Schuberts „Winterreise“ post Fischer-Dieskau

  • Betr. Beitrag 57
    Das ist - wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf, lieber farinelli - eine höchst subtile Analyse, die Du da vorlegst.
    Und ich sehe mich in der Versuchung, mich auf einzelne Aspekte darin noch einmal näher einzulassen. Die Passage „und hoffen und hoffen“ lese und höre ich zum Beispiel ganz anders als Du. Aber so ist das eben, wenn man es, wie das hier der Fall ist, mit wesenhaft polyvalenten lyrischen und musikalischen Texten zu tun hat.


    Aber ich widerstehe dieser – wie ich zugebe: äußerst reizvollen - Versuchung und denke, wir sollten das, was hier zu diesem Lied „im Dorfe“ anlässlich seiner Interpretation durch Ian Bostridge geschrieben worden ist, einfach mal so stehen lassen.


    Deiner Feststellung „daß für mich (ich betone das!) ein verhalten-ergebener Vortrag wie von Fischer-Dieskau/Brendel (live, auf youtube gesehen) ebenso künstlich oder eben möglich ist wie der von Bostridge“ kann ich- aus den oben genannten Gründen ebenfalls nur beipflichten, wenngleich ich, wie aus meinem nachfolgenden Beitrag ersichtlich werden dürfte, mit Ian Bostridge als Liedinterpret so meine Probleme habe.

  • Ich habe ein grundsätzliches Problem mit dem Liedgesang von Ian Bostridge: Er ist mir in seiner grundlegenden Intentionalität zu effektorientiert, zu sehr darauf ausgerichtet, die Semantik des lyrischen Wortes in geradezu exzessiver Weise in die Deklamation der melodischen Linie eingehen zu lassen. Dabei verfehlt die Formulierung „eingehen lassen“ sogar noch den wahren Sachverhalt. Auf mich wirkt sein Liedgesang häufig so, als zwinge er die Dimension der lyrisch-sprachlichen Semantik regelrecht in die vom Komponisten vorgegebene Melodik hinein.


    Diese liedinterpretatorische Grundhaltung hat – und das macht wohl ganz wesentlich die Faszination die von seinem Liedgesang ausgehen kann – einen durchaus ambivalenten Effekt: Er vermag den Hörer damit in Bann zu schlagen. Er kann eine weiträumig phrasierte, auf Kantabilität angelegte melodische Linie auf geradezu betörend schöne Weise stimmlich zum Erklingen bringen, - und er kann eine andere, die in ihrer Struktur das lyrische Wort in enger Anlehnung an die Semantik reflektiert, regelrecht der kompositorischen Intention entfremden, - also dieselbe verfehlen. Manchmal kommt es sogar vor, dass er die klanglich schöne melodische Linie deklamatorisch so stark mit Bedeutung überlädt, dass sie in ihrer musikalischen Aussage verfälscht wird.


    Ein Musterbeispiel dafür ist „Der Lindenbaum“. Man kann den klanglichen Zauber, der von der Melodik der ersten Strophe ausgeht, kaum in stärker beeindruckender Weise vernehmen und erleben, als dies in Bostridges Interpretation der Fall ist. Und dann kommen die Verse: „Komm her zu mir, Geselle, hier findst du deine Ruh“, - und Bostridge verfällt in geradezu peinlicher Weise wieder auf seine deklamatorischen Mätzchen. Er singt diese Worte im deklamatorischen Gestus des „Erlkönig“: „Du liebes Kind, komm geh mit mir…“. Die Stimme nimmt einen eindringlich verführerischen Ton an. Das Wort „her“ wird ohne jegliches Vibrato in der Stimme wie endlos lang gehalten, aus dem Wort „Geselle“ wird ein giftig klingendes „Gesäälle“, und der melodische Bogen auf „findst du deine Ruhe“ wird mit einem ins Extrem gesteigerten, auf klangliche Magie abzielenden Vibrato versehen.
    (Ich beziehe mich hier auf die EMI-Aufnahme. Bei der mit Julius Drake ist das, was ich hier kritisiere, nicht so ausgeprägt!)


    Warum kann ich das nicht gutheißen? Es ist doch so beeindruckend. Aus einem ganz einfachen Grund: Schubert wollte das so nicht. Bostridge hat übersehen – oder will ganz einfach nicht sehen – dass die melodische Linie hier identisch ist mit der auf den Worten: „Ich schnitt in seine Rinde / so manches liebe Wort; / es zog in Freud und Leide / zu ihm mich immer fort“.
    Und das hat einen tiefen Sinn. Er ist nicht darin zu suchen, dass Schubert hier seiner Liebe zum Strophenlied nachgegeben hat. Der Sinn ist im lyrischen Text Müllers zu finden, dem Schuberts sich natürlich kompositorisch verpflichtet fühlte. Die lyrischen Worte stehen im Präteritum, - der Winterreisende artikuliert sich hier aus der Retrospektive. Deshalb die Identität von Melodik und Klaviersatz zwischen diesen Verspaaren der zweiten und der vierten Strophe.
    Und für den Interpreten heißt das: Er muss sich dessen bewusst sein, dass der Lindenbaum sein verführerisches Rauschen nicht tatsächlich ausübt, sondern dass es vom lyrischen Ich retrospektivisch memoriert wird. Also muss er diese Verse im wesentlichen so singen, wie die mit der gleichen melodischen Linie der zweiten Strophe.


    Das ist es, was ich Ian Bostridge in diesem Fall – und grundsätzlich - kritisch vorhalten muss: Er gerät bei seinem in extremer Weise auf die wortorientiert-deklamatorische Deklamation ausgerichteten Liedgesang immer wieder einmal in die Gefahr, die liedkompositorische Aussage regelrecht zu verfehlen.


    (Die Liebhaber von Bostridges Liedgesang - und dass es diese gibt, kann ich gut verstehen - mögen mir bitte verzeihen!)

  • Lieber Helmut,


    ich kann dir hier nur auf der ganzen Linie zustimmen. Und es leuchtet mir auch sofort ein, daß das eigentlich Faszinierende am "Lindenbaum" die musikalische Evokation von Zeitlichkeit, von verklärter oder aufgeladener Erinnerung ist, von Bildern, vollgesogen mit individuell Erlebtem.


    Du weißt, ich reagiere allergisch auf die Thomas Mannsche Vereinnahmung des Lindenbaumlieds (im Zauberberg). Dort, im Schnee-Kapitel, suggeriert ein tödlicher Schneesturm dem verirrten Skiwanderer Hans Castorp die Annehmlichkeit einer Rast, die allerdings den sofortigen Erfrierungstod zur Folge hätte. Überdies ist das kontemplative, ruhiggestellte Leben ein zentrales Thema des Romans und gebiert, in extremer Konsequenz, eine lebensfeindliche Haltung.


    All das führt, auf den "Lindenbaum" projiziert, bloß zu Unsinn. Weder sind die "kalten Winde" irgendwie lebensbedrohlich, noch wäre die - jahreszeitenübergreifend-zeitlose - Verheißung der Ruhe im Schatten des Baums an eine tödliche Gefährdung (wie das Erfrieren) gebunden. Man muß schon alle lichten, friedlich glückverheißenden Assoziationen dieser Musik ausblenden, um die fatale Botschaft einer Todesverlockung zu vernehmen.


    Die erste Strophe immerhin gefällt mir bei Bostridge besser als bei Gerhaher das ganze Stück - er singt hier so verhalten, gedämpft und getragen, als handle es sich um eine ernste, keine freundliche Sache.


    Wenn man die DVD von Bostridges Winterreise mit Julius Drake einlegt, kann man unter dem Track "over the top with Franz" das Making of des Winterreisenfilms anschaun. Das ist ein recht amüsanter Einblick in die Schwierigkeiten, denen sich Pianist und Sänger ausgesetzt sahen, wenn der Regisseur seine Ideen entwickelte. Ursprünglich sollte alles in einem viktorianischen, nun ruinösen Krankenhaus für Psychiatrie spielen (Bostridge war diese Festlegung auf den Psychopathen zu eindimensional; später wählte man einen Studioaufbau).


