"Humor" in Haydns Werken ?

  • Dieser Thread ist in gewisser Weise ein Ableger eis ebenfalls heute gestartetem welcher sich mit Interpretationen der Vergangenheit und, dem was sie uns heute zu sagen haben, befasst.
    Dieser aber ist ein wenig spezieller. Immer wieder wird behauptet, Haydns Sinfonien seien "witzig" - oder so ähnlich.
    Ich kann mich nicht erinnern, diese Aussage in meiner Jugend gehört zu haben, Haydn wurde eher als "antiquert" oder "altväterlich" bezeichnet - kaum aber jemals als besonders mit Humor gesegnet.
    Ist diese Zuordnung real oder eine zeitgeistige Erscheinung ?


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Haydn war sicherlich alles andere als altväterlich, und es gibt etliche Belege für seinen Humor, der auch in einigen seiner Sinfonien, speziell den Namens-Sinfoien zum Tragen kam. Dieser Humor konnte durchaus bärbeißig sein wie z. B. in seiner Sinfonie Nr. 94 "Mit dem Paukenschlag", namentlich im 2. Satz, in dem er seinen hochherrschaftlichen Zuhörern klarmachen wollte, dass sie gefälligst in seinen Konzerte nicht einzuschlafen hatten. Noch galliger war meines Erachtens die Situation in seiner Sinfoie Nr. 45 "Abschiedssinfonie", wo im Finale eine Instrumentengruppe nach der anderen das Podium verließ, bis zum Schluss nur noch der Konzertmeister und der Dirigent (Haydn) übrig bieben. Das hatte durchaus soziale Hintergründe.
    Manchmal ist es auch nur witzig, wie z. B. das Thema im 2. Satz der Sinfonie Nr. 101 D-dur "Die Uhr". Das hat alles nichts mit "altväterlich" zu tun.
    Beethoven, aber auch Mozart, hätten sich nicht mit einem "altväterlichen" Kollegen so beschäftigt, wie sie es getan haben.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Wenn ich mir die Sinfonie Nr.90 anhöre, dann ist das Finale doch der absolute Humor mit dem "doppelten" Finalschluss.


    Hier denkt man die Sinfonie sei bereits zu Ende und alle applaudieren; 8o dann geht es aber noch einmal los. :!: Dieser Gag wurde in der Rattle-Aufnahme sehr schön eingefangen. Unnötigerweise befindet sich dann noch auf der CD die Alternativ-Version ohne Applaus (zusammengeschniitten). Ich will jedenfalls den ganzen Gag mit dem verfehlten Applaus hören.



    EMI, 2007, DDD


    Die Sinfonie Nr.90 ist eine schöne Int mit Rattle. Mit der Doppel-CD kann man gut die Lücke (Nr.88-92) zwischen den Pariser und Londoner Sinfonien schliessen.
    Ansonsten sind auch die anderen Aufnahmen ganz gute durchsichtige Aufnahmen mit Rattle, aber mir erscheint die Besetzung etwas dünn. Alternativen die ich dahingehend vorziehe finde ich (soweit vorhanden) bei Bernstein (SONY) und Harnoncourt (WARNER).

    Gruß aus Bonn, Wolfgang

  • "Haydn ist der erste klassische Meister des modernen Symphoniestils [...] er goß über diese Kunstform jene göttliche, lächelnde Heiterkeit, die seinen Werken eine unvergängliche Jugendfrische bewahrt." (Führer durch die Konzertmusik 1918)


    "Göttliche Heiterkeit" oder pastorale Idylle ist natürlich etwas anderes als "Gags". Die sind eher vereinzelt, aber es gibt sie ohne Zweifel. Ein falsches Ende wie in der Sinfonie Nr. 90, den "Paukenschlag", das furzende Fagott im langsamen Satz der Sinfonie Nr. 93.
    Viel mehr Stellen gibt es, die in allgemeinerer Weise komisch sind. So zB die Verwendung extremer Register (Fagott und Flöte), wenn sich die "Uhr"-Begleitung sozusagen selbständig macht. Oder die "Huhn"-Passagen in #83. Das Cembalo-Solo im Finale von 98. Überraschende Pausen in weniger krasser Form als in der Sinfonie Nr. 90 gibt es ziemlich häufig. Wir können davon ausgehen, dass Komponisten solche Stellen durchaus im Hinblick auf ihre Wirkung planten (vgl. den Brief Mozarts mit den Anmerkungen zum unerwartet piano beginnenden Finale seiner "Pariser Sinfonie").


    Die Abschiedssinfonie habe ich dagegen immer als ein ernstes Werk gesehen (was für die ersten drei Sätze jedenfalls zutrifft). Nicht nur die bekannten Moll-Sinfonien um 1770 zeigen einen sehr ernsten, leidenschaftlichen Stil und selbst der verbindlichere und bewusst populäre Stil der Londoner Sinfonien ist natürlich nicht durchweg heiter oder gar leicht. Zeitgenössische Rezensenten fanden sich nicht nur in der Militärsinfonie an aufeinanderprallende Heere erinnert; es gibt hier auch "heroische" Sätze (zB den Kopfsatz von 102).

