenzend einfassen und damit domestizieren würde. Die Landschaft sei ja auch das gemütliche Elbsandsteingebirge. Völlig falsch! Die Rolle der Symmetrie ist nämlich eine ganz andere: Die Wanderergestalt steht in der Mitte und kehrt uns den Rücken zu. Wenn sie irgendwo dezentriert stehen würde, dann wäre das Entscheidende nicht möglich: dass sich der Betrachter an die Stelle des Wanderers stellen könnte, so dass er selber diesen Unendlichkeits-Blick hat. Im Friedrich-Bild "Kreidefelsen auf Rügen" ist die Wanderergestalt dezentral, dafür aber gibt es durch die Anordnung der Bäume und Felsen diesen "Blick durch das Fenster"-Effekt, der es dann möglich macht, dass der Betrachter des Bildes die Bildperspektive des Blicks auf die Unendlichkeit einnehmen kann. Das fehlt in "Der Wanderer über dem Nebelmeer" - und deshalb steht die Wandergestalt im Zentrum für den Betrachter, damit er ihn vertreten und der Bildbetrachter davor mit ihm "ins Bild eintreten" kann. Die Unendlichkeit und das Erhabene ergibt sich ganz einfach dadurch, dass die Landschaft menschenleer ist und er über den Wolken schwebt - also praktisch vom Himmel über die Erde und die vereinzelt herausragenden Gebirgszacken hinweg schaut. Er schaut über die Gipfel - das ist die Entgrenzung. Da gibt es auch nicht das Geringste von Kitsch. Die Symmetrie wirkt überhaupt nicht begrenzend.


    Der letzte Punkt: Es gibt die eindeutigen Fälle von Kitsch und die nicht-eindeutigen. Mein Beispiel war "Allerseelen" von Richard Strauss. Das Lied (siehe meinen oben verlinkten Thread) ist zweifellos in hohem Maße Kitsch gefährdet. Aber ein Kunstlied ist eben doch kein nur alberner Schlager-Kitsch. Hier liegt es am Sänger, ob er (wie von mir in einem Interpretationsvergleich dargestellt) in die Kitschfalle tappt oder sich bemüht, dieses Lied kitschfrei zu singen.


    P.S. Das Buch von Walter Killy habe ich leider nicht. Ich schaue mal, ob ich es antiquarisch irgendwo bekomme!


    Schöne Grüße

    Holger

  • 1. Grundsätzlich finde ich die These richtig. Der Kitsch kommt aus der Romantik - ist eine Form von Sentimentalität. Und am Schluss hat er auch gut beschrieben, wie die romantische Kunst in Kitsch umkippt: in der Verharmlosung des Ungeheuerlichen, der Verniedlichung und dem Häuslich-Werden eines Unheimlichen und Unhäuslichen

    Wenn ich das richtig verstanden habe, sagt er, dass die Romantik die in der Realität auftretenden Widersprüche in der Kunst zu vereinheitlichen sucht, eine Ästhetik des Unendlichen, der Kitsch aber in seiner Aussage vermittele, dass diese Widersprüche gar nicht exitieren.....


    Das fand ich auch sehr schlüssig. Nebenbei habe ich meine zugegebenermaßen naive Formulierung, dass die Romantik die Gefühle des Künstlers selbst thematisiere (von Johannes Roehl zu Recht als Spontanidee abgetan) aber irgendwie im Begriff der Selbsreflexivität (Tristam Shandy) der Romantik, natürlich viel wissenschaftlicher, wiedergefunden :).


    Zu den von Dir aufgeworfenen Themen muss ich noch nachdenken. Das ist ein ganzer Berg von Themen. Da ich von Malerei nicht viel verstehe, bin ich an manchen Stellen einfach überfordert. Ich denke aber Lehmann wollte sagen, dass der Wanderer durchaus kitschige Elemente enthält und nicht, dass es sich um Kitsch handele. Das war auch mein Problem bei der Bildersuche. Der Kitsch, den ich gefunden hatte, war so eindeutig, dass es sich gar nicht lohnte, den hier zu posten.


    Beste Grüße

  • Zu Helmut Hofmanns Beitrag (#38) mit einem künstlich erzeugten Text gibt es im Englischen eine Parallele. Ein Leser des NEW YORKER zitiert "the most beautiful sentence in the English Language" des Schriftstellers E.B.White (gest.1983). Allerdings ist hier von vorneherein deutlich, dass der Autor den Satz als Satire verstehen wollte.

    In the loveliest town of all, where the houses were white and high and the elm trees were green and higher than the houses, where the front yards were white and pleasant and the back yards were bushy and worth finding out about, where the streets sloped down to the stream, and the stream flowed quietly under the bridge, where the lawns ended in orchards and the orchards ended in fields and the fields ended in pastures, and the pastures climbed the hill and disappeared over the top towards the wonderful white sky, in this loveliest of all towns Stuart stopped to get a dink of Sarsaparilla (Tee aus der Stechwinde).