    Sehr witzig ist die Stelle, wenn Julius Drake darüber sinniert, ob er nun ein Krähenkostüm anziehen müsse, und wie er mit den Krähenfüßen an die Klavierpedale reiche. Das ist immerhin eine erstaunliche Assoziation, von der Krähe zum Flügel als ständigem Begleiter. - Berührend auch Bostridges Einsicht im Laufe der dramaturgischen Umsetzung, er sei offenbar doch nicht "that shy", wie er gedacht habe.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • „Evokation von Zeitlichkeit“, - diese Deine Formulierung, lieber farinelli, bringt das Wesen dieser Verse Müllers und der Musik Schuberts darauf in brillanter Weise auf den Punkt.
    Und jeder Interpret muss sich daran messen lassen, wie gut er das vernehmlich werden lässt. Mit der Hereinnahme von gleichsam aktueller Zeit in die in diesem Lied sich wesenhaft memorativ, also in der Retrospektive ereignende, wie das bei Bostrigde an der von mir besprochenen Stelle seiner Interpretation geschieht, wird die musikalische Aussage des Liedes verfehlt.


    Es bleibt freilich seine wahrlich faszinierende gesangliche Gestaltung der in ihrer Anmutung von Volksliedhaftigkeit so überaus in Bann schlagenden melodischen Linie der ersten Strophe. Das gelingt ihm in der Tat besser als Christian Gerhaher.
    Aber auf etwas möchte ich Deine Aufmerksamkeit lenken: Es ist die ausgeprägt rhythmisch schleppende Gestik von dessen sängerischer Gestaltung der dritten Strophe. Darin erfasst er eine Dimension des Liedes, die bei Bostridge nicht vernehmlich ist.
    Es ist die von Schubert mit der Moll-Harmonik gleichsam unterschwellig in das Lied eingebrachte lyrisch-situative Realzeit.


    Aber mir wird ein wenig bange bei diesem in musikanalytischen Höhen sich bewegenden Diskurs. Wer mag - "mag", nicht "kann" - da sonst noch folgen und – was so überaus wünschenswert ist - in diesem Thread mitmachen?
    Deshalb möchte ich morgen den nächsten Interpreten des Liedes „Im Dorfe“ hier vorstellen: Es wird Christoph Prégardien sein.

  • Das ist natürlich sehr gut interpretiert - ist mir aber zu "bühnenhaft" theatralisiert (passend zum Video). Er macht daraus schauspielend Musiktheater, eine kleine Oper.


    Die Leute im Hintergrund sind bestimmt keine Dorfbewohner, schlafen tun sie auch nicht. Und der Wanderer/Sänger ist der Einzige, der hier liegt. Vom Liedtext her würde ich ja eher das Gegenteil erwarten. Was soll mir diese »umgekehrte« Inszenierung sagen? Im Moment bin ich noch ratlos.

  • Das Geständnis von Dieter Stockert "Im Moment bin ich noch ratlos."
    kommt mir wie gerufen, - den Schluss meines vorangehenden Beitrages betreffend. Sie ist ein schöner Beleg für das, was ich damit sagen wollte.


    Wozu, das frage ich mich, all die Ausführungen über das liedinterpretatorische Konzept eines Ian Bostridge und die theatralischen Inszenierungen, mit denen es, von eben diesem Ansatz her und darin seiner Logik folgend, auftritt?


    Sie kommen hier gar nicht an.

  • Denn Du hast, wie das ja in vielfältiger Weise hier im Forum dokumentiert ist, zum Thema "Kunstlied" jede Menge Sachkenntnis und eine hohe einschlägige Urteilskompetenz.

    Hallo Helmut,


    "Mit Speck fängt man Mäuse" - aber Gottseidank bin keine Maus.



    Vielleicht überlegst Du Dir das ja noch einmal. Ich würde mir das sehr wünschen!

    Bei unserer sehr unterschiedlichen Ausgangslage, zu welchen Kompromissen wärst Du den bereit (besser fähig), wenn Du mich zur Teilnahme bewegen willst? Die bisherigen Konditionen sind für mich unannehmbar.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler


  • Der Tenor Daniel Behle, dessen Album bei Sony herausgekommen ist, hatte nach meinem Eindruck eine glückliche Hand bei seinem Versuch, sehr unterschiedliche Lösungen abzubieten. Obwohl ich mit Bearbeitungen gewöhnlich meine Probleme habe, hier gibt es beides: Original und Bearbeitung. Man kann wählen, sich für die eine oder die andere Variante entscheiden. Beides mögen oder daran herummäkeln. Beginnen möchte ich mit dem Lob. Behle singt, wie er kann. Er weckt keine falschen Hoffnungen, bleibt im Rahmen seiner lyrischen Möglichkeiten. Stimmlich klingt er noch viel jünger, als er es im wirklichen Leben ist. Das überzeugt mich. Er ist Jahrgang 1974, hatte eine gründliche musikalische Ausbildung – auch als Komponist. Behle verzichtet auf jegliche theatralische Mittel, er bleibt ganz bei der Musik. Nur vereinzelt und wohl dosiert holt er das dramatische Werkzeug hervor. Dadurch glückt ihm seine Einspielung so gut, so diesseitig. Sie ist nicht bitter, lässt einen nicht mit Tränen zurück. Wäre eine Entscheidung gefragt, meine Wahl würde auf das Original mit Klavierbegleitung (Oliver Schnyder) fallen. Setzen in der zweiten Einspielung die zusätzlichen Instrumente ein, Violine (Andreas Jahnke), Violoncello (Benjamin Nyffenegger) und wieder Schnyder am Piano, zuckt es schon mal im Ohr. Was war denn das, durchschoss es mich beim ersten Hören. Zunächst hatte ich den Eindruck, als liege plötzlich eine ganz andere Musik auf. Und dann war mir, als mische sich ein Streichquartett über einen zusätzlichen Kanal in die Winterreise hinein, so wie im Radio, wenn zwei Sender aufeinander liegen. Das dürfte beabsichtigt sein, auch in seiner mitunter verstörenden Wirkung. Im letzten Lied, dem “Leiermann”, wird gar in einem Anflug die Leier simuliert. Weil es aber wie ein Dudelsack aus der Ferne kling, gerät dieser musikalische Moment zu sehr in die Nähe von Folklore. Für mich braucht gerade dieses Lied, in dem alles erstarrt, keinerlei Zutat. Es ist das Ende.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Die Leute im Hintergrund sind bestimmt keine Dorfbewohner, schlafen tun sie auch nicht. Und der Wanderer/Sänger ist der Einzige, der hier liegt. Vom Liedtext her würde ich ja eher das Gegenteil erwarten. Was soll mir diese »umgekehrte« Inszenierung sagen? Im Moment bin ich noch ratlos.


    Gezeigt wird in dieser Inszenierung ein Bild, lieber Dieter, dass sich "im Kopf" des Sängers bildet (in seinem Innern, daher liegt er quasi träumend auf dem Boden und richtet sich dann auf): er sieht sich der "feinen Gesellschaft" gegenübergestellt (der soziologische Konflikt einsames Individuum und Gesellschaft). Sie starrt ihn wie ein exotisches Tier an (einen Fremden). Warum? Er wird ja erst in ihrem Blick zum Außenseiter. Diese ihm so verliehene Außenseiterstellung kommentiert er dann wiederum singend für uns als Betrachter mit Spott und Ironie (so als eine Art Heinrich Heine), blickt uns deshalb an: seht her, was ich Euch zeige! Das ist schon sehr intelligent und witzig gemacht! Die Bilder verdoppeln nicht das im Text Gesagte, sondern interpretieren dessen unausgesprochenen Sinn (der eben "im Kopf" des Sängers entsteht und nicht aufgeschrieben steht)! :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Hört man diese Aufnahme der „Winterreise“ unmittelbar nach der vorangehend vorgestellten mit Ian Bostridge und Leif Ove Andsnes, so meint man eine andere liedinterpretatorische Welt zu betreten: Es ist die eines wunderbar schlichten, gleichsam gradlinig-unverschörkelten, ohne aufgesetzte deklamatorische Effekte auskommenden Liedgesangs. Und in eben dieser Eigenschaft wird er Schuberts Liedmusik in der „Winterreise“, die sich ja in der Melodik wie im Klaviersatz durch bemerkenswerte Einfachheit, die Reduktion auf das liedkompositorisch Notwendige auszeichnet, in geradezu vollkommener Weise gerecht.