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Die Streichquartette beginne ich erst zu entdecken. Auch sie scheinen wahre Fundgruben quasi romantischer Ironie zu sein - wobei die einzelnen Sets, vielfach Sechsergruppen, oft durch diesbezügliche Spezifika gekennzeichnet sind. So findet sich in einem der Sets - ich müsste nachsehen, in welchem; die Vertrautheit ist noch gering - jeweils ein auffälliger Tusch zu Beginn der Werke, dessen einzige strukturelle Funktion darin besteht, die Zuhörer darauf hinzuweisen, dass es losgeht ...


    :hello: Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • Die "Tuschs" finden sich hauptsächlich in op.71/74 (wobei 74/3 "Reiter" gleich mit dem "Hauptthema" unisono forte beginnt) und noch einmal in op.76/1. Es wird vermutet, dass ein Grund hierfür ist, dass diese Quartette für Londoner Konzerte (statt für Wiener Salons) komponiert wurden, daher die Aufmerksamkeit des Publikums sicher gestellt werden musste.


    Ziemlich witzig finde ich auch den ersten Satz von op.50/5, in dem zum einen ein winziges Motiv aus zwei Tönen aufs extremste ausgeschlachtet wird, zum anderen schon ganz am Anfang ein "Störfaktor" in Form einer kleinen Dissonanz hinzutritt, die widerborstig über den ganzen, sonst eher gemütlichen Satz immer wieder auftritt, bis sie dann irgendwann emphatisch aufgelöst wird. Ich vermute, dass solche Techniken berühmtere Fälle wie das "cis" nach dem Hauptthema in der Eroica inspiriert haben. Die große Schlüssigkeit der Musik der Wiener Klassik rührt oft daher, dass solche scheinbar nebensächlichen Details eben nicht nur kleine Gags sind, sondern tatsächlich eine Funktion im Großen Ganzen aufweisen.


    Ein "falsches Ende" gibt es schon in einem der op.33-Quartette (weiß aber gerade nicht mehr, ob es das ist, das auch als "The Joke" bezeichnet wird)

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Noch nicht erwähnt wurden die Namenssinfonien
    Nr. 55 Es-Dur "Der Schulmeister", worin man im einfachen Thema des zweiten Satzes einen Pädagogen gesehen haben will, der in seine eigene Funktion verliebt ist
    Nr. 60 C-Dur "Il distratto", in dessen erstem Satz man im bis zur völligen Stille abschwellenden Allegro und dem anschließenden plötzlichen Erwachen in einem kräftigen Abschluss den Zerstreuten entdecken mag.
    Nr. 82 C-Dur "Der Bär" dessen Name man auf ein brummendes Dudelsackthema im letzten Satz zurückführt.
    Aber auch in anderen Sinfonien gibt es sicherlich manches humorige zu entdecken.


    Liebe Grüße
    Gerhard

    Regietheater ist die Menge der Inszenierungen von Leuten, die nicht Regie führen können. (Zitat Prof. Christian Lehmann)

  • Hallo zusammen,


    aus meiner Sicht ist Haydns Humor oft sehr fein und geht weit über den Witz hinaus, der bloße Effekte nutzt.
    Damit stimme ich Johannes unumwunden zu.
    Oft sind es Details, die sich erst bei genauem, mehrmaligen Hören erschließen.
    Da gibt es Menuette, die abslolut untanzbar sind, weil sie zwar im Dreiertakt notiert sind, aber de facto in einem Vierertakt stehen.
    Harmonische Wendungen wie von Johannes beschrieben, die sich erst im Ganzen erschließen.
    Oder auch Zitate wie in den Kanons über die "Zehn Gebote", bei dem "Du sollst nicht stehlen" Haydn ein Thema Bachs benutzt.


    Ich finde immer wieder, dass Paukenschläge und Fürze (Sinfonie 93) witzig sind und den Liebhaber sofort anspringen. Aber für den Kenner gibt es viel mehr zu entdecken und der Reichtum Haydns scheint mir unermesslich.


    Dabei sei mir ein Querverweis erlaubt: aus "Papa Haydn", derart leicht geringschätzig abgetan, entspinnt sich heute eine Diskussion um Feinheiten in seinen Kompositionen.
    Telemann und Haydn sind sich dort näher als man vermuten möge- ich hoffe, auch bei Letzterem rückt irgendwann die Quantität in den Hintergrund bei der Rezeption.
    Nur weil einer "vielschreibt", heißt das nicht, er würde "schlecht schreiben".


    Herzliche Grüße, mit meinem Bekenntnis, Haydn als den mir wichtigsten Komponisten der Musikgeschichte zu schätzen.
    Mike

  • Deinen Beitrag, lieber Melante, habe ich gerne und mit Freude gelesen und ich kann jedes Wort unterschreiben. Erlaube mir aber eine Korrektur:


    Telemann und Haydn sind sich dort näher als man vermuten möge- ich hoffe, auch bei Letzterem rückt irgendwann die Quantität in den Hintergrund bei der Rezeption.
    Nur weil einer "vielschreibt", heißt das nicht, er würde "schlecht schreiben".

    Ich glaube, Du wolltest auf Telemann zielen, also hätte es oben "Ersterer" heißen müssen - und auch das würde ich sofort unterschreiben!


    :hello:

    .


    MUSIKWANDERER

  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • Man versuche nur einmal, nach dem Menuett der letzten Haydn-Sinfonie zu tanzen - und wird an mehr als nur einer Stelle "aus dem Tritt" kommen... 8-)


    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"