Richard Strauss, Vier letzte Lieder

  • Verehrter Robert,


    ich habe eben die Masur-Aufnahme mit Jessye Norman angehört; "Ruhe meine Seele" wird dort als von Franz Strauss instrumentiert ausgewiesen und hört sich im Mittelteil ein wenig nach dem Monolog des Fliegenden Holländers an. Ich bezweifle daher, daß der so präparierte Zyklus an stilistischer Geschlossenheit gewinnt. Ich verstehe natürlich die Idee dabei -


    Diese Zeiten sind gewaltig,
    bringen Herz und Hirn in Not -
    ruhe, ruhe, meine Seele,
    und vergiss, was dich bedroht!


    - aber selbst das ist doch der biografischen Situation etwa der letzten Kriegsjahre nicht ganz angemessen; wenn auch die beschworene Seelenruhe des Vergessens sehr verführerisch im Konzept zwischen Frühling und Abendrot wirkte - als resignative Kapitulation.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Lieber farinelli, nun der Tag mich müd gemacht, aber diese kurze Antwort noch. Was die Eigenleistung der Instrumentation anbelangt: also unsere deutschsprachige Haupt-Enzyklopädie, "Musik in Geschichte und Gegenwart" (MGG) ist nicht "perfekt" im buchstäblichen Sinne. Aber gewichtigere Fehler stehen meines Wissens nicht drin; wobei es stets auch auf den entsprechenden Artikel-Autor ankommt. (Der Artikel über Conrad Ansorge z.B. enthält ZU viele kleine Fehler.) Mit einem Wort: Dem Richard-Strauss-Artikel dieses ca. zwischen 1990 und 2009 gewachsenen Kompendiums vertraue ich: wenn "die" also angeben, Richard Strauss hat "Ruhe, meine Seele" instrumentiert, dann glaub ich denen mehr wie einem CD-Booklet-Text aus den mutmaßlich 1980er-Jahren. NB: Die MGG gibt tatsächlich JEDES recherchierbare Kompositionsdatum zu Straussens Liedern an!


    Zum eigentlich Inhaltlichen: Rein musikalisch scheint mir die Abfolge "Bewegter Fluss" - "Statik mit Binnendramatik" - "Langsamer, weiter Fluss mit statischen Elementen" ein charakteristisch nachvollziehbares Allmählich-Ausschwingen, ein Zur-Ruhe-Gelangen zu bieten. - Aber ich will diese spekulative Idee nicht zu hoch hängen... Ich musst's halt mal geäußert haben.

  • Hallo,


    ich beziehe mich auf Deinen Beitrag Nr. 11, lieber Holger. Ich hatte keinesfalls im Sinn (falls das so verstanden wurde, lag es wohl an meinem zu knapp gehaltenen Beitrag) einen Gegensatz zwischen der Außen- und Innenwelt darzustellen – im Gegenteil, die/der Außenweltdarstellung/-eindruck ist Voraussetzung für den (von mir so verstandenen) Innenwelteindruck – und da hat eine geglückte Vertonung den tieferen Zugang als nur der Gedichttext. Besonders nachvollziehbar dürfte dies bei der Passage des Lerchengesanges in Moll unmittelbar bei „es dunkelt schon in der Luft“ und dem dann folgenden natürlichen Dur-Lerchengesang sein (ähnlich bei den nachträumend in den Duft aufsteigenden Lerchen).



    Die sehr tiefschürfenden und äußerst ins Detail gehenden Ausführungen zur Satztechnik und Harmonik bewundere ich sehr – mir fehlt dabei aber etwas der Bezug zum Textverständnis, sowohl zu der von Strauss als auch zum Eigenen.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Lieber Zweiterbass,


    um Pardon, wenn ich mich hier ungefragt einmische. Ich hatte dich damals auch so verstanden, wie du es richtigstellst, und die Formulierung mit dem Stillwerden im Betrachter fand ich sehr treffend. Denn damit irgend ein Landschaftseindruck uns nicht bloß äußerlich, etwas oberhalb eines Achselzuckens, erreicht, muß etwas in uns vorbereitet sein, gleichschwingen oder es muß ein Mangel da sein, den die Aussicht uns erfüllt. Daß aber das Abendroterlebnis bei Eichendorff und Strauss unermeßlich tief reicht, gleichsam ins Grenzenlose, kann gar nicht bezweifelt werden. Die im Gedicht so alltäglich benannte Disposition ist die Müdigkeit, und zwar jene, die man bis in die Knochen fühlt.


    Deine in Lob gekleidete Kritik im letzten Satz kann ich gut begreifen. Heut beim Nachhausradeln dachte ich mir einen Einstiegssatz zu einer Zwischenbetrachtung aus, etwa i.S.v.: Was sagt das alles nun über die Bedeutung des Liedtextes aus, was ist darin ausgedrückt? Für mich beginnt das Dilemma schon im stilistischen Unterschied der vokalen Behandlung, vergleicht man "Frühling" mit "Im Abendrot". Das zuletzt Genannte ist sehr viel dankbarer zu beschreiben, da die musikalischen Phrasen kaum je das Silbenmaß überschreiten, also die Deklamation allenthalben gewahrt bleibt. Ganz anders als diese die Liedtradition aufgreifende Faktur scheint mir die opernhaft übersteigerte Melismatik in "Frühling" - man denke etwa an "Zweite Brautnacht, Zaubernacht" aus der "Ägyptischen Helena". Der hymnische Strauss ist eben sehr verschieden vom nüchternden Musikdramatiker Strauss mit seinem Sinn für Wort- und Tonfall.


    Die rasante Klimax, die Strauss in der letzten Strophe auf die beiden Schlußverse verwendet, entfernt sich von den Intentionen des Gedichts, das schwebend, knapp und beinah ohne Emphase daherkommt. Strauss ist hier wahrlich bigger than life, opulent und überladen - man stelle sich einmal vor, welche leise verhaltenen Töne ein Hugo Wolf für diese Strophe gefunden hätte (hätte er sich denn zu einer Vertonung herabgelassen).