    Andreas Staier stimmt darin mit Christoph Prégardien nahtlos überein. Dass er im Vorspiel die Sechzehntel-Figur im Bass nicht so schroff abreißen lässt, wie das etwa Alfred Brendel oder Gerold Huber machen, mag dem Instrument geschuldet sein, einem Fortepiano von Johann Fritz (Wien c.1825) Ansonsten verbindet er auf beeindruckende Weise Präzision und Behutsamkeit im Zusammenspiel mit der Deklamation der melodischen Linie und setzt in den hier so wichtigen Zwischenspielen markante Akzente. Die aus oberer Diskantlage in tiefe fallenden Achteltriolen im Zwischenspiel zwischen der zweiten und der dritten Strophe wirken wie kristallin gezeichnet und machen auch diese Weise die Rückkehr des Winterreisenden aus der Imagination der Welt der warmen „Kissen“ in „Realität“ der kalten nächtlichen Winterwelt, die er gerade durchwandert, klanglich sinnfällig.


    Durchweg hält Prégardien beim Vortrag der melodischen Linie die richtige Balance zwischen Verhaltenheit im Ausdruck und aus dem lyrischen Text sich herleitender Steigerung der Expressivität. Dass sich hier ein durchweg im Bereich des Pianos verbleibender innerer Monolog ereignet, ist an jeder Stelle des Liedes auf unmittelbare Weise vernehmlich. Die erste Strophe nimmt er so, wie Schubert das in der Struktur der melodischen Linie und dem die situativen Gegebenheiten imaginierenden Klaviersatz (Hundeknurren und –bellen) vorgegeben hat: Er bleibt in der Gestaltung der melodischen Linie gleichsam sachlich-deskriptiv, klammert jegliche affektiven, sich aus der Semantik des lyrischen Textes speisenden deklamatorischen Effekte aus. Die melodische Linie kommt in ihrem anfänglich ruhigen Auf und Ab über die Terz und die Sexte, bzw. Septe unverstellt zur Geltung und entfaltet gerade dadurch die ihr ganz eigene, eben die situativen Gegebenheiten melodisch reflektierende Expressivität.


    Und Prégardien erliegt auch nicht der Versuchung, in die Imagination der nächtlichen dörflichen Lebenswelt, wie sie sich in den nachfolgenden Versen der (Lied-) Strophe musikalisch ereignet, irgendeinen Unterton zu legen, - einen spöttischen zum Beispiel, wie das so mancher Interpret gerne macht. Er behält den gestalterischen Gestus des Liedanfangs bei bis hin zu den Worten „Und morgen früh ist alles zerflossen“. Die melodische Linie lässt er hier in ihrem Wesen erklingen: Es ist in der mit einem Ritardando versehenen Fallbewegung ein Ausklingen dessen, was sie zuvor zum Ausdruck brachte. Und so deklamiert Prégardien sie auch: Mit einer leicht akzentuierten Dehnung aus dem Wort „alles“ und einem ruhigen, das heißt die Wortsilben nicht eigens betonenden Verklingen-Lassen des Wortes „zerflossen“.


    Keine Anmutung von Spott, schon gar keine von Hohn ist in dem doppelten „Je nun“, das nachfolgt, zu vernehmen. Die Art, wie die melodische Linie dieser (zweiten) Strophe deklamiert wird, lässt Einfühlung in diese nächtlich-dörfliche Lebenswelt vernehmen, - eine Einfühlung, bei der man die Distanz zu hören vermeint, aus der heraus sie erfolgt. Auch hier bleibt Prégardien seinem Grundverständnis dieses Liedes treu: Der einsame Wanderer imaginiert sich eine Welt, die ihm ein für allemal verschlossen bleiben wird, und es bleibt ungewiss, ob er ihr vielleicht doch zugehören möchte, oder sich endgültig mit seinem Schicksal der gesellschaftlichen Exorbitanz abgefunden hat. Das ist Prégardiens „Winterreisender“ - darin auch der von Fischer-Dieskau übrigens -, und diesen gestaltet er sängerisch mit bemerkenswerter Konsequenz. Auch den letzten Worten, „auf ihren Kissen“, verleiht er nur den deklamatorischen Akzent, der sich aus ihrer Ausklang-Funktion in dieser imaginativen Phase des Liedes ergibt. Der Sekundfall auf dem Wort Kissen wird mit einer leicht akzentuierten Dehnung auf der ersten Silbe deklamiert, und dann klingt die melodische Linie in der Wiederholung des Tones „D“ auf der zweiten Silbe ganz und gar unspektakulär aus.


    Die Worte „Bellt mich nur fort, ihr wachen Hunde“ deklamiert Prégardien ebenfalls genau so, wie Schubert das haben wollte: Ohne jeglichen vordergründig-appellativen Beiklang, also nicht nach außen, sondern in sich hinein gerichtet. Der Wanderer spricht mit sich selbst, nicht mit den Hunden, und bei Prégardien hört man das. Er verleiht der melodischen Linie auch nicht die klangliche Anmutung von Bitternis. Sie wirkt in seiner sängerischen Gestaltung auf bemerkenswerte Weise nüchtern, was die abgrundtiefe Resignation, die diesen Winterreisenden in Besitz genommen hat, auf umso eindringlichere Weise vernehmen lässt. Prégardien lässt auf höchst dezente Weise Müdigkeit in seine Gestaltung der Vokallinie einließen. Schon jetzt, an dieser Stelle, - die letzten lyrischen Worte, dieses Zu-Ende-Sein“ gleichsam vorausnehmend.


    Und dieses „Ich bin zu Ende mit allen Träumen“ kommt bei ihm auf höchst beeindruckende, fast schon beängstigende Weise. Nicht in einem gleichsam proklamierenden Tonfall (wie bei Matthias Goerne zum Beispiel), sondern ganz leise, von unten her in die Seele schleichend und sie als Lebensgefühl in Besitz nehmend. Großer Liedgesang ist das, was man hier vernimmt! Und das gilt auch für die folgenden Liedverse. Die Frage „Was will ich unter den Schläfern säumen?“ wird, darin ganz auf den Akkorden aufbauend, aus denen Schubert hier den Klaviersatz gebildet hat, in sehr ruhigen, das existentielle Gewicht dieser Frage vernehmlich werdenden melodischen Schritten deklamiert.


    Diesem interpretatorischen Konzept folgt er auch bei der Wiederholung. Die Zurücknahme der Stimme ins Pianissimo im Zusammenhang mit der harmonischen Rückung nach B-Dur ist wahrlich tief beeindruckend: Er macht eine winzige Pause vor dem Wort „Ende“ und lässt die Stimme dann ganz leise einsetzen, sich aber noch innerhalb dieses Wortes wieder in der Dynamik leicht steigern. Dem Wort „träumen“ verleiht er einen leicht lieblichen Beiklang. Und dann folgt die erneut in dieser gewichtigen, aber sehr wohl im Piano verbleibenden Weise deklamierte Wiederholung des letzten Verses, - mit dem sehr lang gehaltenen, in leichter Müdigkeit auf Ausklang hin angelegten gedehnten Terzfall bei dem Wort „säumen“.

