Händel, Georg Friedrich: Die Oratorien

  • Guten Tag


    Zitat

    Original von Christoph_Glaus


    Einziges Manko bei Händel und vieler seiner barocken Zeitgenossen, weil sie nicht wissen konnten, dass es einmal eine digitalisierte Welt gibt, in der alle Werke untersucht und verglichen werden können, haben sie der Einfachheit wegen mehrere Nummern innerhalb ihrer Werke ausgetauscht.


    Händel hat in seinen Oratorien -und in vielen anderen seiner Werke- nicht nur eingenen musikalische Einfälle wiederverwendet.
    Er hat sich auch jede Menge musikalischer Entlehnungen anderer Komponisten bedient.
    Eininge Fremdvorlagen aus Händels englichen Oratorien:


    Francesco Antonio Urio, „Te Deum“:
    Saul, Israel in Egypt


    Alessandro Stradella, Serenada „quel prodigo“:
    Israel in Egypt, Joseph and his Brethren


    Dionigi Erba, „Magnificat“:
    Israel in Egypt, Susanna


    Nikolaus Adam Strungk, Capriccio “Ich dank dir schon”:
    Israel in Egypt


    Johann Kasper Kerll, Canconna aus „Modulatio organica super“:
    Israel in Egypt


    Friedrich Wilhelm Zachow, Kantate “Triumph, Victoria“:
    Israel in Egypt


    Giovanni Porta, Oper „Numitore“:
    Messiah, Samson, Solomon


    Georg Philipp Telemann, „Musique de table“ u. “Harmonischer Gottesdienst":
    Samson, Hercules, Belshazzar, Occasional Oratorio


    Gottlieb Muffat, “Componimenti musicali”:
    Samson, Judas Maccabeus, Joshua,
    Solomon, Theodora


    Reinhold Keiser, Oper “Claudius”:
    Samson


    Giovanni Legrenzi, Motette “Intret in conspecto”:
    Samson


    Emanuel d`Astrorga, “Stabat Mater”:
    Samson


    Giovanni Carissimi, Oratorium “Jephte”:
    Samson


    Johann Krieger, Lied aus “Neue Musicalische Ergetzlichkeit”:
    Occasional oratorio


    John Blow, „Cäcilienode“:
    Susanna


    Agostini Steffani, Motette „Qui diliget mariam”
    Solomom


    Giovanni Carlo Maria Clari, “Duetto e terzetti”:
    Theodora


    Franz Johann Habermann, Messe “Philomena pia”:
    Jephta




    Das fiel im vordigitalen Zeitalter aber auch schon Händels Zeitgenossen auf; speziell auf Entlehnungen von Reinhold Keiser gemünzt,
    schrieb Johann Adolph Scheibe 1739 in seiner Zeitschrift "Critischer Musicus":


    "Und wer weis nicht, daß sich ein gewisser großer Componist, der sich in einem benachbarten großen Reiche aufhält, seinen Vaterlande aber,
    seiner wahren Verdienste wegen, keine gemeine Ehre macht,
    sehr oft der Gedanken und Erfindungen unseres Keisers zu bedienen gewußt hat."


    In Matthesons "Ehrenpforte"
    wurde dieses Gedicht abgedruckt:


    "Beim Wunderwerk der Emigranten,
    Durch Keisers Tonkunst vorgestellt,
    Gabs Leute, die darin erkannten
    Ein doppelt Wunder dieser Welt !"


    Gruß :hello:


    aus der Kurpfalz


    Bernhard

  • Ja und? Wer würde diese Penner heute ohne Händel noch kennen? Sie sollten ihm dankbar sein.


    :hahahaha:


    Betreffend Händels 'Theodora' ist zu lesen, daß das Werk beim Publikum nicht so sonderlich gut ankam und nach bereits zwei Wiederholungen ad acta gelegt wurde, was sehr schade ist. Mich wundert dies ehrlich gesagt nicht: Die Musik ist natürlich hinreißend - aber ich hätte vermutlich auch dreieinhalb Stunden Musik (ohne Pause gerechnet) uninszeniert nicht standhalten können. Das zieht sich schon einigermaßen hin - vor allem, wenn das Stück damals ggfs. auch so tragisch und gefühlsbetont interpretiert wurde, wie durch Christe (Glyndebourne). Das Werk MUSS einfach auf die Bühne!


    :hello:


    Ulli

    Die Kunst ist [...] vielleicht das Denken des Herzens.
    (Blaise Pascal, 1623-1662)

  • Guten Abend


    Zitat

    Original von Ulli
    Ja und? Wer würde diese Penner heute ohne Händel noch kennen? Sie sollten ihm dankbar sein.


    :hahahaha:


    Ulli


    Außer Telemanns "Tafelmusik" und Carissimis "Jephte" kenne ich auch keine der genannten Werke.


    Gruß :hello:


    aus der Kurpfalz


    Bernhard

  • Zitat

    uninszeniert



    eben dass glaube ich nicht mehr.


    Oratorien, ja selbst groß angelegte Motetten wurden am Hof zu Versailles und am kaiserlichen Hof immer inszeniert.


    Bühnenbilder & Kostüme sind in Quellen erwähnt.
    Man verzichtete nur auf typische Theater Effekte.



    Auch in Rom wurden Oratorien inszeniert, immerhin ist bekannt das Kastraten für die weiblichen Rollen entsprechend zurecht gemacht wurde.