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


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  • Ich sehe schon, ich werde auch das nächste Stück selber besprechen müssen.


    Passend zum Wetter, wenn schon etwas früh im Kalender, haben wir also ein Gartenidyll vor uns. "Frühling" war in Zeit und Raum weiter, auch allgemeiner gefaßt. Denn die bukolischen Elemente - Bäume, blauer Himmel, Wind, Duft, Vogelstimmen - gehören, wenn überhaupt, in einen englischen Landschaftspark, der auf gepflegte Weise die wilde Natur abbildet. Nicht der kühle März mit der Obstblüte über kahlen Feldern, wie van Gogh ihn gemalt hat, nicht der wetterwendische April - eher schon der frühe Mai mit seinem Vorsommerflair wäre das geeignete setting für Hesses Frühlingsgedicht.


    Die Intimität dieses Rencontres mit seiner zarten Lockung, dem Gefühl der Vertrautheit und dem wonnebebenden Aufleben hat selbst etwas Gartenhaftes, ein Phänomen der Nähe, wenn gleich Strauss den sachten Luftzug zu einem veritablen Zephyr aufbläst.


    Der "Spetember" wird nun ganz zum Garten- und Blumenstück, so als stünde die domestizierte Natur bis in die Metaphorik hinein allem Menschlichen näher. Ganz anthropomorph oder sympathetisch setzt das Gedicht ein:


    Der Garten trauert,


    um das im zweiten Vers quasi mit einer Beweinungsformel zu bekräftigen:


    kühl sinkt in die Blumen der Regen.


    Gleichzeitig malt dieser Vers aber auch den frisson, der im nächsten Verspaar angesprochen wird:


    Der Sommer schauert still
    seinem Ende entgegen.


    Das ist, zugegebener Maßen, nicht lyrischer Weltrang; eher schon Poesiealbenniveau. Nicht ein poetisch aufgefaßtes Naturgeschehen bannt die existenzielle Vergänglichkeit ins Gartenbild, sondern man erblickt ein Heckentheater, wo der verregnete Garten den sterbenden Sommer beweint.


    Man kann diese Armut an poetischer Binnenspannung auch Strauss´ Vertonung anmerken. Der D-Dur-Quartsextakkord, nur jeweils auf der letzten Sechzentel der unbetonten Taktteile (4/4) durch einen harmoniefremden Akkordtupfer (Es-Dur, F-Dur, e-Moll, fis-Moll) irritiert, bestimmt die ersten Takte, dann schnurrt das statische Gebilde über eine Quintolenarabeske in sich zusammen, und nach zwei mit einem Undezimensprung in die Höhe blühenden Melodiebögen der Geigen ist die Grundtonart mit den übergebundenen, quasi liegenden D-Dur-Akkorden wieder erreicht.


    Als erstes mag man konstatieren, daß sich Strauss von dem Verb "trauert" nicht hat verführen lassen. Seine Gartenelegie ist, wie die Hesses, von der heiteren Art. Triller und Arpeggien durchschwirren dieses Feengartenreich, und wenn einem die aus höchsten Höhen der ersten Violinpulte piano herabrieselnden Dreiklangskaskaden bekannt vorkommen, so erinnert man sich vielleicht des Schlußbilds der "Frau ohne Schatten" (Partiturziffer 167f). Dort symbolisierte das Niederrinnen das Auftauen des versteinerten Kaisers, war von wunderbar symbolhafter Suggestion. Hier im "September", als gleichsam vegoldeter Regen, erinnert es mehr an einen kunstvollen Zuckerguß. Und à propos - die Undezimensprünge gemahnen an ein sehr typisches Stilmittel Gustav Mahlers, wenn er das ausdrucksvolle Lagenregister einer Geigenkantilene durch eine appoggiatura aus der Tiefe unterstreicht.


    :hello:

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  • Liebe Taminos, am Ende des Fanny-Hensel-Thread hab ich schon darauf hingewiesen, dass ich nun für 10 Tage keine Beiträge liefern kann - bis dahin ist farinelli bestimmt durch mit seinen anregenden Beschreibungen. Ich habe heute "September" eingehend studiert. In krassem Missverhältnis dazu steht bei mir persönlich, was aus diesem Studium wirklich nach sprachlichem Ausdruck drängt. Wohlbemerkt, mich drängt. Bei anderen mag sich's ganz anders verhalten. Säßen wir jetzt in einer - sagen wir: Fünfergruppe um eine "September"-Partitur herum, zur Hilfe ein CD-Player und/oder ein Klavier mit im Raum, es ließe sich trefflich Straussens Metamorphosen-Technik aufzeigen, denn SO (wie er selbst ja auch ein anderes Spätwerk nannte) arbeitet er in diesem Lied. Ein paar wiedererkennbare Elemente - "Themen" wäre zuviel gesagt - werden organisch fortwährenden Wandlungen unterzogen. Das hier, nur mit Worten, zu beschreiben, wäre mühsam und ermüdend. Denn im Lied selbst ist diese kompositorische Arbeitsweise keineswegs "anstrengend" zu hören. "Man" bemerkt sie vielleicht gar nicht, und das ist auch nicht "schlimm". Ich benenne jetzt nur ein paar: A) Der statische Akkordgestus mit der charakteristischen "Zuckung". B) Die gleich zu Beginn in der Klarinette aufscheinende "bukolische" Quintole - verliert sich im letzten Viertel des Liedes. C) die emphatische Melodiegeste, ab Takt 4 zu hören, mit dem charakteristisch synkopierten WEITEN Intervallaufschwung zu Beginn, gefolgt von der absteigenden Tonleiter - dieses Element ist vielleicht sogar das ergiebigste für eine Betrachtung seiner metamorphosischen Entwicklung, wie es zwar durchaus am häufigsten mit der verminderten Undezim anhebt, dreimal aber mit der kleinen Sept, je zweimal mit der kleinen bzw. der verminderten Dezim, je einmal mit der Oktav und (Ambitus-Spitze beim Wort "Rosen") der verminderten Duodezim, um schließlich beim allerletzten Auftreten - "müd geworden"... - zusammengeschmolzen zur Kleinterz sich zu verabschieden. D) Die Floskel auf den Versbeginn "Der Sommer" - sie beansprucht bis kurz vor Ende unseres Liedes eine wesentliche Rolle.