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  • Gezeigt wird in dieser Inszenierung ein Bild, lieber Dieter, dass sich "im Kopf" des Sängers bildet (in seinem Innern, daher liegt er quasi träumend auf dem Boden und richtet sich dann auf): er sieht sich der "feinen Gesellschaft" gegenübergestellt (der soziologische Konflikt einsames Individuum und Gesellschaft). Sie starrt ihn wie ein exotisches Tier an (einen Fremden). Warum? Er wird ja erst in ihrem Blick zum Außenseiter. [...] Die Bilder verdoppeln nicht das im Text Gesagte, sondern interpretieren dessen unausgesprochenen Sinn (der eben "im Kopf" des Sängers entsteht und nicht aufgeschrieben steht)!

    Danke für die Erläuterung. Das erscheint mir einleuchtend.

  • Auf MDR Figaro gab es gestern einen Beitrag, in dem junge Neueinspielungen besprochen wurden, u.a. auch Goerne, Behle und Kaufmann. Interessierte finden die Sendung in den nächsten Tagen hier zum Nachhören:


    'http://www.mdr.de/mdr-figaro/musik/audio1133364.html

    "Geduld und Gelassenheit des Gemüts tragen mehr zur Heilung unserer Krankheiten bei, als alle Kunst der Medizin." (W.A. Mozart)

  • Es ist die eines wunderbar schlichten, gleichsam gradlinig-unverschörkelten, ohne aufgesetzte deklamatorische Effekte auskommenden Liedgesangs. Und in eben dieser Eigenschaft wird er Schuberts Liedmusik in der „Winterreise“, die sich ja in der Melodik wie im Klaviersatz durch bemerkenswerte Einfachheit, die Reduktion auf das liedkompositorisch Notwendige auszeichnet, in geradezu vollkommener Weise gerecht.

    Diesen Eindruck der Schlichtheit vermittelt für mich auch die Aufnahme von Geraerts und Rémy (und so hat es ja Schubert selbst gewollt, wenn man dem Beiheft dieser CD glauben darf). Das scheint mir bei Geraerts sogar noch besser gelungen als bei Prégardien, aber vielleicht trägt dazu auch bei, dass seine Stimme einfach weniger »schön« ist als die von Prégardien, was für mich noch besser zum Lied passt. Bei Prégardien stört mich etwas, dass die Stimme – ich weiß nicht, wie ich als Laie das richtig beschreiben soll – in den Höhen irgendwie »süßlicher« oder prononcierter klingt, so als ob er da besonders forciert. Das ist bei Geraerts nicht so.

  • Zit: „so hat es ja Schubert selbst gewollt, wenn man dem Beiheft dieser CD glauben darf“


    Das „darf“ man sehr wohl, - man kann es ja sehen. Die Liedmusik der „Winterreise“ ist von einer bemerkenswerten strukturellen Schlichtheit. In diesem Lied zum Beispiel setzt sich der Klaviersatz aus drei Elementen zusammen: Dem „Hundegebell-Motiv“, den gleichsam fließenden Achtel-Akkord-Folgen der zweiten Strophe und den eher statischen sechs- bis siebenstimmigen Akkorden bei den Worten „Was will ich unter den Schläfern säumen“. Markante harmonische Rückungen finden nicht statt. Die ausgeprägteste ist die von D- nach B-Dur bei der Wiederholung von „ich bin zu Ende“.


    Dass die melodische Linie der Singstimme ebenfalls strukturell einfach angelegt ist, darauf wurde ja schon hingewiesen. Das einfache Auf und Ab über sich wiederholende Intervalle der ersten Strophe wiederholt Schubert ja sogar noch einmal. Und man begegnet ihm auch dort, wo die Vokallinie nicht so statisch wie hier, sondern ein wenig stärker melodisch fließend ist, in der zweiten Strophe also. Auch dort aber beschreibt sie teilweise dieses für das Lied so typische sich wiederholende Auf und Ab: Bei den Worten „Doch wieder zu finden“.


    Das Prinzip der Wiederholung spielt ohnehin in der Winterreise eine sehr große Rolle. Oft wiederholen die Nachspiele die Vorspiele in weitgehend identischer oder zumindest die zentralen Motive aufgreifender Form. Hier ist dies ja auch der Fall. Ich habe das immer so verstanden, dass Schubert damit zum Ausdruck bringen wollte, dass dieser Wanderer sich im Kreise dreht, nicht von der Stelle kommt, - weil ihm in seiner Wanderschaft das Ziel abhanden gekommen ist.

  • Zitat

    Keine
    Anmutung von Spott, schon gar keine von Hohn ist in dem doppelten „Je nun“, das nachfolgt, zu vernehmen. Die Art, wie die melodische Linie dieser (zweiten) Strophe deklamiert wird, lässt Einfühlung in diese nächtlich-dörfliche Lebenswelt vernehmen, - eine Einfühlung, bei der man die Distanz zu hören vermeint, aus der heraus sie erfolgt.

    Mir sagt ehrlich gesagt, lieber Helmut, die Aufnahme von Christoph Pregardien nicht viel. Das ist freilich sehr schön und klar gesungen - man hört ein wunderschönes Schubert-Lied. Aber mehr auch nicht. Wo Bostridge versucht, die Musik sehr rhetorisch zum Sprechen zu bringen, spricht sie hier gar nicht mehr: Melos statt Sprechmelodie. Das andere Extrem. Hier muß ich doch mal eine Lanze für Bostridge brechen. Erfrischend ist das nicht zuletzt deshalb, als dies gegen einen gewissen "Winterreise-Mythos" geht, so eine Art "Jargon der Eigentlichkeit" (mit Adorno) in Sachen Schubert, so als ginge es hier nur um das Wahre, Reine und Schöne - die "schöne Seele" in ihrer Fixierung auf den Tod. Zur Romantik gehört aber eben auch der Zynismus, der Nihilismus, die Ironie und der Spott, alle menschlichen Schwächen wie auch eine gewisse Überheblichkeit in dieser Wanderer-Figur. Für eine "Einfühlung in eine nächtlich-dörfliche Lebenswelt" sehe ich zudem vom Text her kaum einen Beleg. Da wandert einer durch irgend ein Dorf mit Menschen, die schlafen. Die Stadt kann es nicht sein, weil in der damaligen Zeit zur nächtlichen Stunde einfach die Stadttore zu waren. Der Ort ist auswechselbar - es geht hier sehr allgemein und typisiert nur um Menschen (nicht konkret um Dorfbewohner), die eben nicht heimatlos sind sondern ein Heim haben, einen festen Platz in der Welt. Bei Fischer-Dieskau 1948 hört man auch einen sprechenden Ausdruck - nicht den von Spott, sondern von Tragik. Dagegen empfinde ich Pregardien doch als ziemlich harmlos.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Zit: „Das ist freilich sehr schön und klar gesungen - man hört ein wunderschönes Schubert-Lied. Aber mehr auch nicht.“

    So ist es!
    Was will man denn mehr?


    Apropos „Jargon der Eigentlichkeit“, - hier geht´s um Musik und die Wahrhaftigkeit ihrer Interpretation, nicht um philosophische Reflexion und die Sprachlichkeit, in der sie sich ereignet.
    Als man Christian Gerhaher fragte, woran er sich als Sänger und Liedinterpret in erster Linie orientiere, antwortete er: „Wahrhaftigkeit“.
    Und hinsichtlich der „Winterreise“ merkte er trocken an: „Ich kann doch keine Winterreise light (ich meine damit natürlich >extra bitter<) aufführen, um mehr Publikum zu gewinnen.“


    Ich bin mir sicher: Christoph Prégardien würde das alles unterschreiben.
    Er meinte, auf seine Grundhaltung als Liedinterpret angesprochen:
    „Das Lied ist ja eine komponierte Interpretation eines Textes, und ich habe dann die Aufgabe wie ein Medium den lyrischen Gehalt solcher Werke dem Publikum zu überbringen.“


    Wohlgemerkt: Der Künstler als „Medium“ des lyrischen Gehalts, wie er ihn im Lied als „komponierte Interpretation des Textes“ vorfindet.
    Nicht einer, der dem, was das Lied zu sagen hat, noch etwas draufsetzt, das, was er aus ihm herausliest und von dem er meint, er müsse es dem Hörer unbedingt mitteilen, um ihm die Ohren für das zu öffnen, was der Komponist hier eigentlich sagen wollte.