    Mag sein dass das bei den Protestanten alles nicht gemacht wurde - aber selbst wenn man auch in England das nicht wollte, ich würde mich davon nicht abhalten lassen :pfeif:

  • Anlässlich der Carus-Sonderangebote Aktion von Händeloratorien bei jpc habe ich mir folgende Oratorien zugelegt, welche ich noch nicht in der Sammlung hatte:



    Welch ein Unterschied in der Interpretation! Während der "Saul" auf völlig uninspirierte Art runtergsungen wird und man viel Fantasie braucht, um das Feuer in der Partitur zu fühlen, gibt McGegan bei "Samson" ordentlich Gas. Zwar treffen seine Solisten nicht immer jeden Ton, aber die Hingabe, mit der die Musiker zu Werke gehen, macht das ganze wieder wett. Man kann, denke ich, schon heraushören, dass Saul das bedeutendere Werk ist (die erste Hälfte von Samson ist praktisch nur völlig undramatisches Gejammer seitens der "Israeliten"), leider werde ich aber um einen Neukauf nicht herumkommen.... :cursing:

  • Ich bin mir nicht so ganz sicher, ob mein Beitrag an dieser Stelle richtig platziert ist. Aber da es um Händels "Messias" geht, wird es schon stimmen. Der Liebhaber der Musik Händels sei auf das folgende YouTube-Video, den "Messias"-Variationen von Bernd Wefelmeyer, aufmerksam gemacht und zwar ab 20.00:



    Ich wurde auf dieses Video durch eine Audio-CD aufmerksam, die mir ein Bekannter zugespielt hat. Der Gedanke, dass bei YouTube sicherlich etwas darüber zu finden sein müsste, erwies sich sozusagen als Volltreffer.


    :hello:

    .


    MUSIKWANDERER

  • "Der Messias" in einem Pop-Arrangement von Bernd Wefelmeyer. Das ist für meine Ohren mehr als gewöhnungsbedürftig. Warum Wefelmeyer seine Adapation "sinfonisch" betitelt, ist mir nicht ganz klar - es wird ja von Solisten und Chor gesungen. Die Interpreten Anke Lautenbach, Eva Maria Pieckert und Mike Kilian werden unterstützt von einem kleinen Chor, einer Jazzband einem Orchester.


    Ich habe, wie schon geschrieben, meine Probleme mit dieser Bearbeitung - und kann mich trotzdem einer gewissen Anziehungskraft für dieses Arrangement nicht entziehen - :no:


    :hello:

    .


    MUSIKWANDERER

  • Händel ist neben Haydn meine andere "große Liebe" in der Musik.
    Dass ich nicht trennen mag zwischen Oper und Oratorium, mag man mir nachsehen, ich sehe beide Formen als Bühnenwerke, wenn auch mit anderen Mitteln.


    Ich hoffe, ich werde hier nichts ausschweifend und verlasse den Rahmen.
    Händels Musik, besonders aber die Bühnenwerke, begegnen mir ständig im Alltag.


    Sei es bei menschlichem "Fehlverhalten" oder Überreaktionen in ungewöhnlichen Situationen, nur zu oft kommt mir eine von Händels "Gleichnisarien" in den Sinn, in denen die sprachliche Aussage und die musikalische sich nicht zu decken scheinen.


    Vor wenigen Wochen sollte ich eine Präsentation erarbeiten um die Gruppendynamik innerhalb eines Teams, Rollen innerhalb und ihr Zulassen oder Ablehnen.
    Anhand des "Jephta" erarbeitete ich das Thema und hatte Glück, dass die Dozentin das Werk kennt.


    All das Alltägliche um Macht und Ohnmacht, Gewalt, Nähe und Distanz, Stressbewältigung oder Kommunikation, auch Validation (Umgang mit Demenzkranken), findet sich für mich in Händels Musik, so dass sie mich eigentlich ständig begleitet.


    Große Ausnahme: der "Messiah".
    Mit diesem Werk habe ich mich inzwischen jahrzehntelang schwer getan.
    Die Aufführung des Collegium 1704 unter Vaclav Luks, bei youtube auffindbar, änderte das.
    Das für mich persönlich erschütterndste Werk bleibt "Theodora", gefolgt von "Jephta".


    Wie ich schon sagte, Musik, die für mich alltäglich ist in dem, was sie sagt, keineswegs "Alte Musik" und nur über Umwege zu erschließen.
    Nie abstrakt, sondern vielmehr der Nachbar, der bei mir klopft.


    Verzeiht bitte diese höchst empathischen Zeilen!
    Herzliche Grüße,
    Mike

  • Liebe Forianer,


    ich höre gerade mit grossem Vergnügen eine Harnoncourt-Aufführung des Alexander-Fest (auf youtube - interessant, was man da alles findet). Gibt es bereits einen Thread zur Discographie des Werks oder könnt Ihr Eure Lieblingsaufnahmen und Erfahrungen mit dem Werk mit mir teilen? Auf die Schnelle habe ich dazu im Forum nichts bis auf die Werkbeschreibung gefunden.


    Herzliche Grüße
    Stefan

    “Music is enough for a lifetime, but a lifetime is not enough for music”
    Sergei Rachmaninov

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  • Hallo Stefan,


    Du könntest Dir z.B. hier
    HÄNDEL, Georg Friedrich: ALEXANDER'S FEAST
    einige Anregungen holen. Die Diskographischen Hinweise sind beileibe nicht vollständig, auch nicht in irgendeinerweise
    als Ranking zu verstehen, aber es lassen sich (nicht immer, zugegeben) Produktinfos finden, die die Suche nach der für Dich richtigen Aufnahme erleichtern kann.