    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Wenn ich das richtig verstanden habe, sagt er, dass die Romantik die in der Realität auftretenden Widersprüche in der Kunst zu vereinheitlichen sucht, eine Ästhetik des Unendlichen, der Kitsch aber in seiner Aussage vermittele, dass diese Widersprüche gar nicht exitieren.....

    Ja, so ungefähr. :) Das ist eine wahrlich komplexe Problematik! "Vermittlung" usw. sind natürlich schwierige, philosophisch besetzte Begriffe.

    Das fand ich auch sehr schlüssig. Nebenbei habe ich meine zugegebenermaßen naive Formulierung, dass die Romantik die Gefühle des Künstlers selbst thematisiere

    ... das ist letztlich die Künstlerproblematik in der Romantik.

    Ich denke aber Lehmann wollte sagen, dass der Wanderer durchaus kitschige Elemente enthält und nicht, dass es sich um Kitsch handele.

    Die sorgfältige Bildanalyse spricht einfach gegen seine Behauptung! Dazu kommt noch die kunsthistorische Betrachtung. Ein Landschaftsmahler des 18. Jhd. hätte so ein Bild schlicht nicht malen können! Diese Art der Landschaftsdarstellung ist ein Novum!


    friedrich-caspar-david-der-wanderer-im-nebelmeer-original.jpg

  • Das Buch von Walter Killy habe ich leider nicht. Ich schaue mal, ob ich es antiquarisch irgendwo bekomme!

    Es gibt mehrere Auflagen von diesem Buch. Killy beschäftigte sich seit 1961 mit diesem Thema, 1962 erschien das erste Buch, die letzte Fassung trägt den Titel:

    Walter Killy. Deutscher Kitsch, Ein Versuch mit Beispielen. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 1978

    Sowohl die Ausgabe von 1962, wie auch diese sind zu Preisen von 3 Euro fünfzig bis zu 8 Euro bei Amazon antiquarisch erhältlich.

    Eben fiel mir das - lesenswerte - Buch mit dem Titel:

    Karlheinz Deschner, Kitsch, Konvention und Kunst, Ullstein 1980

    in die Hände, und ich sehe, dass ich darin, als ich mich einmal vor langen Jahren mit dem Thema "Kitsch" intensiv beschäftigte, den Satz von Hermann Broch fett mit Bleistift markiert und ein großes Fragezeichen an den Rand gesetzt habe:

    "Wer Kitsch erzeugt, ist nicht einer, der minderwertige Kunst erzeugt, er ist kein Nicht- oder Wenigkönner, er ist durchaus nicht nach den Maßstäben des Ästhetischen zu werten, sondern er ist ein ethisch Verworfener, er ist ein Verbrecher, der das radikal Böse will."

  • den Satz von Hermann Broch fett mit Bleistift markiert und ein großes Fragezeichen an den Rand gesetzt habe:

    "Wer Kitsch erzeugt, ist nicht einer, der minderwertige Kunst erzeugt, er ist kein Nicht- oder Wenigkönner, er ist durchaus nicht nach den Maßstäben des Ästhetischen zu werten, sondern er ist ein ethisch Verworfener, er ist ein Verbrecher, der das radikal Böse will."



    Der Broch scheint definitv etwas gegen Kitsch zu haben. Im Sinne des „radikal Bösen“ müsste man den Wanderer von Caspar David Friedrich vom Kitschverdacht freisprechen :)...


    Broch tendiert dazu, den Kitscherzeuger zu dämonisieren. Das entlastet den üblichen geschmacklichen Fehlgriff und sein ästhetisch misslungenes Produkt, hinter der man sich diese ethische Verworfenheit nicht vorstellen kann. Es ist die Rehabilitation des Gartenzwerges.



    Die sorgfältige Bildanalyse spricht einfach gegen seine Behauptung! Dazu kommt noch die kunsthistorische Betrachtung. Ein Landschaftsmahler des 18. Jhd. hätte so ein Bild schlicht nicht malen können! Diese Art der Landschaftsdarstellung ist ein Novum!


    Ich verstehe von Malerei so gut wie nichts. Ich liebe Kandinsky, Malewitsch und Ljubow Popowa und noch ein paar andere und tue mich mit alten Bildern recht schwer. Allerdings konnte ich das Argument von Lehmann in der folgenden Form nachvollziehen:


    Durch den Wanderer wird das diffuse Unendliche des anderen Bildes aufgehoben. Ich sehe "mich" eine Landschaft genießen, das hat schon eher etwas Anheimelndes...