    Und wenn er in dieser Haltung als "Medium" das Lied "Im Dorfe" singt, dann kommt eben das dabei heraus, was im obigen Zitat in voll zutreffender Weise konstatiert wurde: "Ein wunderschönes Schubert-Lied".


    (Und weil ich eben gerade höre, wie die Regietheater-Nachtigall nun auch im Liedforum herumzutrapsen beginnt, werde ich zu diesem Thema hier kein Wort mehr verlieren, sondern die nächste sängerische Interpretation des Liedes "Im Dorfe" einstellen)

  • Ich gebe Dir ja in einem wesentlichen Punkt Recht, lieber Helmut. Bei Ludwig Tieck ist zu lesen, solange die Musik nur "erhöhte Deklamation und Rede" ist, sei sie nicht " abhängig und frei". Die Romantik ist tendentiell rhetorikkrtitisch und den Einfluß von Rousseau (die unmanieriert schlicht gesungene Melodie als Ideal) darf man einfach nicht unterschätzen. Insofern bürstet Bostridge mti seiner Überbetonung des Deklamatorischen den Romantiker Schubert (sicher ganz bewußt!) gegen den Strich. Aber andererseits glaube ich kaum, dass man durch Analyse zeigen kann, dass "Spott" hier der falsche Ausdruck ist. Rhetorikkritik heißt auch, dass es nicht mehr wie im Barock "Figuren" mit festgelegten Ausdruckswerten gibt, die man sozusagen als Allgemeingut abrufen kann.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Bei der Vorstellung seiner Interpretation des Liedes „Im Dorfe“ wurde darauf verwiesen, dass dem Hörer hier ein neuer Winterreisender begegnet, einer der hinnimmt, dass er am Ende seiner Träume ist, und sich damit abfindet, von der bäuerlichen Lebenswelt, die ihm nächtens gleichsam visionär begegnet, ein für allemal abgeschnitten zu sein. Einer also, der im Gegenteil in seiner gegenwärtigen existenziellen Situation seine Identität findet.


    Das ist ein Verständnis dieser Gestalt, die, wie ich das sehe, in einem wesentlichen Punkt von dem abweicht, wie sie einem z.B. bei Fischer-Dieskau begegnet, und dahinter steht natürlich ein spezifisches Grundverständnis dieses Schubertschen Liederzyklus. Hierzu kann man in dem Interview, das Gerhaher der Musikwissenschaftlerin Vera Baur gegeben hat („Halb Worte sind´s, halb Melodie“, Leipzig 2015) folgendes lesen:


    (Die Winterreise) „wird immer wieder mit so vielen Dingen konfrontiert, die meiner Ansicht nach nicht seriös sind. Dass man den Inhalt immer von hinten angeht, vom Wirtshaus als Allegorie des Friedhofs, also vom Tod her, führt zu einem existenzialistischen Eskapismus. Da ergeht man sich 80 Minuten lang in Weltschmerz. Dieser für mich falschen Haltung leisten manche Interpreten mit vielen Seufzern und Schluchzern oft noch Vorschub. Das Ganze wird also banalisiert und verschmust, was aber auf Dauer nicht zu einem glücklichen Kunsterleben führen kann. Eine säkulare Haltung, wie sie Dietrich Fischer-Dieskau etabliert hat, nämlich dass man nicht zu viel an dargestellten Emotionen hinzugibt, empfinde ich hier immer noch als das Richtige.“


  • Wohlgemerkt: Der Künstler als „Medium“ des lyrischen Gehalts, wie er ihn im Lied als „komponierte Interpretation des Textes“ vorfindet.
    Nicht einer, der dem, was das Lied zu sagen hat, noch etwas draufsetzt, das, was er aus ihm herausliest und von dem er meint, er müsse es dem Hörer unbedingt mitteilen, um ihm die Ohren für das zu öffnen, was der Komponist hier eigentlich sagen wollte.

    Da gibst Du nun selbst ein Beispiel, wie schweirig es mit dieser Unterscheidung ist :D :


    Bei der Vorstellung seiner Interpretation des Liedes „Im Dorfe“ wurde darauf verwiesen, dass dem Hörer hier ein neuer Winterreisender begegnet, einer der hinnimmt, dass er am Ende seiner Träume ist, und sich damit abfindet, von der bäuerlichen Lebenswelt, die ihm nächtens gleichsam visionär begegnet, ein für allemal abgeschnitten zu sein.


    Es bellen die Hunde, es rasseln die Ketten;
    Es schlafen die Menschen in ihren Betten,
    Träumen sich manches, was sie nicht haben,
    Tun sich im Guten und Argen erlaben;


    Und morgen früh ist alles zerflossen.
    Je nun, sie haben ihr Teil genossen
    Und hoffen, was sie noch übrig ließen,
    Doch wieder zu finden auf ihren Kissen.


    Bellt mich nur fort, ihr wachen Hunde,
    Laßt mich nicht ruh'n in der Schlummerstunde !
    Ich bin zu Ende mit allen Träumen.
    Was will ich unter den Schläfern säumen ?


    Die "bäuerliche Lebenswelt" soll zum "lyrischen Gehalt" gehören? Ich finde sie da nicht. Nichts weist auf eine solche "Pastorale" hin. Gesprochen wird nur ganz allgemein von "Menschen in ihren Betten". Deine Interpretation erinnert mich an Heideggers berühmte Deutung, der in Van Goghs Schuhen partout Bauernschuhe sehen wollte, obwohl davon rein gar nichts gezeigt ist! :D


    Schöne Grüße
    Holger

  • Auf den von Dr. Holger Kaletha hier argumentativ eingebrachten Begriff "Pastorale" möchte ich nicht eingehen, - und auf van Goghs "Bauernschuhe" schon gleich gar nicht. Ich vermag den Zusammenhang mit dem nicht zu erkennen, worum es hier in diesem Lied "Im Dorfe" und seine sängerische Interpretation geht. Ist mir alles diskursiv zu weit hergeholt. Weiß der Himmel, warum.


    Wohl aber auf die Feststellung "Ich finde sie da nicht."
    Wenn Wilhelm Müller in diesem Gedicht das Bild von den "Kettenhunden" zitiert, dann evoziert er lyrisch bäuerliche Welt. "Kettenhunde", das dürfte eigentlich für jeden klar sein, der sich in der Lebenswelt des neunzehnten Jahrhunderts ein wenig auskennt, halten sich Bauern vor ihrem Hof, nicht aber Städter vor ihrem Haus. In die bürgerliche Lebenswelt gehören "Kettenhunde" nicht nur nicht, sie sind dort ein das bürgerliche Lebensgefühl regelrecht verletzendes Unding.

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  • Auf den von Dr. Holger Kaletha hier argumentativ eingebrachten Begriff "Pastorale" möchte ich nicht eingehen, - und auf van Goghs "Bauernschuhe" schon gleich gar nicht. Ich vermag den Zusammenhang mit dem nicht zu erkennen, worum es hier in diesem Lied "Im Dorfe" und seine sängerische Interpretation geht. Ist mir alles diskursiv zu weit hergeholt.

    Ich verstehe nicht recht, warum Du dich in dem Punkt mit Holger streitest. Deine ausführlichen, die interpretatorischen Details in den Mittelpunkt stellenden Beiträge einerseits und Holgers weiter ausholende Perspektive müssen einander doch nicht ausschließen. Ich lese beides mit Gewinn, auch wenn ich das Gefühl habe, dass ich bisher noch nicht so recht weiß, wie ich letztlich dran bin.