    Ich persönlich finde Christophers und The Sixteen hörenswert, habe auch nichts ernsthaftes gegen die Kölner Einspielung mit Peter Neumann vorzubringen - aber auch Gardiner ist eine sichere Bank.


    Wer suchet, der findet! ;)


    :hello:

    .


    MUSIKWANDERER

  • Eine Nagelneue Aufnahme der Brockes Passion von Händel!



    Die Academy of Ancient Music und der Chor von AAM haben diese Neuerscheinung am Karfreitag 2019 in der Londoner Barbican Hall zum 300 - jährigen Jubiläum aufgenommen.


    Diese Aufnahme feiert den 300 - ten Geburtstag von Händels großer Brockes-Passion: ein fast viel zulange vernachlässigtes Meisterwerk dieses genialen Komponisten, mit einem Libretto seines Freundes Brockes einer der damals in Deutschland führenden Dichter.


    Der Höhepunkt von zwei Jahren wissenschaftlicher Forschung durch ein Team von Wissenschaftlern und Musikwissenschaftlern der Universität Oxford, der Universität Cambridge, des King's College London, der Open University und anderen, die mit Musikdirektor Richard Egarr und Herausgeber Leo Duarte zusammenarbeiteten.

    Mit 15 Manuskriptquellen aus 11 Sammlungen in 5 Ländern ist dies die bislang umfangreichste Ausgabe dieses Werks, einschließlich der zusätzlichen Sätze als Anhang und der teilweisen englischen Übersetzung von Charles Jennens in einer Erstaufnahme!


    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • Ich möchte mich ein wenig mit Händels Oratorien beschäftigen. Für mich einer der faszinierendsten Werkkanons der Musikgeschichte. Ich habe den Thread durchforstet und möchte ihn hier weiterführen. Zur Strukturierung erstmal eine Übersicht der oratorischen Werke Händles und welche davon im Thread schon behandelt wurden.


    Übersicht

    Il trionfo del tempo HWV 46a & b (Früh- und Spätfassung, 1707 & 1737, italienisch, Allegorie über die richtigen Werte)

    - The triumph of time and truth HWV 71 (englischsprachige Mischfassung aus beiden Teilen von 1751)

    La resurrezione HWV 47 (1708, italienisch, Auferstehung Christi)

    Brockes-Passion HWV 48 (1718/1719, deutsch, Evangelienharmonie zur Passionsgeschichte Christi)

    Acis & Galathea HWV 49a & b (Früh- & Spätfassung, Masque, 1718 & 1739, englisch, Mythologie: Nymphe Galateia)

    Esther HWV 50a & b (Früh- & Spätfassung, 1719 & 1732, englisch, AT: Königin Ester, Adoptivtochter des Mordechai)

    Deborah HWV 51 (1733, englisch, AT: Prophetin & Richterin Debora)

    Athalia HWV 52 (1733, englisch, AT/Jean Racine: Königin von Juda Athalia ist dem Baalskult verfallen)

    Alexanders Feast HWV 75 (Ode, 1736, englisch, Mythologie/John Dryden: Siegesfeier Alexander des Großen)

    Saul HWV 53 (1738, englisch, AT: Aufstieg König Davids)

    Israel in Egypt HWV 54 (1738, englisch, AT: Exodus Israles aus Ägypten)

    L'Allegro, il Penseroso ed il moderato HWV 55 (1740, englisch, Allegorie der Temperamente)

    Messiah HWV 56 (1741, englisch, AT/NT/Jennens: Zitatsammlung über die Heilsgeschichte)

    Samson HWV 57 (1741/1742, englisch, AT: Daniter Simson gegen die Philister)

    Semele HWV 58 (1743/1744, englisch, Mytholoie/Ovid: Semele die Geliebte des Zeus)

    Joseph and his brethren HWV 59 (1743, englisch, AT: Joseph und seine Brüder)

    Hercules HWV 60 (1744, englisch, Mythologie: Tod des Herkules)

    Belshazzar HWV 61 (1745, englisch, AT/Herodot: König Belsazar und das Menetekel)

    An occasional oratorio HWV 62 (Pasticcio, 1746, englisch, Milton: Patriotisches Gedicht)

    Judas Maccabaeus HWV 63 (1746, englisch, ATapo/Flavius Josephus: Makkabäeraufstand)

    Joshua HWV 64 (1747, englisch, AT: Josua, Nachfolger des Mose)

    Alexander Balus HWV 65 (1747, englisch, ATapo: Alexander Balus, König der Seleukiden)

    Susanna HWV 66 (1749, englisch, AT: Susanna im Bade)

    Solomon HWV 67 (1749, englisch, AT: König Salomo)

    Theodora HWV 68 (1750, englisch, Robert Boyle: Christliche Märthyrerin Theodora)

    The choice of Hercules HWV 69 (Dramatische Kantate, 1750, englisch, Mythologie: Herakles am Scheideweg)

    Jephta HWV 70 (1751/1752, englisch, AT: Richter Jephta)



    Übersicht der im Thread behandelten Oratorien

    La resurrezione HWV 47 (#12-17, 70-71)

    Brockes-Passion HWV 48 (#102)

    Acis & Galathea HWV 49a & b (#46-50, 56)

    Alexanders Feast HWV 75 (#100-101)

    Saul HWV 53 (#7, 11, 41, 53, 59)

    Israel in Egypt HWV 54 (#19-24, 54)

    Messiah HWV 56 (#96-98)

    Samson HWV 57 (#27-30, 95)

    Semele HWV 58 (#9-10, 18)

    Hercules HWV 60 (#42-45)

    Belshazzar HWV 61 (#38-39)

    An occasional oratorio HWV 62 (#5)

    Judas Maccabaeus HWV 63 (#8, 63)

    Alexander Balus HWV 65 (#2)

    Theodora HWV 68 (#92)

    Jephta HWV 70 (#40, 57)

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Wenn ich recht sehe, besitze ich Aufnahmen von allen außer: Triumph of Time & Truth (sowie der ital. Spätfassung), Deborah, Joseph, Susannah, Occasional Oratorio.