    Über die musikalische Faktur von "September" zu sprechen, heißt, über solche unakademisch angewandte Metamorphosentechnik zu sprechen, also vom kleinen Baustein ausgehend zur fließenden Gestalt zu gelangen. Im Gegensatz hierzu wäre bei "Im Abendrot" von vorneherein von der "großen Linie", dem großen musikalischen Gedanken auszugehen. Der instrumentale Einstieg - alles andere als eine "Einleitung"! - spricht hier bereits für sich.


    Alle vier Lieder zeigen das Merkmal, dass die Gesangsstimme vollkommen "eingebettet" ist in das Orchestergeschehen. Bitte mich jetzt nicht absichtlich misszuverstehen, aber es sind vier Tondichtungen, natürlich Zeile für Zeile von den Gedichten inspiriert - vom jeweiligen Gedichtgehalt sowieso - , aber völlig vom Instrumentalgeschehen getragen. Die Sopranstimme tritt als berückendste, intensivste klangliche Erscheinung zu etwas hinzu, was als musikalische Faktur bereits zu 99% "steht". Mir fallen nur zwei Stellen auf, wo der Gesang dem Orchester wirklich eine EIGENE musikalische Struktur entgegenhält: "Beim Schlafengehen" kurz nach Beginn "die gestirnte Nacht wie ein müdes Kind em-" sowie "Im Abendrot" die berühmte Stelle "ist dies etwa". Also, es lohnt schon, sich immer wieder zu fragen: Verdoppeln hier - wie "man" annehmen möchte - immer wieder bestimmte Instrumente oder Instrumentengruppen die Gesangsstimme? Oder schmilzt sich die Gesangsstimme in betörender Weise meist in ein bereits vollkommen vorhandenes orchestrales Klang- und Liniengeflecht ein? - Wie handhaben andere Komponisten dieses Phänomen? Wenn ich ehrlich bin, ertappe ich mich dabei, dass ich dies bisher überhaupt nicht ernsthaft geschweige denn systematisch untersucht habe. Bin halt mehr im Klavierlied zu Hause, von den Kenntnissen her. Ich meine mich aber zu erinnern, dass Mahler den Gesang im zweiten und sechsten Lied des "Lied von der Erde" zum Teil eigenstruktureller führt. Zemlinsky, Schönberg und Pfitzner müsste man daraufhin einmal gezielt studieren. - EIN Beispiel freilich fällt mir ein - jetzt werden viele den Kopf schütteln, wegen "Randrepertoire", aber - Entschuldigung, bei dem betreffenden Komponisten ist das ein absolutes Hauptwerk und Highlight! - , nämlich: Jean Sibelius "Luonnotar", eine Tondichtung für Sopran und Orchester op. 70, 1913 komponiert. DA ist das oben umkreiste Phänomen diametral entgegengesetzt (also nicht "besser" oder "schlechter") verwirklicht: so unverzichtbar das grundierende, begleitende, rahmende, kommentierende Orchester, so TRÄGT doch der Gesang das Geschehen! ""Leider"" halt auf Finnisch..., aus dem National-Epos "Kalevala" - aber das Prinzip hört man auch, wenn man kein Wort versteht.


    Ich sagte zu Beginn, "September" löse keine "Beschreibungslust" in mir aus. Durch die Länge dieses Beitrags widerspreche ich mir nur scheinbar. Ein Lied, über das ich z.B. gerne schreibe, ist das weltberühmte "Morgen!", einfach deshalb, weil sich da wirklich in wenigen Worten Wesentliches beschreiben lässt, ohne dass es diesem genialen Wurf etwas von seinem Zauber nimmt. Ich philosophiere NICHT über den Text, bis auf weige Stellen auch nicht über das Verhältnis Lyrik-Musik, aber ich will herausheben, was Strauss, musikalisch gesehen eigentlich getan hat in diesem op. 27 Nr. 4 aus dem Hochzeitsjahr 1894.


    Strauss schreibt ein 15taktiges Klavierstück von atemraubender Schönheit, legt nun den 15. Takt so an, dass er dieses Klavierstück "wortwörtlich" wiederholen kann, nur im wiederholten 15. (also real dem 30.) Takt füllt er die Struktur noch etwas auf. Aber wir reden doch von einem Lied. Was treibt der Gesang? - Im 14. Takt, als kaum mehr jemand damit rechnet (WÄRE das Lied noch unbekannt...), setzt der Gesang als Kontrapunkt zum Klavier ein, eben nicht als erste, sondern als zweite Stimme. Und für die Klavierstück-Wiederholung verwirklicht der Gesang zweierlei: einerseits trägt er quasi rezitativisch deklamierend den Text, andererseits bleibt er - nicht "akademisch", aber immer eigenständig - Kontrapunkt zum Klavierstück, und dort, wo der Text von "einen" spricht, genau dort verschmilzt er doch fast mit der Klaviermelodie. Die Wirkung ist - jede(r) von uns hat sie im Ohr... Aber wie verblüffend sind die kompositorischen Mittel, und die lassen sich ganz klar, ohne "Drumrum" beschreiben! - Ab Takt 31 weiter im Geniestreich: Das Klavier hat "genug gesagt", legt "nur" noch ein paar Traumakkorde unters Gesangsrezitativ, das von innigster Stille, von schweigendem Einssein kündet. Dann: Das Klavierstück beginnt ein drittes Mal, hält inne, fährt fort, verweilt, entschwebt.

  • Das Lied hat keine Vorzeichen; es beginnt in c-Moll.


    Kleine Zwischenfrage eines weitgehend Unkundigen: müsste es ohne Vorzeichen nicht a-Moll sein (oder C-Dur)?