    Wenn Wilhelm Müller in diesem Gedicht das Bild von den "Kettenhunden" zitiert, dann evoziert er lyrisch bäuerliche Welt. "Kettenhunde", das dürfte eigentlich für jeden klar sein, der sich in der Lebenswelt des neunzehnten Jahrhunderts ein wenig auskennt, halten sich Bauern vor ihrem Hof, nicht aber Städter vor ihrem Haus. In die bürgerliche Lebenswelt gehören "Kettenhunde" nicht nur nicht, sie sind dort ein das bürgerliche Lebensgefühl regelrecht verletzendes Unding.

    Das kommt wohl sehr darauf an, wie wörtlich man die Wendung nimmt. Es wurde darauf hingewiesen, dass die Stadt schon deshalb ausscheidet, weil dort die Tore nachts geschlossen waren. Müller wollte vielleicht nicht unbedingt, aber er musste aufs Land gehen. Von daher scheint mir nicht ausgemacht, ob man die Kettenhunde wirklich als zwingenden Beleg dafür sehen kann, dass nur eine dörfliche Umgebung möglich ist. Ich konnte die Winterreise jedenfalls noch nie als wörtliche Beschreibung einer äußerlichen Handlung sehen. Sie ergibt für mich nur Sinn als Ausdruck oder Beschreibung eines inneren Zustands.

    Trotzdem habe ich im Moment noch die Schwierigkeit, Schuberts Forderung nach möglichster Schlichtheit mit Holgers Gefallen an mehr Ausdruck zusammenzubringen.

  • Auf den von Dr. Holger Kaletha hier argumentativ eingebrachten Begriff "Pastorale" möchte ich nicht eingehen, - und auf van Goghs "Bauernschuhe" schon gleich gar nicht. Ich vermag den Zusammenhang mit dem nicht zu erkennen, worum es hier in diesem Lied "Im Dorfe" und seine sängerische Interpretation geht. Ist mir alles diskursiv zu weit hergeholt. Weiß der Himmel, warum.


    Wohl aber auf die Feststellung "Ich finde sie da nicht."
    Wenn Wilhelm Müller in diesem Gedicht das Bild von den "Kettenhunden" zitiert, dann evoziert er lyrisch bäuerliche Welt. "Kettenhunde", das dürfte eigentlich für jeden klar sein, der sich in der Lebenswelt des neunzehnten Jahrhunderts ein wenig auskennt, halten sich Bauern vor ihrem Hof, nicht aber Städter vor ihrem Haus. In die bürgerliche Lebenswelt gehören "Kettenhunde" nicht nur nicht, sie sind dort ein das bürgerliche Lebensgefühl regelrecht verletzendes Unding.

    Du übergehst einfach das Entscheidende - und verstehst deshalb den hier wirklich aufschlußreichen Vergleich mit van Gogh nicht. Zu einer Milieuschilderung (der einer Lebenswelt) gehört hermeneutische Konkretion. Hier gibt es statt dessen Abstraktion. Ein Pieter Brueghel würde Schuhe malen, die in einer Bauernkneipe in der Ecke stehen. Van Gogh dagegen setzt sie abstrakt auf eine leere Fläche. Vergleichbares passiert auf sprachlicher Ebene in Müllers Gedicht. Er hätte schreiben können "Bauern schlafen in ihren Betten" - und von Kettenhunden und Hofhunden spricht er auch nicht. Denn all das ist nicht Gegenstand der Wahrnehmung des lyrischen Ich. Die lebensweltliche Konkretion (eben das bäuerliche Milieu) wird sprachlich aus dem lyrischen Gehalt entfernt. Das lyrische Ich nimmt die Welt nur in dem wahr, was seiner eigenen Befindlichkeit entspricht und im Kontrast zu ihr: Er muß unbehaust wachen und wandern - während Menschen (um welche sich handelt, spielt für die Wahrnehmung keine Rolle) dagegen an diesem Ort einen Ruheort haben und schlafen und träumen. Von "Kettenhunden" oder "Hofhunden" ist auch nicht die Rede, sondern nur von Hunden, die ihn feindlich und bedrohlich von der Behausung fernhalten (durch Bellen und Kettenrasseln). Es geht also um ein virtuelles Spiegelbild der Befindlichkeit der Unbehaustheit dieses Wanderers, nicht die Schilderung eines "realen" bäuerlichen Milieus. Genau das wird von dieser Befindlichkeit der Fremdheit und dem aus ihr resultierenden abstraktiven Sehen selektiv ausgeblendet und damit das Milieuhafte ins Allgemeinmenschliche transzendiert. Es schlafen und träumen dort Menschen, nicht Bauern. Das ist der "lyrische Gehalt", die Aussage des Gedichts. So geht es hier gerade nicht um die bekannte romantische Begeisterung für das Landleben - die gibt es anderswo, aber nicht hier.


    P. S.: Wenn Dich "bürgerlich" stört, nenne es "gesellschaftlich". Der Wanderer ist eine Paria-Gestalt.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Trotzdem habe ich im Moment noch die Schwierigkeit, Schuberts Forderung nach möglichster Schlichtheit mit Holgers Gefallen an mehr Ausdruck zusammenzubringen.

    Wo "fordert" das Schubert denn so eindeutig, lieber Dieter? Sicher gibt es diese Tendenz. Aber das Rhetorische ist auch in der Romantik nicht einfach verschwunden. Das wäre nun wieder eine Komplexitätsreduktion und durchaus fragwürdige Idealisierung. Es gibt offenbar Interpreten, welche bewußt Abstand nehmen von einem allzu idealisierten Schubert-Bild. Das ist ihr gutes Recht, finde ich.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Hallo (zu „Im Dorfe“),


    es tritt genau das ein, was ich kommen sah: Ein wenig effektiver Austausch von Meinungen, ohne sich mit dem Grundproblem, was steht im Gedicht, zu befassen. Was Müller ausdrücken wollte, weiß ich z. T. nicht, also der 1. Schritt, wie verstehe ich das Gedicht:


    1. Vers: Die Menschen schlafen („den Schlaf des Gerechten“) in ihren Betten (sind also uninteressiert, was “draußen“ in der Welt vorgeht), obwohl die Hunde bellen und mit ihren Ketten rasseln (es gibt also etwas, was nicht in Ordnung ist, sonst würden die Hunde nicht...). Träumen sich Manches, was sie nicht haben (realitätsfern!).
    Die 4. Zeile des 1. Verses und den gesamten 2. Vers stelle ich unter die Überschrift (auf Details einzugehen, verbietet sich hier): Der Frust des Liebeslebens, wenn die Liebe vorbei ist, es letztlich nur noch um gegenseitige (?) sexuelle Befriedigung geht (das meint auch Müller – m. E.)
    3. Vers: Bellt mich nur fort ihr wachen Hunde (den wachen Hunden…), lasst mich nicht ruhn in der Schlummerstunde (…sei Dank, dass ich – der Winterreisende – nicht auch zu den in den Versen 1 + 2 Beschriebenen gehöre). Ich bin zu Ende mit allen Träumen (der Winterreisende verabschiedet sich von den in den Versen 1 + 2 Beschriebenen, er ist in der Realität angekommen), was soll ich unter den Schläfern säumen (der Winterreisende hat mit "Denen" nichts Gemeinsames)?
    Ob sich dieses Verständnis des 17. Gedichts in die gesamte Gedichtsammlung einfügen lässt?
    (Es wäre also mit dem 1. Gedicht zu beginnen.)


    Wie hat Schubert dieses Gedicht verstanden – erkennbar an seiner Vertonung; kann ich dieses Verständnis nachvollziehen (unter Berücksichtigung 1. des damaligen Zeitgeistes und 2. seiner Lebensumstände)?


    Erst dann kann ich zu jetzigen Interpretation kommen.


    Keine Sorge - ich werde mich nicht weiter beteiligen, solange am bisherigen Konzept des Threads festgehalten wird.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Horsts „Einwände“ lohnt es sich aufzugreifen und die Frage zu stellen: Was passiert, wenn dieser Text durch Musik vertont wird?