    Nennen könnte man noch die frühe italienische Serenata: Aci, Galatea e Polifemo (gleicher Stoff, aber komplett anderes Stück).


    Wenn Du dieses Buch irgendwo (Bibliothek, ggf. Gebrauchtmarkt, >30 EUR würde ich nicht zahlen, ich habe vor Jahren ein Exemplar etwas günstiger gefunden) findest, ist das ziemlich hilfreich, da es für die weniger bekannten Werke sonst wohl etwas schwierig wird, Kommentare/Literatur zu finden.


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    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat von Tristan2511

    Ich möchte mich ein wenig mit Händels Oratorien beschäftigen. Für mich einer der faszinierendsten Werkkanons der Musikgeschichte. Ich habe den Thread durchforstet und möchte ihn hier weiterführen. Zur Strukturierung erstmal eine Übersicht der oratorischen Werke Händles und welche davon im Thread schon behandelt wurden.

    Hallo Tristan2511,

    darüber freue ich schon jetzt! :) In meinem Händel Fach stehen alle diese Oratorien in Aufnahmen nmindestens 1X!


    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • Wenn Du dieses Buch irgendwo (Bibliothek, ggf. Gebrauchtmarkt, >30 EUR würde ich nicht zahlen, ich habe vor Jahren ein Exemplar etwas günstiger gefunden) findest, ist das ziemlich hilfreich, da es für die weniger bekannten Werke sonst wohl etwas schwierig wird, Kommentare/Literatur zu finden.

    Das Buch habe ich aus den Bücherhallen Hamburg tatsächlich grade vorliegen. Man muss aber auch einschränkend sagen, dass sämtliche Oratorien ja schon ihre Einträge im Oratorienführer haben, ausführlich dargestellt von musikwanderer . In diesem Thread hier geht es vielleicht ein bisschen weniger analytisch zu, wobei natürlich historische und akademische Beobachtungen in einigen Beiträgen schon vorkamen und auch weiter vorkommen sollen. Natürlich geht es auch im musikalische Vorlieben und Besonderheiten. Das Erwähnen persönlicher Highlights sorgt manchmal dafür, dass andere Musikfreunde sich für ihnen unbekannte Werke interessieren.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Esther HWV 50a

    Gleich das erste englischsprachige Bibel-Oratorium Händels gehört zu meinen Lieblingen. Die Frühfassung der Esther mit dem Namen "Haman and Mordechai" von 1718/1719 hat noch nicht die große Form der späteren Oratorien. Es wird zunächst als Masque bezeichnet. Das Werk besteht aus sechs Szenen eines einzigen Aktes - freilich im üblichen Wechsel von Rezitativen, Arien und Chorsätzen. Im Gegensatz zu einigen Werken der umgebenden Entstehungszeit empfinde ich Esther immer als relativ abgerundet und ausgewogen. Und das obwohl etwa die Hälfte des Werkes aus Parodie älterer eigener Werke besteht, u.a. der Brockes-Passion. Ein besonders 'originales' Werk ist übrigens auch Esther HWV 50b nicht, denn als es 1732 zur Wiederaufführung kommt verwendet Händel einige Nummern aus seinen Opern und Anthems für die Erweiterung.


    Esther steht am Anfang einer beeindruckenden Serie von 15 weiteren biblischen und dazu weiteren 7 mythologischen/allegorischen/poetischen Werken die in den nächsten gut 30 Jahren entstehen. Weiter oben im Thread wurde erwähnt Händel habe nur zwei christliche Oratorien geschrieben. Das ist zwar ohnehin falsch, denn es wären mit "La reurrezione", "Brockes-Passion", "Messiah" und "Theodora" mindestens vier. Aber der Aussage zu Grunde liegt die Unterscheidung zwischen christlichen und alttestamentlichen Stoffen. Zur Würdigung der genuin jüdischen Stoffe ist die Intention dieser Unterscheidung vielleicht nachvollziehbar - für sinnvoll halte ich sie indes nicht. Schließlich fußt die christliche Tradition auf der jüdischen, die Tora wurde als Altes Testament in die Bibel integriert und man muss bei vielen Stofen von einem jüdisch-christlichen Traditionskreis sprechen. Eben weil das Christentum aus dem Judentum heraus enstanden ist. Und weil die jesuanische Lehre in der Tora fußt und sich immer wieder auf sie bezieht (nicht nur in Sachen Messianische Verheißung) - nein, das ganze Denken der Evangelienüberlieferungen und eingeschränkt auch der paulinischen Tradition kommt aus der Tora, führt sie weiter, reformiert sie oder lehnt sie ab (vor allem natürlich der johanneische Zweig). Sinnvoll erscheint mir deshalb nur die Rede von biblischen Oratorien (in der Gesamtheit der Überlieferungen und Testamente) auf der einen Seite und mythologische, allegorische (literarische) etc. Oratorien auf anderen Seiten.