    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Kleine Zwischenfrage eines weitgehend Unkundigen: müsste es ohne Vorzeichen nicht a-Moll sein (oder C-Dur)?


    Das Gleiche wollte ich auch fragen. Allerdings, man kann ja auch die Noten direkt im Takt bezeichnen. Könnte so ein Fall sein.

  • Leider habe ich auf die Noten für den "Frühling" keinen Zugriff - das Lied beginnt aber in c-Moll und endet in C-Dur.

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  • Meine Freunde,


    tatsächlich habe ich hier wiederum einen Fehler verewigt, nämlich (Takt 3 von September) aus einer Sextolen - eine Quintolenfigur gemacht. Strauss verzeihe mir.


    auf des gestrengen Theophilos´ Nachfrage (Gott liebt uns, wenn er uns prüft): Ein Lied ohne Vorzeichen steht oder ist notiert in a-Moll bzw. C-Dur. Es beginnt aber oder setzt ein in c-Moll, mit seinem ersten Akkord nämlich (jedenfalls habe ich das so gemeint). Einem Musikwissenschaftler werden sich ohnehin die Haare sträuben.


    Lieber Zweiterbass: tatsächlich endet das Stück in A-Dur. Man könnte die Vorzeichenlosigkeit bereits als Lockerungsmaßnahme ansehen, als ein prinzipielles Offenlassen tonartlicher Strukturen zugunsten großer modulatorischer Freiheiten. C- Dur und a-Moll spielen, wie beschrieben, dennoch eine gewisse Rolle.


    :hello:

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  • Ganz unbeeindruckt bleibt die Komposition durch das "trauert" freilich nicht: Hier wendet sich die Melodie, mit einer Sequenz des Quartsprungs (d-a bzw. h-fis) in die Paralleltonart h-Moll.


    Wer will, kann sich die Lieder auf youtube mit Waltraud Meier und Joseph Breinl in der (nicht Straussischen) Klavier-Auszugs-Version anhören. Das hat natürlich mit der Orchesterfassung kaum mehr etwas zu tun, verdeutlicht aber die musikalischen Zusammenhänge erheblich.


    Um off topic ein wenig persönlich zu werden, will ich erwähnen, daß dieses Lied, "September" meine erste Begegnung mit den Vier letzten Liedern überhaupt war. Ich hatte als junger Mensch bereits früh einen eigenen Fernseher und zappte eines Sonntagmorgens einmal in eine Konzertübertragung oder -aufzeichnung, war es aus Wien? dirigierte Karajan oder Bernstein? - jedenfalls sang Gundula Janowitz, und es begann gerade das zweite Stück. Ich litt damals unter einer sehr flüchtigen Aufmerksamkeit und habe eigentlich bloß die erste Gedichtzeile richtig verstanden, mir aber daraufhin bereits ein recht zuverlässiges Bild von dem gemacht, worum es hier ging. "Der Garten trauert" war so etwas wie eine magische Formel für Jahrhundertwendeschwermut, fürs Fin de siècle, so etwas wie das Wesendoncksche "Im Treibhaus", von Rilke gedichtet, usw.


    Dieser Eindruck hatte sich jedenfalls bei mir festgesetzt, und dabei blieb es, bis mir Jahre später ein guter Freund und Plattensammler die Ackermanneinspielung von "Frühling" vorspielte.


    Grob besehen, ist "September" in der Struktur weit unter dem Komplexitätsniveau von "Frühling". Dennoch gibt es auch hier eine Verwebung von Gesangslinie und Orchestersatz mit Ungleichzeitigkeiten. Der zweite Vers:


    Kühl sinkt in die Blumen der Regen.


    wird aus der diatonisch niedersinkenden Phrase der Geigen, diesmal mit einem Nonen- bzw. einem Undezimensprung, über drei Takte entwickelt. Die Vokallinie entspricht zunächst der Transposition der Phrase ins hohe Register der Celli und liegt, zu Beginn der Phrase auf "Blumen", als Gegenstimme tief unter den aufleuchtenden Geigen, um sich, zu der eine Quint höher liegenden Sequenz der Geigenweise im Folgetakt, eine Oktaver tiefer wiederum parallel mit der diatonischen Melodie zu bewegen.


    Die gesungenen Töne a-b-gis-c-b-a-g-f ("Blumen") sind schwer zu singen und bilden auch keine wirklich schöne Phrase aus. Der Zauber der seqeunziellen Melodiebögen der Geigen geht dadaurch irgendwie verloren (was man immerhin textlich rechtfertigen kann). Die Harmonien berühern g-Moll bzw. B-Dur, dann A 7-[9verm.] mit den dissonierenden Durchgangsnoten gis und c in Takt 9 (um es sehr schematisch zu fassen). "Regen" mündet dann in d-Moll, mit Ausgriffen nach es-Moll und Des-Dur.


    :hello:

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  • Der vorige Beitrag ist leider besonders unanschaulich geraten. Die ersten beiden Verse bilden für die Singstimme eine einzige abwärts gleitende Linie, vom zweigestrichenen D in D-Dur zum eingestrichenen D in d-Moll. Vokallinie und thematische Gesangsbögen im Orchester sind so kombiniert, das alles melodisch Leuchtende im Fall der Stimme nicht recht zum Tragen kommt, sondern sie in einem verengten Intervallraum nach unten zieht (statt einem Undezimensprung macht sie nur einen verminderten Quartschritt nach oben; unter dem weiträumigen, eine Sexte umspannenden Violinenmotiv macht sie bloß einen langgezogenen Halbtonschritt aufwärts usw.)


    Der Klang der übergebundenen Quartsextakkorde (Viertel- + punktierte Achtelnote) mit den harmonischen Farbtupfern jeweils auf das letzte Sechzehntel der schlechten Taktteile hat etwas leicht Exotisches. Der schwebende Rhythmus, das Unorganische und Statische sind sehr verschieden von der naturalistischen Dynamik des ersten Liedes, das in verdichteter Form zahllose Assoziationen streifte, während "September" mit weichem Pinsel scheinbar bloß eine einzige auskoloriert.