    Für Weiteres zu Caspar David Friedrich fehlt mir vollständig die Kompetenz. Ein jeder nach seiner Façon :)

  • Herzlichen Dank für den Tip! Auch für den Deschner! Ich kannte Deschner bisher nur als Kirchenhistoriker und -kritiker, wusste aber gar nicht, dass er auch ein Buch über Kitsch geschrieben hat! Beide Bücher habe ich mir gestern gleich bestellt! :)


    Die Ausarbeitung über den Kitsch steht mir noch bevor. Ich hoffe ja, dass ich es irgendwann trotz beruflicher zeitlicher Auslassung schaffe, mein Buch über den Ausdruck in der Musik fertigzustellen. Da soll es auch ein Kapitel über die Sentimentalität geben und darin über den Kitsch.


    Ich finde den Moralismus von Broch auch völlig übertrieben. Diese Dämonisierung verleitet fast dazu, psychoanalytisch zu werden. Kämpft da einer vielleicht gegen den Kitsch-Teufel in ihm selbst? ^^ Nein - Kitsch ist allenfalls eine privatio boni - im ästhetischen Sinne. Vom Moralisieren in der Kunst sollte man sich doch besser enthalten! :hello:

    Ich verstehe von Malerei so gut wie nichts. Ich liebe Kandinsky, Malewitsch und Ljubow Popowa und noch ein paar andere und tue mich mit alten Bildern recht schwer. Allerdings konnte ich das Argument von Lehmann in der folgenden Form nachvollziehen:


    Durch den Wanderer wird das diffuse Unendliche des anderen Bildes aufgehoben. Ich sehe "mich" eine Landschaft genießen, das hat schon eher etwas Anheimelndes...


    Für Weiteres zu Caspar David Friedrich fehlt mir vollständig die Kompetenz. Ein jeder nach seiner Façon

    Ich kann von dem, was Lehmann hier sagt, gar nichts nachvollziehen - habe mir die Stelle auch nochmals angehört. Ich bin natürlich vorbelastet gerade mit Blick auf romantische Landschaftsmalerei - komme aus einem künstlerischen Haus, male selber, habe zu meiner Studienzeit eine wirklich hervorragende kunstgeschichtliche Vorlesung über C. D. Friedrich bei dem 2019 verstorbenen Donat de Chapeaurouge gehört (auch noch andere, u.a. eine ebenso eindrucksvolle über Max Beckmann), dann habe ich dazu in meinem Germanistikstudium ausgerechnet eine Arbeit geschrieben über die "poetische Landschaft" bei Eichendorff und C. G. Carus.


    Dann fangen wir mal an ^^ :


    Lehmann behauptet, in dem Bild werde eine eher "liebliche" Landschaft geschildert, im Vordergrund mit einem Spaziergänger mit Spazierstock. Ich verstehe nicht, wie ein Fachmann zu so einer grundverkehrten Ansicht kommen kann!


    Zur Gestalt des Wanderers: D. de Chapeaurouge wies darauf hin, dass die Bilder von C. D. Friedrich alles andere als unpolitisch sind, nämlich vor versteckten politischen Anspielungen nur so wimmeln. Das betrifft auch die Wanderergestalt. Im Bild Kreidefelsen auf Rügen trägt der Wanderer eine Kleidung, die zu Friedrichs Zeiten kein Mensch getragen hat: Es ist nämlich eine Studententracht aus der Renaissance. Der Student hat den Weitblick - und in der Mitte sieht man eine andere Figur mit einem Zylinder am Boden herumkriechen und irgend etwas dort suchen. Jeder zeitgenössische Betrachter weiß sofort: Der Herr mit dem Zylinder ist der Spitzel der Restaurationszeit (so wie er in der "Winterreise" weiß, wer mir den "Raben" gemeint ist). Der Vertreter der Jetzt-Welt hat also keinen Weitblick, sondern nur die Karikatur einer Nahsicht. Der Wanderer ist also kein harmloser Spaziergänger, sondern steht für einen Menschen, der in eine neue Zeit aufbricht.