    Dass Händel hier überhaupt anfängt alttestamentliche Stoffe zu vertonen ist ein Glücksfall für die Vertonungsgeschichte der biblischen Geschichten. Denn im wesentlichen beschränken sich zuvor die biblischen Oratorien auf Passionen und Weihnachtshistorien, wie u.v.a. bei Schütz, Keiser und Co. Parallel auch bei Telemann und Bach. Passionen und Weihnachtsmusik gibt es deshalb in rauen Mengen, was natürlich u.a. dadurch begründet ist, dass sie in christlichen Hochfesten ankern, die im liturgischen Kalender eine dominierende Rolle spielen.

    Die Wahl des Ester-Buches als Thema eines Oratoriums ist dabei wahrscheinlich der konkreten Anwendungssituation geschuldet. Die Librettisten nehmen Jean Racines Tragödie "Haman und Mordechai" zur Grundlage, welche auf das alttestamentliche Buch zurückgeht. Die Übersetzung ins Englische wird 1715, also kurz zuvor angefertigt. Der frische Text ist damit auf der bildungs- und literaturnahen Herzogenresidenz Cannons - in der Händel zur Entstehungszeit arbeitet - präsent. Und zwar eher als Literatur, denn als Bibeltext.


    Die ersten englischsprachigen Oratorien Händels orientieren sich freilich an der auf der Insel bekannten Form der Masque. Gleichzeitig verzichtet Händel auf gesprochene Dialoge und weitgehend auch auf Tänze. Orientiert sich stilistisch mit Wechsel von Arie und Rezitativ und Chor (im Gegensatz zur üblichen Barockoper) also am italienischen Oratorium. Diese Form vermischt sich bei unklarer Grenzziehung auf der Insel mit den dort bekannten Formen von Masque, Anthem und Ode - was bei Händels frühen Gattungsbeiträgen für Unklarheit in der Formbenennung sorgt. Esther I heißt z.B. gelegentlich noch Masque (wird aber paralell schon als "The Oratorium" bezeichnet), Esther II dann Oratorium.


    Für mich persönlich ist Esther I voller Schönheiten. Seien es eingängige Arien wie "Tune your harps" (mit Harfenklang-Imitation in der Pizzicato-Begleitung), "O beautious Queen" (mit schwerfälliger Eleganz) oder "How can I stay" im tpyisch vorwärtsdrängenden Duktus der schnellen Händel-Arien. Eine wichtige Rolle nimmt hier schon der Chor ein (wenn der bei den ersten Aufführungen wahrscheinlich auch lediglich aus dem Solistenensemble besteht). Prächtige und kunstvolle Lobgesänge wie "Shall we the God" und die beiden musikalisch verwandten "Shall we of servitude"-Sätze mit imitatorischen Stimmeinsätzen. Dazu enthält dieses Oratorium zwei Prototypen von Händel-Chören, die in nahezu allen (!) weiteren Oratorien vorkommen und von großer Bedeutung sind:

    1) Der getragene Israel-Klagechor (hier: "Ye sons of Israel mourn") der sich in auftürmenden und klagenden Figuren steigert und die Lage des bedrängten Israel beklagt. Händel führt diesen Typus zu beeindruckenden Gipfeln wie z.B. "Ah wretched Israel" in "Judas Maccabaeus". Einiges davon klingt stilistisch hier in aller Kürze schon durch. Und

    2) Der große jubelnde Lob- und Schlusschor (hier: "The Lord our enemy has slain"), mit großem Aufbau, glänzender Instrumentierung, wiederholten und imitierten Passagen und rhythmischen Überraschungen. Mit 11 Minuten Spielzeit gehört dieses erste Beispiel gleich zu den längsten und größten Chorsätzen Händels, der die spätere Meisterschaft schon erahnen lässt. Man denke an "The Lord shall reign"/"Sing ye to the Lord" aus "Israel in Egypt", "Hallelujah" aus dem "Messiah" (die "forever"-Rufe weisen schon sehr deutlich auf diesen Satz hin) oder "Praise the Lord" aus "Solomon".


    Die Frühfassung Esther I ist in dieser Aufnahme von The Sixteen in meinen Augen/Ohren wunderbar aufgenommen:

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Deborah HWV 51

    Dieses Oratorium von 1733 zählt nach meiner Wahrnehmung zu den unbekannteren oratorischen Werken Händels. Wohl kaum ein Musikfreund dürfte es als sein liebstes Händel-Oratorium bezeichnen. Deborah wird zudem häufig als Pasticcio bezeichnet, weil Händel Musik seiner Coronation Anthems und anderer früherer Werke wiederverwendet. Wie einige der späteren Oratorien wird Deborah in höchster Eile geschrieben: Händel hat nämlich 1733 grade finanzielle Nöte mit seinem Opernunternehmen und erhofft sich hohe Einnahmen durch große englischsprachige Oratorien. Grundsätzlich geht der Plan auf, doch will Händel zu viel: Er erhöht kurzerhand die Eintrittspreise drastisch, was zu öffentlichem und in Zeitungen ausgetragenen Widerstand führt. Händels Schulden werden erst mit dem nachfolgenden Oratorium Athalia getilgt.


    Deborah konstituiert aber in gewisser Weise die große Oratorienform bei Händel. Das Werk entsteht etwa 25 Jahre nach Esther I und im Jahr nach der Wiederaufführung Esthers samt Konzeption der Spätfassung. Somit steht mit Esther II und Deborah die dreiaktige große Form im wesentlichen fest, in welcher alle weiteren großen Oratorien Händels konzipiert sind.