    :hello:

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  • Lieber farinelli,


    mein Beitrag Nr. 39 v. 24.08. bezog sich auf Deinen Beitrag Nr. 21 v. 19.08. - also auf den "Frühling".


    Ich komme nun mit Deinen Beiträgen Nr. 40, 41-42 nicht ganz klar - sprechen wir vom selben Lied?


    Bevor diese (Frage) Unklarheit für mich nicht beseitigt ist, habe in nun nicht überprüft ob der Frühling nun in C-Dur (wie ich meine) oder in A-Dur (wie Du schreibst) endet.


    Ich bitte höflich um Klärung.


    Viele Grüße
    zweiterbass

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  • Lieber Zweiterbass,


    da kann man wirklich durcheinanderkommen. Mein Posting 40 bezog sich auf "Frühling", 42 auf "September". "Frühling" endet in A-Dur.


    :hello:

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  • Ja, C-Dur war mein Fehler.


    Ich meine, die besonders anfangs ungewöhnlich häufigen Tonart- und -geschlechtswechsel sollen /könnten wohl das geheimnisvolle, anfangs unsichtbare/verborgene Wirken des Frühling darstellen, ohne in Lautmalerei zu verfallen.


    Viele Grüße
    zweiterbass

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  • Lieber Zweiterbass,


    das sehe ich ganz genauso und hat Teil an dem, was ich als "Verdichtung" bezeichnete.


    In "September" steht vor dem nächsten Vers (Abschnitt B) ein eintaktiges Zwischenspiel, aus den harmoniefremden Akkordtupfern entwickelt, in fließenden Achteln von d-Moll über D 7 nach G-Dur führend. Die Melodie ist in Sexten geführt und berührt zwischendurch auch F-Dur und Es-Dur - die Chromatik, die Quartsextparallelen klingen wiederum exotisch und erinnern zumindest mich an die Stelle aus "Von der Jugend" im "Lied von der Erde", wo es "Auf des kleinen Teiches stiller, stiller Wasserfläche", quasi als Angelpunkt der musikalischen Bewegung, ebenfalls um Vergänglichkeit geht. - Die hohen Holzbläserakkorde bei der Überreichung der silbernen Rose im "Rosenkavalier" bilden einen weiteren Bezugspunkt dieser chromatischen Parallelverschiebungen.


    Der Sommer schauert still
    seinem Ende entgegen


    G-Dur, Es-Dur, G-Dur, g-Moll (bzw. C 7[-9]), B-Dur 4-6, F 7 und B-Dur bilden den für Strauss auffallend konventionellen harmonischen Rahmen. Der koloristische Wechsel zwischen G-Dur und Es-Dur im ersten Vers malt das Erschauern, indem die Singstimme, in einer angedeuten Trillerkoloratur, von h nach b sinkt. Das friedliche Kadenzieren nach B-Dur läßt einmal mehr die Bogenphrase der Violinen erklingen, um auch den Reimbezug zwischen "Regen" und dem "Ende [entgegen]" auszukomponieren.


    Strauss, am Ende seines Lebens, mag diese Vergänglichkeitspoesie anders berührt haben als mich - "dem Ende entgegen" ist ein abgedroschener Euphemismus, der in einem Gedicht von Rang nichts zu suchen hat; das Verb "schauern" aber wirkt in diesem Zusammenhang deplaziert und grotesk. - Rilke ("In einem fremden Park", "Vor dem Sommerregen", "Die Sonnenuhr") hätte subtilere Texte zur Gartenvanitas geboten als dieses vordergründige Stück aus der Gartenlaube.


    Ein weiteres eintaktiges Zwischenspiel moduliert von B-Dur über es-Moll und Des 7 nach Ges-Dur.


    :hello:

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  • Hallo,


    bei textgebundener sakraler Musik geht mein Zugang meist über die Musik (des Textes wegen, den ich versuche auszublenden); bei Liedern geht mein Zugang zur Musik meist über den Text – so z. B. bei „Im Abendrot“ (ein eindringliches Gedicht). Aber „Frühling“ geht nicht über den Text und „September“ noch weniger. Die September-Strophen 1 + 2 sind für mich Naturschilderungen, mit dafür teilweise fragwürdigen Adjektiven und Verben. Die 3. Strophe geht „ohne Vorwarnung“, übergangslos und m. E. ohne Bezug zu den Strophen 1 + 2 in eine andere (?) Szenerie über.


    Strauss, am Ende seines Lebens, mag diese Vergänglichkeitspoesie anders berührt haben als mich - "dem Ende entgegen" ist ein abgedroschener Euphemismus, der in einem Gedicht von Rang nichts zu suchen hat;

    Ich empfinde das leicht anders als Du, lieber farinelli. Im Hesse-Text (der mir vorliegt) steht „still seinem Ende entgegen“; Du schreibst s. o. - Wenn aber der „Sommer seinem Ende entgegen schauert“, so ist das sein Ende für „dieses Jahr“, was sich für den Sommer jedes Jahr wiederholt - wenn ein Mensch „dem Ende entgegen sieht“, so ist das (Religion außer Betracht) ein unwiederholbarer Vorgang.


    Nachdem mir auch hier keine Noten vorliegen, habe ich nur mein Gehör und stelle für mich fest: Text und Musik liegen in verschiedenen Welten – die im Frühling als angenehm empfunden fehlende Tonmalerei , hätte an manchen Stellen im Herbst hörbar gemacht werden können.


    Viele Grüße
    zweiterbass

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  • Lieber Zweiterbass,


    schön, daß du Hesse etwas in Schutz nimmst; vielleicht bin ich ja viel zu hart mit ihm. Und natürlich berührst du einen wichtigen Punkt, nämlich die Spannung von reversibel und irreversibel, die ebenso zwischen den Jahreszeiten und den durch sie symbolisierten Lebensphasen wie zwischen dem naiven Einschlafvorgang und dem letzten Schließen der Augen waltet. Ein Fragezeichen aber setze ich hinter deine Auffassung, "der" Sommer gehe bloß jahreszyklisch zu Ende, sei gleichsam ein zeitloses Abstraktum. Wenn man älter wird, sucht man doch immer nach den Sommern der Kindheit, und die sind auch unwiederbringlich dahin.