    Es bellen die Hunde, es rasseln die Ketten;
    Es schlafen die Menschen in ihren Betten,
    Träumen sich manches, was sie nicht haben,
    Tun sich im Guten und Argen erlaben;


    Und morgen früh ist alles zerflossen.
    Je nun, sie haben ihr Teil genossen
    Und hoffen, was sie noch übrig ließen,
    Doch wieder zu finden auf ihren Kissen.


    Bellt mich nur fort, ihr wachen Hunde,
    Laßt mich nicht ruh'n in der Schlummerstunde !
    Ich bin zu Ende mit allen Träumen.
    Was will ich unter den Schläfern säumen ?


    Was an Müllers Dichtung auffällt ist ihr „dokumentarischer“ Charakter. Relativ emotionslos nüchtern, quasi „objektiv“, beschreibt das Subjekt seine Situation, in der es sich befindet. Wir erfahren lediglich in der letzten Strophe, dass ihm die Abweisung durch die Welt nicht viel bedeutet – er ihr mit selbstbewusster Gleichgültigkeit begegnet. Das ist aber im Grunde ziemlich wenig. Welche konkreten „Gefühle“ er dabei hat – ob er etwa unter der Situation leidet – darüber schweigt sich diese Dichtung komplett aus. Die „Empfindsamkeit“, die man eigentlich von Lyrik erwartet, wird also im Grunde so gut wie ausgespart.


    Genau das – Gefühl und Empfindung zu zeigen – ist es aber, was man von der Musik erwartet. Hintergrund für die Romantik ist die Gefühlskultur der Empfindsamkeit – in der Sprache der Zeit ausgedrückt will man „Rührung“ empfinden. Musik soll also vor allem „das Herz rühren“, sonst wird sie als ausdrucksleer empfunden. Die Liedvertonung kann also nicht in gleicher Weise die Empfindsamkeit in der Aussage gleichsam aussparen, wie es die Dichtung vermag. Sie fügt also deshalb diese zum Gehalt hinzu: bei Fischer-Dieskau ist es der leidende, Tragik ausdrückende Ton, bei anderen die Gefühlsfärbung von Ironie und Spott. Was die reine Dichtung verkraftet, gerät so auch in der Liedvertonung zum möglichen Einwand: Das Aussparen von (affektiver, gefühlvoller) Empfindsamkeit wird als Ausdrucksmangel wahrgenommen.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Bellt mich nur fort, ihr wachen Hunde,
    Laßt mich nicht ruh'n in der Schlummerstunde !
    Ich bin zu Ende mit allen Träumen.
    Was will ich unter den Schläfern säumen ?


    Nachtrag zur Interpretation der Schlussstrophe: „Gleichgültigkeit“ ist wohl nicht das richtige Wort. Die Abweisung begreift er nicht als Anfechtung, sondern münzt sie gleichsam um in aktive Selbstbestätigung des von ihm eingeschlagenen Weges. Im „Lindenbaum“ wird ja deutlich, dass es zwar Erinnerung, aber keinen Weg zurück gibt: die Richtung dieser Wanderschaft ist unbeirrbar vorwärts, geht irreversibel die Vergangenheit endgültig hinter sich lassend in die Zukunft. Die Zurückweisung (die durch die zähnefletschenden Hunde eine physische Bedrohung ist) wird somit nicht nur als Zwang und Erleidnis von der Außenwelt her wahrgenommen, sondern umgemünzt in sehr selbstbewusste, willentliche Selbstaffirmation des selbstgewählten Lebensentwurfes – er identifiziert sich mit seiner Rolle des Außenseiters auch in dem Bewusstsein, einen Erkenntnisvorsprung zu haben, die alltäglichen Lebenslügen gesellschaftlicher Existenz zu durchschauen und von daher ihrer unbedürftig zu sein. Auch hier bleibt der Ausdruck was die Empfindsamkeit angeht dürftig, eine Leerstelle: Sagt er das nun mit dem Ton von Verzweiflung, von Trotz, mit Abscheu oder Ekel, mit Ironie oder zynischem Sarkasmus oder gar mit einem Anflug von Resignation oder gequältem Leiden? Hier ist es dann die Rolle der Musik, diese Leerstelle zu füllen und das beteiligte Selbstempfinden zum Ausdruck zu bringen.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Der österreichische Bariton Wolfgang Holzmair tritt, wie es im Booklet heißt, als Liedsänger „regelmäßig in den führenden Musikzentren der Welt auf“, gab schon Liederabende u.a. in London, Washington, New York, Baltimore, Berkeley, Moskau und Oxford. Auch eine ganze Reihe von Liedaufnahmen liegt von ihm vor (u.a. Lieder von Clara und Robert Schumann ,Schubert, Hugo Wolf und Schreker).


    Der Winterreisende, der einem hier begegnet, ist der Einsame, der in der Winternacht die dörfliche Welt als eine fremde, ihm verschlossene, ja ihn abweisende erfährt und darüber in einen stille, von einem leichten Klageton begleitete Betrachtung über das Wesen seiner Existenz verfällt. Man meint zu hören, dass Holzmair und Haefliger sich dem Ethos der absoluten Notentreue verpflichtet fühlen. Holzmair verzichtet auf jegliche, die Semantik des lyrischen Textes über Gebühr bemühende sängerische Interpretation der melodischen Linie und beachtet sorgfältig alle Vorgaben des Notentextes – etwa bei den Bögen, die Schubert der in Terzen ansteigende melodische Linie bei den Worten „mit allen Träumen“ beigegeben hat, so dass diese hier jenen leicht elegisch angehauchten Ton entfaltet, der ihr in der Gestalt, die Schubert ihr verliehen hat, innewohnt. Und Haefliger schlägt die Achtelfiguren in so rascher Abfolge und am Ende hart abreißend an, das man das feindlich Abweisende dieser nächtlich-dörflichen Welt vom ersten Takt an unmittelbar zu verspüren meint.


    Gerade weil sie so schlicht, so unprätentiös daherkommt, ist dies nicht nur eine ganz und gar gelungene, sondern auch beeindruckende Interpretation dieses Liedes. Es ist der Geist der Musik Schuberts, den man hier sozusagen unmittelbar und unverfälscht vernimmt. Darin ist diese Aufnahme der vorangehend vorgestellten von Christoph Prégardien und Andreas Staier, was die zugrundliegende interpretatorische Intention anbelangt, innerlich verwandt. Holzmair verfügt über eine relativ helle, wohlklingende Baritonstimme. Im Einsatz ihrer Ausdrucksmittel wirkt er allerdings ein wenig zurückhaltender als Prégardien. So nimmt er zum Beispiel bei dem zweiten „ich bin zu Ende“ die Stimme nicht so stark ins Pianissimo zurück wie dieser und lässt sie auch nicht noch innerhalb des Wortes neue klangliche Substanz gewinnen. Gleichwohl ist bei ihm diese Verinnerlichung des Bekenntnisses, wie sie Schubert mit dem dynamischen Bruch in der melodischen Linie und der harmonischen Rückung nach B-Dur zum Ausdruck bringen wollte, ohne Abstriche zu vernehmen.


    Klanglich fast ein wenig spitz setzt er deklamatorisch ein. Den Worten „Hunde“ und „Ketten“ wird ein leichter Akzent über die Hervorhebung der Tatsache verliehen, dass auf beiden derselbe Ton liegt. Man empfindet das als ganz im Sinne Schuberts: Es lässt den konstatierenden Charakter vernehmen, den dieser der Liedmusik hier verliehen hat, - dabei den lyrischen Text mit seinem immer wiederkehrenden gleichsam sachlichen „Es“ reflektierend. Dem Sextsprung, der danach (beim zweiten Vers) in einen Septfall übergeht gibt er starken stimmlichen Nachdruck, betont mit einem leichten Bogen die Fallbewegung und lässt am Ende das Wort „Betten“ durch starke Betonung des Vokals „e“ in markanter Weise deklamatorisch hervortreten. Er setzt also sehr wohl stimmlich-deklamatorische Ausdrucksmittel ein, dies aber in behutsamer, dem Geist der Komposition gerecht werdender und nicht auf Effekt abgestellter Weise.