    Dass erneut ein alttestamentlicher Stoff vertont wird verfestigt zudem diese thematische Schlagrichtung in Händels Werk. Claus Bockmaier erklärt die Vorliebe des englischen Publikums für diese Stoffe: England sieht sich in seiner geographischen Isolation und mit seinem schleichenden Aufstieg zur Weltmacht in der Händel-Zeit teilweise in Analogie zum Alten Israel (NB: Dass das israelische Großreich unter König David und Salomo weitgehend Fiktion gewesen ist beachtet/weiß man damals noch nicht). Teilweise sieht sich die englische Elite seinerzeit als auserwähltes Volk im Sinne eines biblischen Geschichtsbildes. Wobei die Grenzen zwischen Analogie und Nachfolge zu Israel verschwimmen. Diese Tendenz in der barocken englischen Gesellschaft, so unbekannt sie heute ist und so unwirklich sie uns heute vorkommt, ist gut belegt (Monographien von Ruth Smith und Dorothea Schröder sind hier zu nennen) und mag eine Ursache für Händels Erfolg mit englischsprachigen Oratorien über das alttestamentliche Israel sein.


    Dennoch überrascht die Stoffauswahl auf dem ersten Blick. Das Buch der Richter ist wenig populär und zudem von teilweise absurder Brutalität und archaischen Geschichtsbild geprägt. (NB: Heute erfreuen sich Figuren wie Debora übrigens einer anderen Art von Beliebtheit: Als frühe Beispiele starker Frauen). Librettist Samuel Humphreys legt den Fokus auf Richter 4-5 und damit zum einen auf die Figur der Prophetin Deborah und zum anderen auf den recht häufig bearbeiteten Konflikt zwischen Baalskult und Jahwe-Monotheismus. Dass das unterdrückte Israel einmal mehr siegreich aus dem Konflikt hervorgeht passt dann wieder hervorragend zur zeitgeschichtlichen Stimmung auf der Insel und zur Schlagrichtung der allermeisten Händel-Oratorien.


    Interessant ist in diesem Zusammenhang der offene Widerspruch zwischen royaler Loyalität und Opposition des Textes: Samuel Humphreys widmet sein Libretto der Frau von King George II, Caroline. Und Händel bezieht als Ehrerbietung Musik aus den Coronation Anthems für George ein. Doch der Text spricht eine andere Sprache: Der Clou im Richterbuch ist schließlich, dass das Volk Israel neue, nicht-tyrannische Führung sucht. Ein Stoff der es vermag, schwelende politische Unzufriedenheit in England zu spiegeln und aufzunehmen.


    Musikalisch gefällt mir Deborah persönlich nicht ganz so gut, wie Esther. Natürlich finden sich - wie in jedem Händel-Vokalwerk - herrliche Arien und zudem wieder große Chöre. Meine fehlende Vorliebe ist eher Jammern auf hohem Niveau und im Vergleich mit Händels anderen Oratorien zu sehen. Die meisten Arien und Chöre die mir bei Deborah besonders gefallen stammen aus der Brockes-Passion oder dem Dixit Dominus. Ausnahme ist die Arie "To joy he brightens my dispair" aus dem 1. Akt.


    Diese Aufnahme vom Kings Consort gefällt mir:

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Athalia HWV 52

    Auch das Deborah nachfolgende Oratorium gehört nicht zu Händels bekannten Schlagern, wenngleich es seinerzeit sehr erfolgreich war. Selbst sehr bibelfeste Menschen kennen die Figur Athalia kaum - was sie zur größten Außenseiterin unter Händels Oratorien-Helden machen dürfte. Zumindest gilt das heute. Königin Athalia ist zur Entstehungszeit durch eine weitere Tragödie von Jean Racine (wie z.B. auch Esther) recht präsent. Jene Tragödie wird als Schauspielmusik später auch von Mendelssohn vertont.


    Athalia (Atalja) ist Könign von Juda (also dem Südreich Israels) und wird in 2. Könige 11 (parallel in 2. Chronik 22) erwähnt. Sie ist Tochter von König Ahab und seiner Frau Isebel. Als Omridin (Nordreich) heiratet sie Joram von Juda (also Südreich). Damit verbinden sich (wieder einmal) beide Reiche in einem Bündnis. Allerdings von kurzer Halbwertszeit. Sie wird nömlich als Anhängerin des mit Israels Jahwe-Monotheismus konkurrierenden Baals-Kult dargestellt und steht damit zumindest religionspolitisch in Opposition zum Nordreich.

    Ihre Herrschaft ist historisch verbürgt und kann auf 842 bis 835 v. Chr. eingegrenzt werden. Belegbar ist das mit Inschriften und einer Stele; Flavius Josephus ist in diesem Fall wohl keine sehr vertrauenswürdige Quelle, da seine Darstellung teilweise wörtlich den biblischen Bericht übernimmt. Die in der Bibel dargestellten Enkelmorde zur Machtsicherung sind anderweitig z.B. nicht belegbar.