    :hello:

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  • Strauss, am Ende seines Lebens, mag diese Vergänglichkeitspoesie anders berührt haben als mich - "dem Ende entgegen" ist ein abgedroschener Euphemismus, der in einem Gedicht von Rang nichts zu suchen hat; das Verb "schauern" aber wirkt in diesem Zusammenhang deplaziert und grotesk. - Rilke ("In einem fremden Park", "Vor dem Sommerregen", "Die Sonnenuhr") hätte subtilere Texte zur Gartenvanitas geboten als dieses vordergründige Stück aus der Gartenlaube.


    Das finde ich auch. Auch Gottfried Benn brauchte sich über harte Konkurrenz von dieser Seite keine Sorgen zu machen.


    Generell ist ja Hesse so etwas wie ein Goethe-Epigone.

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  • Debussy äußerte mal dem Sinne nach, die Komponisten sollten wirklich große Lyrik in Ruhe lassen und lieber zweitklassige Vorlagen vertonen, weil die Musik sonst nichts mehr zu sagen hätte (sie könnte dann nur die dichterische Aussage verdoppeln, an deren überhohes Niveau sie dann doch nicht heranreichte). Insofern ist es kein Einand gegen die Strauß-Lieder finde ich, dass Hesses Lyrik vielleicht nicht die allergrößte ist. Im Gegenteil. Die Musik könnte die Wortdichtung hier adeln - erst zu richtigem Glanz verhelfen. :)


    Schöne Grüße
    Holger

  • Debussy äußerte mal dem Sinne nach, die Komponisten sollten wirklich große Lyrik in Ruhe lassen und lieber zweitklassige Vorlagen vertonen, weil die Musik sonst nichts mehr zu sagen hätte (sie könnte dann nur die dichterische Aussage verdoppeln, an deren überhohes Niveau sie dann doch nicht heranreichte).


    Das klingt plausibel, wenn man von dem letzten Nebensatz absieht.
    Wieso aber Musik als Kunstform einen geringeren Stellenwert haben sollte als Dichtung, leuchtet mir nicht ein.

  • Prima le parole, dopo la musica -


    das ist, werte Mitstreiter, ein weites und verlockendes Feld für ausschweifende Zwischenbetrachtungen. Ich möchte dennoch bei "September" bleiben.


    Golden tropft Blatt um Blatt
    nieder vom hohen Akazienbaum


    Die Harmonien wechseln nun taktweise, wie eine Hintergrundbeleuchtung: Ges-Dur, Ces-Dur, Ges-Dur; A-Dur, der Tristanakkord dis-cis-fisis-ais, gis-Moll. Diese eher flächige Grundierung wird überlagert von einer dichten Motivstruktur, die die rollende Achtelfigur, die stilisierten Sechzehntel-Triller sowie die aus der Einleitung vertraute Liegenote mit dem angehängten Sechzehntel-Sekundsprung verwebt, letztere abwechselnd in Diskant und Baß. Hinzu kommen, zunächst in den Flöten, dann kombiniert mit den Violinen, Kaskaden niederrieselnder Arpeggien (in Quintolenschnörkeln, Achtel-Triolen und Achteln).


    Die Durseligkeit dieser Klänge hängt mit dem im Gedicht vorgestellten Szeneriewechsel zusammen - nicht mehr der kühle Regenschauer, sondern die von der Sonne vergoldeten Federblättchen der Robinie an einem Septembernachmittag, wie sie im leichten Luftzug herniederschaukeln, verleihen der Musik ihre duftige Heiterkeit. Das musikalische Gewebe hat etwas aus der Tiefe sich Anbahnendes, sich Vorbereitendes, das fast nach Frühlingsrauschen klingt. Über dem melancholischen gis-Moll-"Akazienbaum" erklingt der diatonische Melodiebogen (nach einem Oktavsprung) in der Klarinette. Die Singstimme zeigt sich von dem fluktuierenden Orchestergeschehen unberührt; sie verläuft in ruhevollen Notenwerten.


    Ein zweitaktige, drängendes Zwischenspiel, erweitert nach dem Modell des eintaktigen am Ende der ersten Strophe, legt das frohlockende Eingangsmotiv jetzt auf den Liegeakkord D 7 (mit Sechzehntel-Tupfern in Es-Dur und f-Moll) und kadenziert, immer noch aus D 7, nach G-Dur.


    :hello:

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  • Sommer lächelt erstaunt und matt


    G-Dur, C-Dur (nach einem Vorhalt fis-e), a-Moll, c-Moll und (nach einem Vorhalt g-f) d-Moll. Besonder der erste, süßliche Vorhalt, der den Leitton der Dominante in die Durterz der Subdominate münden läßt, erinnert an die Verhältnisse in "Frühling" bei "von Licht übergossen".


    Nach all dem Drängen und Weben verleiht das G-Dur den Orhesterfrben vorübergehnd Glanz, der sich im Forlauf nach Moll eintrübt. Die stockende Viertelpause zwischen e-c ("erstaunt") und es- c ("und matt") ist ebenso einfühlsam gestaltet wie die Sechzehntel-Trillerfigur für das Lächeln des Sommers.


    in den sterbenden Gartentraum.


    Wie gesagt, Gartenlaube. fis-Moll, Cis 7-9verm., (Melisma "sterbenden", vokal intervallreduziert, zu der diatonischen Bogenphrase, jetzt, mit einem Dezimensprung, in der Oboe); Fis-Dur (als übergebundene Liegefigur, mit Akkordtuperfn in Cis 7-9verm.) und Wendungen nach A-Dur (Tatk 34) und (über den verminderten Septakkord ais-e-g-cis Takt 35) nach E-Dur ("-traum"); wiederum das zweitaktige Einleitungsmotiv; Akkordausreißer nach H 7-9 und G-dur). Als Überleitung folgt, wie eine Reprise der Anfangstakte des Liedes, das Zurückschnurren des E-Dur-Quartsextakkords über die Sextolenarabeske und die Bogenphrase der Violinen mit dem Undezimensprung (eis-a²).