    Von wegen liebliche Landschaft: Dargestellt ist das Elbsandgebirge. Carl Gustav Carus war der Freund von C. D. Friedrich. Er verfasste eine Schrift über die Landschaftsmalerei. Das Erhabene wird dort nicht - wie bei Kant etwa - als eine den Menschen bezwingende Naturgewalt aufgefasst, sondern zeigt sich in den Dimensionen der Naturgeschichte, die nicht dem menschlichen Maß folgen. Das Erhabene-Unendliche ist also eine Dimension. Der Kontext ist demnach verwitterter Stein - die Wetter der Geschichte, die an ihm nagen. Das ist nicht "lieblich", sondern "erhaben", zeugt von der alles Menschliche übersteigenden Größe der Naturgeschichte. Der zentrale Gedanke von Carus ist seine Kritik an der traditionellen Landschaftsmalerei als einem Anthropomorphismus: Der Mensch soll nicht das Zentrum der Landschaft sein! Genau das ist in C. D. Friedrichs Bild auch realisiert: Die Landschaft ist völlig menschenleer und der Wanderer im Vordergrund ist kein Teil der Landschaft, die er betrachtet. Er steht "außerhalb" und betrachtet eine menschenleere Welt, gerade wo er bildlich im Zentrum steht. Die Landschaft hat kein Zentrum mehr, das der Mensch bildet, sondern das Zentrum ist lediglich der Betrachter dieser Landschaft, der den Menschen als Mittelpunkt der Landschaft gleichsam ersetzt. Deshalb gibt es in diesem Bild auch keinen Kitsch - weil die ästhetische Haltung die Distanz einer Anschauung ist. "Ich fühle mich im 7. Himmel" ist kitschig - aber das ist nicht das Bild. Der Wanderer steht auf einem Felsen, der über die Wolken hinausragt. Das ist seine "erhabene" Position, einen Himmelsblick zu haben. Er hat und behält aber einen festen Grund und Boden auf dem er steht - die Nebellandschaft dagegen hat keinen "Boden" mehr. Er selbst betrachtet diese überirdische bodenlose Himmelslandschaft nur, deren Teil er nicht ist. "Poesie soll keine Affekte machen, Affekte sind so etwas wie Krankheiten" schrieb Novalis. Der Kitsch ist affektiert - er hebt mit dem auf Wirkung beruhenden Affekt die Anschauungsdistanz auf, auf dem die romantische Ästhetik beruht. Der Blick des Wanderers hier ist deshalb auch nicht kitschig-sentimental.


    Völlig unhaltbar ist Lehmanns Behauptung, dass es hier im Bild eine Symmetrie gäbe in klassischen Sinne. Die gibt es nicht. Das Bild enthält verschiedene Diagonalen, die alle einen anderen Fluchtpunkt haben. Anders als in einem barocken Bild gibt es aber keine gelenkte Blickperspektive, die vom Vordergrund in den Hintergrund führte. Schon durch die Haltung des Wanderers hat C. D. Friedrich das verhindert: die Beine zeigen in unterschiedliche Richtung und der Kopf ist leicht zur Mitte hin verdreht. So ergibt sich keine einheitliche Blick-Bewegungsrichtung, wie wenn der Blick auch genau in die Richtung gehen würde, wie die Figur steht. Die Fluchtpunktlinien lösen sich alle zum Hintergrund hin auf - es gibt keine klaren Bewegungslinien im Bild: der Blick über dieses Nebelmeer wird damit dezentriert. Dass das "Unendliche" in diesem Bild aufgehoben wird, ist also Quatsch, wird durch die Bildkomposition ganz einfach widerlegt. ^^ In der Unendlichkeit gibt es unendlich viele Mittelpunkte - oder keinen. Die Symmetrie im Hintergrund hat eine ganz andere Funktion als Lehmann behauptet, nämlich dass sie die nur angedeutete (uneindeutige, weil viegerichtete) Zentralperspektive, die vom Vordergrund zum Hintergrund führt, in eine Parallelperspektive im Hintergrund auflöst - d.h. damit der gerichtete und auf ein Ziel zielende Blick sich endgültig auflöst, kein Ziel mehr findet und zu einem ziellos suchenden wird. Das ist sehr modern - wenn man an Cezanne denkt, der auch die Zentralperspektive in eine Parallelperspektive auflöst, und nicht einfach eine Reminiszenz an eine althergebrachte Schönheitsästhetik. Das Bild hat keine geschlossene Form, sondern eine offene - um die Begriffe von Heinrich Wölfflin zu benutzen.


    Und dann kommt das Typische der Romantik - die Entdeckung der "Stimmung". Hier ist es die Morgenstimmung - die Morgensonne scheint und der Nebel hat sich noch nicht gehoben. Ich habe sowas mal im Sauerland erlebt bei einer Studentenfahrt - das ist ein unvergessenes Erlebnis, die Schönheit der Morgenstimmung - und zugleich erhebend. In Eichendorffs Roman Ahnung und Gegenwart ist die Grundstimmung nicht etwa die Nacht, wie man bei einem Romantiker vermutet, sondern der Morgen. Denn der Morgen steht für den Aufbruch in eine neue Zeit. Und das ist auch in diesem Bild so: Der Wanderer ist der, der mit seinem Unendlichkeits-Blick am Morgen in eine neue Zeit schaut.


    Also falscher als Lehmann das macht kann man dieses Bild wirklich nicht interpretieren! ^^


    Schöne Grüße

    Holger

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