    Die Musik ist größtenteils original, wird ihrerseits dann aber teilweise in der Serenata "Il Parnasso in Festa" HWV 73 zur Hochzeit Prinzessin Annes verwendet. Das hat den Vorteil, dass Händel hier eine gewisse dramatische Konzeption vornehmen kann. So begenet in Athalia erstmals die Verbindung von Chor und Solo. Symptomatisch zu beobachten gleich am Beginn des Werkes: Chor der Jungfrauen ("The rising world") - Chor der Israelisten ("O mortals") - Arie Josabeth ("Tyrants", im Wechsel mit dem Chor) - Recit & Arie Abner ("When storms", Bravurarie mit chorischem Schluss! "Oh Juda"); Chor bzw. Chöre (Jungfrauen & Volk) sind mit den handelnden Personen aufs engste verwoben. Die gleiche Struktur begegnet auch am Beginn des 3. Aktes, so dass beide Akte formal zum Rahmen für den mittleren 2. Akt werden. Auch die Titelheldin wird dramatisch und psychologisch gezeichnet. Sie steht auf der Seite des 'bösen' Baalskult und ihre seelische Entwicklung wird hörbar gemacht. Etwas, das in einem Pasticcio mit werkfremder Musik kaum möglich wäre. Im Accompagnate "What scenes of horror" beginnt sie ihre Traumerzählung darzulegen - der Horror wird durch Achtelrepetitionen die sich gleichsam über die Musik legen hörbar. In ihren Arien entwickelt sie sich psychologisch von Klage ("Softest sounds") zu Rache ("My vengeance awakes me") zu Wahnsinn ("To darkness"). Eine solche konsequente Personenzeichnung - die Händel in seinen Opern durchaus schon mehrfach vorgelegt hatte (Bajazet in "Tamerlano" sei stellvertretend für viele genannt) - ist für das Oratorium neu.


    Besonders gefällt mir die Aufnahme des Collegium Cartausianum mit Peter Neumann


    Bzw. in der Box:

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • L'Allegro, il Penseroso ed il Moderato HWV 55

    Dieses Oratorium gilt unter Händel-Freunden als Geheimtipp, weil es voller schöner Arien ist (allerdings: Welches Händel-Oratorium oder Oper ist eigentlich nicht voller schöner Arien?). Zu den populäreren Werken gehört es indes nicht. Meiner Meinung nach macht dies das allegorische und etwas sperrige Thema so gut wie unmöglich. Zu Grunde liegen die Gedichte John Miltons "L'Allegro" und "Il Pnseroso" von 1632. Charles Jennens fügt dann noch gemeinsam mit Händel den ausgleichenden Teil "Il Moderato" ein. Typisch für barocke Vorlieben geht es um Allegorien der Temperamente zwischen Sanguinikern und Melancholikern - ein uralter bereits in der Antike diskutierter Disput. Das Barockzeitalter mit seiner Vorliebe für Affekte, für das schon in der Renaissance aufgewärmte Denken in Tugenden und Sünden und für Bilder und Allegorien umfasst die über 100 Jahre zwischen Dichtung und Vertonung (1740). Man denke auch an die 1749 entstandene Triosonate CPE Bachs mit dem Namen "Sanguineus und Melancholicus". Das alles ist derartig barock, teilweise affektiert und für heutiges Denken sperrig, dass dieses Oratorium es inhaltlich heute wohl schwerer hat, als Oratorien mit historischen/biblischen Figuren als Titelhelden.

    Ich finde allerdings, dass dieses Thema so weltfremd auch heute gar nicht ist. Man denke an die stärker ins Bewusstsein rückende Rede von extrovertierten und introvertierten Menschen - die heute in jeder Persönlichkeitsschulung und Coaching vorkommt und das eigene Handeln reflektieren helfen soll.


    Händel und Jennens lassen die beiden Temperamente zwei Teile lang abwechselnd miteinander in Disput treten, bevor in einem kürzeren Schlussteil der Kompromiss im ausgleichenden Moderato gefunden wird. Dramaturgisch ist das natürlich die richtige Entscheidung, so gibt es nicht zwei lange Teil mit erst nur schnellen, dann nur langsamen Arien - sondern den üblichen Wechsel der Charaktere. Dabei gibt es textlich und musikalisch sozusagen einen buten Mix aus Menschen und Naturdarstellungen. Shakespeare (Liebling Allegros) liegt ideell genauso zu Grunde wie Platon und Homer (Penserosos Helden). Ungewöhnlich tonmalerisch ist Händels Musik hier mehrfach: Es erklingen Vogelrufe, Carillons, Jagdhörner und Stundenglocken.


    Unter den wirklich vielen herrlichen Arien und Chören möchte ich einige Lieblinge nennen: Der feurige Allegro-Chor "Haste thee nymph" geht am Anfang des Werkes ins Ohr. Kurz darauf berührt mich die Penseroso-Arie "Come but keep thy wonted state".

    Die getragene Arie "Sometimes let gorgeous tragedy", Eingangsarie des zweiten Teils, ist von zeitloser und fast unwirklicher Schönheit - mein Favorit in diesem Oratorium. Wenig später geht mir eine weitere Penseroso-Arie zu Herzen: "Me when the sun begins to fling". Dass ich hier mehr auf der Seite des Penseroso stehe, wundert mich nicht: "These pleasures melancholy gives" nenne ich ebenfalls unter den schönsten Arien dieses Werkes. Aber auch im abschließenden Moderato gibt es ein herrliches Duett: "As steals the morn upon the night". Eine bekannt gewordene, eingängige Melodie, die unter Händel-Best-ofs als einziges (?) Stück aus diesem Oratorium vertreten ist.


    Von den beiden guten Aufnahmen mit zum einen Christie:


    gefällt mir Gardiner hier entschieden besser:

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

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  • Joseph and his brethren HWV 59

    Dieses biblische Oratorium hat in der Händel-Rezeption nach anfänglichem Erfolg recht schnell einen schweren Stand gehabt. Die zu Grunde liegende Geschichte von Joseph und seinen Brüdern wird nicht der Grund sein; sie ist interessant und mehrfach künstlerisch verarbeitet worden. Vielmehr wird immer wieder das Libretto von James Millner kritisiert. Winston Deans harsche Kritik hat im 20. Jh. der Rezeption auch nicht geholfen.