    Anders als in der ersten Strophe mündet die im Gesang gleichsam erstickte Oboenphrase nicht in trübem Moll (d-Moll bei "Regen"), sondern in der reprisenhaft wiederholten frohlockenden Eröffnungsfigur, und zwar auf die für den Liedzyklus überaus relevante Metapher "Traum" (so abgedroschen sie, im Gedicht selbst, erscheinen mag).


    Immerhin läßt sich sagen, daß Strauss hier sehr ökonomisch mit dem motivischen Material verfährt.


    :hello:

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    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Das klingt plausibel, wenn man von dem letzten Nebensatz absieht.
    Wieso aber Musik als Kunstform einen geringeren Stellenwert haben sollte als Dichtung, leuchtet mir nicht ein.


    Eine ähnliche Äußerung gibt es auch von Schönberg, wenn ich es richtig abgespeichert habe (da muß ich gleich mal nachschauen....) :) Hintergrund ist die Abkehr von der rhetorischen Norm der Liedvertonung, die sich mit der Romantik vollzieht. Nach klassischem Verständnis muß sich die Musik dem Wort unterordnen, dient der Wort- und Sinnverdeutlichung durch Affektverstärkung. (Nach der auf Platon zurückgehenden Definition der Musik als Melos, Gesang, ist die Sprache der eigentliche Sinngeber der Musik und die Musik hat insofern immer eine "untergeordneten" Rang. Reine Instrumentalmusik wird von daher sogar der Sinnlosigkeit verdächtigt, bloßes Geräusch zu sein.) In der Romantik empfindet man das als Tautologie - warum dasselbe noch einmal sagen? Also soll die Musik gerade nicht das Gesagte, sondern das Ungesagte vertonen, das, was sich in Worten gar nicht ausdrücken läßt. Wenn aber die "Hoch"-Dichtung den Sinn schon so tief ausgeschöpft hat, dass nichts bzw. kaum etwas Ungesagtes mehr übrig bleibt, dann entsteht weiderum das Problem der Sinnverdopplung in der Vertonung. :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Besonders der erste, süßliche Vorhalt, der den Leitton der Dominante in die Durterz der Subdominate münden läßt


    Ich muß mich schon wieder für eine Ungereimtheit entschuldigen: gemeint ist die Durterz der Dominante (das ist, von der Tonika aus, der Leitton) als Vorhalt zur Durterz der Subdominante. Jeder kennt das, aus dem Tristan-Vorspiel (Takt 17) oder dem Hauptthema aus "Gone with the Wind".


    Strukturell ergeben sich in den beiden Mittelstrophen von "Frühling" bzw. "September" engere Bezüge: als da wären der blendende Lichteffekt mit seinem matten Reflex zum Herbstbeginn (wobei der Vorhalt fis-e nach C-Dur schon im Vers "nun liegst du erschlossen" mittelbar vorhanden war, in der Melodiephrase e-fis a-g; zuerst Abschnitt C). Dem poetisch gerade noch akzeptablen "[wie ein] Wunder" in "Frühling" entspricht der "[sterbende] Gartentraum", sprachlich eher ein Mißgriff, als zentrales Resumée. Man kann sogar die Phrase auf "Wunder", die von H-Dur nach Cis 7 ("[vor] mir") moduliert, zum Fis-Dur bei "Gartentraum" in Beziehung setzen. Die vokale Klimax dieses Frühlingswunders wiederholt sich allerdings in "September" nicht: Dennoch, die ausgreifende Phrase im ersten Lied


    "[Wun-]der vor mir"


    schloß auf der Tonfolge eis-fis-d-cis (zwei kleine Sekundschritte umrahmen eine fallende große Terz), und die findet sich nicht nur ansatzweise bei der chromatischen Phrase "[du]lockst mich zart", sondern auch, in "September", im ersten Vers der Schlußsstrophe, einen Halbton nach oben transponiert:


    "[bei] den Rosen bleibt"


    auf die Töne f-fis-g-es-d. Gerade die Rosen kondensieren das erblühende Wunder des Frühlings als letztes Residuum.


    Solche Bemerkungen mögen dem einen oder anderen überspitzt scheinen; sie bilden aber Argumente für eine positive Aussage zum zyklischen Charakter der Vier letzten Lieder.


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  • Lange noch bei den Rosen
    bleibt er stehn


    Mitten in diese "Reprise" der Einleitungstakte, beim zweiten Undezimensprung zu der Bogenphrase in den Geigen, fällt die Singstimme mit einer ruhevollen an- und wieder absteigenden Gegenmelodie ein. Die Harmoniefolge (auf die einzelnen Takte bezogen) berührt E-Dur, B 7, Es-Dur, B 7, Es-Dur, mit einer in Sexten geführten, chromatischen Vorhaltsweise, zunächst in den Geigen und Celli, im unmittelbar anschließenden zweitaktigen (B 7, Es-Dur) Zwischenspiel im voller Orchestrierung und strahlender Höhe.


    Beim Einsatz der Singstimme und hier, zu Beginn des Zwischenspiels, wird ohne weiteres crsecendo oder decrescendo ein forte angezielt - abgesehen von einem mf beim Schauern des Sommers bewegte sich das Lied bloß zwischen p und pp; wir haben also den dynamischen Höhepunkt erreicht. Die in sich kreisende Harmonik, der Sextenglanz mit den chromatischen Vorhaltsbildungen; die mit den Sekund-Sechzehnteln anrollende und auf den sanglichen Bogen d-es-as-g auslaufende Bewegung suggerieren hier schon etwas wie herbstlichen Glanz voll Wehmut.


    Eine Sequenz dieser Passage, nach A 7 und D-Dur transponiert, bildet den Untergrund des Folgeverses:


    sehnt sich nach Ruh


    mit der auffälligen Tonfolge cis-h-g-d, also einem Septimenfall nach unten.