    Und Händels Musik wirkt tatsächlich beim erstmaligen Hören weniger eingängig als bei vielen anderen Oratorien und teilweise ein wenig spröde. Ich kann nur sagen, dass es auch nicht unbedingt unter meinen Liebglinsoratorien Händels ist. Aber die in neuerer Zeit fast schon mehrheitliche Meinung eines misslungenen Werkes kann ganz und gar nicht teilen. Dazu enthält auch dieses Oratorium zu viele interessante Stellen und vor allem einen sehr schlüssigen Weg innerer Dramatik über Schuld und Versöhnung.


    Vielleicht weil uns (heute) Rezitative weniger attraktiv erscheinen, hat auch dieses Oratorium an Gunst verloren. Ist "Israel in Egypt" Händels Chor-Oratorium, so handelt es sich beim Joseph sozusagen um sein Rezitativ-Oratorium. Es geht um Psychogramme und innere Entwicklung von vor allem Joseph, auch aber seiner Widersacher. Am Anfang des Werkes stehen umfangreiche Accompagnati der Traumdeutungen. Musikalisch vielleicht tatsächlich ein wenig spröde geraten. Später, wenn Jospeh sich gleichzeitig über das Ausbleiben der Brüder ärgert und eine höhere Bestrafung derselben fürchtet wird sein innerer Konflikt im Accompagnato "The peasant tastes the sweets of live" hörbar. Diese Mischung aus Arie und Rezitativ ist auch klanglich ein hochinteressanter Satz: Zu liegenden Borduntönen der Bässe gesellt sich ein pastoraler 12/8-Rhythmus. Pastorale Idylle als Erinnerung an die geliebte und vermisste Heimat. Sofort schließt sich ein schneller Arienteil an, voller Ärger und Angst. Ein wahrhaftes Wechselbad der Gefühle, bemerkenswert konzipiert. Auch im 3. Akt bringen besonders die Accompagnati die Versöhnung voran. Dass die Brüder ihn nicht erkennen, dass Simeon die Strafe auf sich nehmen will und dass Joseph sich endgültig vor seinen Brüdern offenbaren möchte - das alles geschieht in Rezitativen, Accompagnati und Secco. Als die Brüder ihn erkennen rufen sie als Turba schließlich gemeinsam in einem A-Dur- und dann Fis-Sextakkord: "Joseph!". Die Referenz zu Bachs "Barrabam"-Turba-Akkord aus der Matthäuspassion liegt auf der Hand. Die folgende endgültige Versöhnung mit den Brüdern ist dann erneut als Rezitativ gestaltet ("I can no longer"). Dieses Oratorium wird wirklich völlig vom Rezitativ geprägt.


    Arien und Chöre die mir besonders gefallen sind vielleicht naturgemäß hier ein wenig rarer gesät. "Come divine inspirer" ist die zweite Arie im Oratorium und gleich eine der schönsten. Diese Joseph-Arie ist irgendwie eine typische getragene Alt/Countertenor-Arie Händels - könnte auch aus einer seiner Opern stammen. Mitreißend ist der kurze Chor "O God of Joseph" mit kontrapunktischer Verarbeitung. Und natürlich muss die Arie "Our fruits whilst yet in blossom" erwähnt werden. Die Sopranarie der Asenath ist voller Wärme und Schönheit, in vollstimmiger Streicherbegleitung entfaltet sich liedhafte Schönheit. Im 3. Akt sticht das schnelle Duett "Whats sweeter than the newblown rose" zwischen Joseph und Asenath hervor. Ja und der Schlusschor kommt uns doch irgendwie bekannt vor: Das "Allelujah" aus der Dettingen Anthem.


    Möchte man Händels Oratorien unahbhängig von ihren Entstehungsdaten biblisch-chronologisch hören (reizvoll daran ist die ein wenig serienhafte Erschließung wichtiger Teile des AT mit äußerem Bezug eigentlich unverbundener Werke), so steht dieses Oratorium ganz am Beginn. Es ist die früheste biblische Erzählung, die Händel vertont. Textinhaltlich würden sich die Oratorien "Israel in Egypt" und "Joshua" anschließen und damit den Pentateuch samt Josua-Buch vertonen. Besonders bei dieser Trias ist das episodische Element der Fortführung stark ausgeprägt: Joseph wird von seinen Brüdern nach Ägypten verkauft - Israel gerät in Ägyptische Gefangenschaft - Es kommt zum Exodus aus Ägypten - die Wüstenwanderung unter der Leitung Moses und schließlich Josuas mündet in der Landnahme.


    Unter den wenigen Aufnahmen ragt die Aufnahme des Kings Consort Oxford unter Robert King hervor:

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Um den reizvollen Gedanken des biblisch-chronologischen Rezipierens noch zu Ende zu bringen.

    Man könnte folgende Händels Oratorien in folgender Reihenfolge hören: "Joseph and his brethren" - "Israel in Egypt" - "Joshua" - "Deborah" - "Jephta" - "Samson" - "Saul" - "Solomon" - "Belshazzar" - "Athalia" - "Esther" - "Susanna" - "Judas Maccabaeus" - "Alexander Balus" - "Messiah" - "Brockes-Passion" - "La resurrezione" - "Theodora"


    Man hätte also eine Pentateuch-Trias, eine Richter-Trias, ein Königszeit-Trias und eine Christus-Trias. Dazwischen babylonische ("Belshazzar"), persische ("Esther"), selukidische ("Judas Maccabaeus" & "Alexander Balus") und römische ("Theodora") Seitenblicke.

    Das wäre ein bisschen wie eine Händel-Oratorien-Netflix-Serie. Fehlt nur noch ein "Previously on Handel Oratorios" vor jedem Oratorium.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)