    Mit "Ruh" verlangsamt sich auch die Bewegung im Orchester (Abschnitt F). Ein auf A 7-9 hinauslaufendes e-Moll zu "langsam tut er die" klingt wie ein letztes mattes Echo der prunkvollen Herbstfigur. "müd gewordnen" ist ein von Triolen umspieltes D-Dur-6-Arpeggio abwärts; "Augen" eine Variante der langgezogenen Phrase zu "lange noch bei den Rosen", über die sich ein letztes Mal die Undezimenphrase hinzieht. Die Harmoniefolge h-Moll, H 7, e-Moll, A 7, D-Dur bietet nichts Überraschendes. In einem längeren, zarten Orchesternachspiel klingen die Idiome des Lieds, zumal das frohlockende Eingangsmotiv mit den angebundenen hüpfenden Sechzehnteln in der Tiefe aus. Gleich nach "Ruh" erklingt auch ein letztes Mal der Tristan-Vorhalt cis-h in G-Dur.


    Der zur Ruhe kommende Ausklang des Stücks entbehrt, bei aller Konventionalität der Mittel, durchaus nicht der Poesie.


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  • Nicht nach "Ruh", sondern nach "Augen zu" erklingt der Tristan-Vorhalt cis-h (im Horn) - um Pardon. Auch das eigentlich unübersehbare crescendo im Zwischenspiel vor der letzten Strophe, nach "Gartentraum", habe ich offenbar übersehen.


    Hesses Gedicht "September" ist leicht süßlich, am Ende mit einer prononciert infantilen Note ("tut er die [...] Augen zu"). Dieses regressive Gehaben bleibt vordergründig ohne Beziehung zum sentimentalen Rest des Gedichts, dem personalisierten, schauernden und lächelnden Sommer in seinem verregneten Garten. Aber Strauss vertont das Gedicht durchaus in einer verstellt-naiven Attitüde, als habe er Mahlers Ausspruch zu seiner IV. Sinfonie im Ohr:


    Im letzten Satz erklärt das Kind, wie alles gemeint sei.


    Erst durch das kompositorische Netz werden die äußerlich formverwandten Gedichte "Frühling" und "September", ungeachtet ihrer völlig verschiedenen lyrischen Haltung und Rollenhaftigkeit, in ein Kontinuum der Affinitäten überführt. Die emphatische "Gegenwart" im luziden Frühlingserlebnis steht dem sanften Entschlummern des Spätsommers zu Beginn des Herbstes entgegen. Und so wie die "selige Gegenwart" in "Frühling" aus (winterlichen) "Grüften" auferstand, so durchzieht auch das Septembergedicht eine morbide Sterbemetaphorik, die das kindhafte "Zutun" der Augen zuletzt in ein zweideutiges Licht rückt.


    Gerade aber an dieser Kindhaftigkeit des kreatürlichen Schlafs entzündet sich die Imaginationswelt des nächsten, von Strauss ausgewählten Gedichts "Beim Schlafengehen". Es sind also weniger die Gedichte selbst, sondern zuvörderst ihre Zusammenstellung, was ihnen im Zyklus Bedeutung verleiht.


    Als kleine Anmerkung: auch das ausgedehnte Melisma auf "Augen" wird von manchen Sängerinnen (z.B. Lucia Popp in der hervorragenden Tennstedt-Aufnahme) durch eine Textkonjektur mit einem zweiten "müd gewordnen" unterlegt, ehe erst ganz am Schluß, auf der liegenden Dominante A, "Augen" gesungen wird.


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  • Strauss´ Kompositionstechnik durchschweift auf kurzem Raum verschiedenste Tonarten; dennoch mag man auch tonartliche Bezüge zwischen den Liedern feststellen, und zwar gerade wegen der scheinbaren Beliebigkeit im modulatorischen Ablauf.


    Robert hatte ja treffend A-Dur (im ersten Lied) als "Frühlingstonart" ausgewiesen; und so nimmt es fast Wunder, wenn vom "hohen Akazienbaum" ausnahmsweise in lichtem A-Dur gesungen wird. Auch die Lerchen im "Abendrot" steigen in A-Dur in die Höhe. Mit einer Wendung von Cis 7 ("Duft") nach B 7 und Es-Dur wird dort die Distanznahme des Verses "Tritt her und lass sie schwirren" symbolisiert; und ist es Zufall, daß die Chromatik von "Lange noch bei den Rosen bleibt er stehn" sich - über ein angedeutetes Cis 7 - nach B 7 und Es-Dur wendet, der Tonart von "Im Abendrot"? Oder daß das D-Dur als Tonart von "September", bekräftigt etwa in der Kadenz A 7 - D-Dur zu "sehnt sich nach Ruh" eben das Gefälle der Jahreszeiten, Systole und Diastole mit beschreibt? - In "September" erscheint A-Dur nur noch an einer weiteren Stelle - als Ausweichakkord im Fis-Dur-"Gartentraum". - Wem das alles seltsam vorkommt, der wundere sich nicht, daß unser nächstes Stück, "Beim Schlafengehen", erst in As-Dur (oder f-Moll?) und später in Des-Dur notiert ist und so auch schließt.


    Auch auf motivisch-thematischer Ebene lassen sich Bezüge zwischen den Liedern herstellen. Der strahlende Quartsextakkord, mit dem (wenn man so will) "Im Abendrot" sein Sonnenuntergangstableau eröffnet, findet sich, verengt, ausgedünnt und unbeständig, zu Beginn von "September", dessen doppelt punktierte Viertel mit hüpfender Sechzehntel-Sekunde in der punktierten Diatonik der Sonnenuntergangsweise ebenso vorgebildet sind wie die angebundenen Sechzehntel-"Triller" jeweils bei "Sommer". Mit seinen audrucksvollen Sextenphrasen nimmt "Im Abendrot" zugleich Bezug auf "Frühling", mit der fallenden Diatonik auf "September".


    :hello:

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