    Die Stellen des Liedes, an denen man die interpretatorische Intention – und das Können! – des Sängers besonders gut vernehmen und erkennen kann, sind ja diejenigen, an denen das lyrische Ich sich in seiner seelischen Lage in gleichsam direkter Weise zu erkennen gibt. Erstmals ist das bei den Worten der Fall: „Und morgen früh ist alles zerflossen“. Andere Interpreten legen hier der melodischen Linie einen leicht spöttischen, zuweilen gar höhnischen Ton bei. Holzmair meidet derlei deklamatorische Akzentuierung der Melodik. Er lässt die Vokallinie in ihrer Fallbewegung ruhig ausklingen, hebt aber die Dehnung auf dem Wort „alles“ deutlich hervor. Das hat zur Folge, dass das Wort „zerflossen“ danach wie ein lakonisches Anhängsel daherkommt, was der melodischen Linie im letzten Moment einen nur ganz leichten Anflug von Resignation beigibt.


    Der melodischen Linie der zweiten Strophe verleiht er einen geradezu lieblichen Ton, der frei bleibt von allen weiteren affektiven Konnotationen, die etwa in Richtung von Kritik oder Abwertung dieser dörflichen Lebenswelt gehen könnten. Das doppelte „Je nun“ setzt diesbezüglich einen deutlichen Akzent: Es wird ohne jeglichen – etwa einen hämischen oder ironischen - Unterton als schlicht das Nachfolgende einleitende Interjektion gesungen. Dem doppelten „und hoffen“ wird ein geradezu zärtlicher Ton verliehen, und auch die Art und Weise, wie das das Wort „Kissen“ am Ende deklamiert wird, mit einer starken Hervorhebung der Sekundall-Dehnung nämlich, lässt vernehmen, dass Holzmair und Haefliger die Liedmusik dieser Strophe aus der Haltung des Mitfühlens vortragen, - letzterer in Gestalt einer ausgeprägten Akzentuierung der terzbetonen akkordischen Bögen im Diskant.


    Die Worte „Bellt mich nur fort“ erklingen in gar keiner Weise appellativ. Holzmair singt das punktiert Viertel, das Schubert auf das Wort „bellt“ voll aus, - mit leiser Stimme. Er singt also in sich hinein, ganz im Sinne der Komposition. Das empfindet man auch so bei dem „ich bin zu Ende“. Hier nimmt er die Dynamik, die er in die Deklamation des Septsprungs und –falls bei den Worten „in der Schlummerstunde“ gelegt hat, wieder zurück und setzt pianissimo ein. Diese Zurücknahme der Stimme, die man tatsächlich als Ausdruck einer Selbsterkenntnis versteht, die nicht in die Welt posaunt wird, sondern sich im seelischen Innenraum des lyrischen Ichs ereignet, zeugt von einem tiefen Verständnis des Liedes. Und man kann es als Konsequenz daraus sehen, dass Holzmair in die melodische Linie bei den Worten „Was will ich unter den Schläfern säumen?“ nicht den mindesten Unterton von Klage, seelischem Schmerz oder Resignation legt.
    Sie wird in ihrer sich in zwei kurzen Anstiegen vollziehenden und auf der Terz endenden Fallbewegung, mit der Schubert ja den Fragecharakter des lyrischen Textes überspielt, von Holzmaier wie eine schlichte Feststellung vorgetragen.
    Und damit doch wohl in Schuberts Sinne.

  • Eben höre ich in die Aufnahme Dietrich Fischer-Dieskau und Maurizio Pollini herein. Gleich zu Beginn beeindruckt Pollini ungemein. Das hat Grimm, Bedrohlichkeit. Zugleich aber spielt er wunderbar einfühlsam den melodischen Bogen heraus – der große Chopin-Interpret macht sich hier bemerkbar. Das kommt Schubert zugute. Und Fischer-Dieskau zeigt sich einmal mehr als idealer Interpret. Bei ihm ist einfach alles da – melodische Natürlichkeit und Rhetorik! Auch er deklamiert deutlich - aber es wird eben kein eindimensionaler Manierismus draus, weil er die ständigen Charakterwechsel ungemein zwingend herausarbeitet. Dieser Wanderer ist in sich „gebrochen“ und widersprüchlich, durchlebt alle Konflikte und Gegensätze. Es gibt Grimm, es gibt Trotz, auch Ironie, aber sie wechselt sogleich ab mit zärtlichem Mitfühlen, mit bangem Leid. Am Schluss kommt ein heroischer Ton auf – gewollte Selbstbehauptung aus Verzweiflung. Seelische Komplexität bei Schubert kann man wohl kaum besser gestalten. Ein Maßstab für mich! Bei den Jüngeren, die ich im Rahmen dieses Interpretationsvergleichs gehört habe, vermisse ich das doch etwas – alles wirkt irgendwie ein bisschen eindimensionaler. Aber ich lasse mich gerne eines Besseren belehren.


    Benjamin Britten ganz anders: verhalten, zögernd die Klavierbegleitung. Peter Pears singt ungemein besinnlich-nachdenklich mit einfühlsamer Wärme. Eine sehr „humanistische“ Sicht! Auch das beeindruckt mich sehr.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Wo "fordert" das Schubert denn so eindeutig, lieber Dieter? Sicher gibt es diese Tendenz.


    Am 27. September hatte ich (meine Signatur Lügen strafend) in einer anderen Diskussion geschrieben:


    Obwohl ich eigentlich kein Liebhaber von Vokalmusik bin, fange ich hier mit der Winterreise an, und zwar mit der Einspielung von Harry Geraerts (Tenor) und Ludger Rémy (Hammerflügel). Ein Zitat aus dem Booklet:


    „Über die Art wie Schuberts Lieder vorgetragen werden sollen, bestehen heutzutage unter der Mehrzahl sehr sonderbare Ansichten. Die meisten glauben, das Höchste geleistet zu haben, wenn sie die Lieder in der Art auffassen, welche sie sich als die dramatische vorstellen. Dabei wird möglichst viel deklamiert, bald gelispelt, bald leidenschaftlich aufgeschrien, ritardiert usw. – Ich hörte ihn mehr als hundertmal seine Lieder begleiten und einstudieren, vor allem hielt er immer das strengste gleiche Zeitmaß ein, außer in wenigen Fällen,wo er ausdrücklich ein ritardando, morendo oder accelerando etc. schriftlich angezeigt hatte. Ferner gestattete er nie heftigen Ausdruck im Vortrage." (Leopold von Sonnleithner, 1857)


    Gut, das muss nicht heißen, dass man leidenschaftslos singt ...

  • Du übergehst einfach das Entscheidende - und verstehst deshalb den hier wirklich aufschlußreichen Vergleich mit van Gogh nicht. Zu einer Milieuschilderung (der einer Lebenswelt) gehört hermeneutische Konkretion. Hier gibt es statt dessen Abstraktion. Ein Pieter Brueghel würde Schuhe malen, die in einer Bauernkneipe in der Ecke stehen. Van Gogh dagegen setzt sie abstrakt auf eine leere Fläche. Vergleichbares passiert auf sprachlicher Ebene in Müllers Gedicht. Er hätte schreiben können "Bauern schlafen in ihren Betten" - und von Kettenhunden und Hofhunden spricht er auch nicht. Denn all das ist nicht Gegenstand der Wahrnehmung des lyrischen Ich. Die lebensweltliche Konkretion (eben das bäuerliche Milieu) wird sprachlich aus dem lyrischen Gehalt entfernt. Das lyrische Ich nimmt die Welt nur in dem wahr, was seiner eigenen Befindlichkeit entspricht und im Kontrast zu ihr: Er muß unbehaust wachen und wandern - während Menschen (um welche sich handelt, spielt für die Wahrnehmung keine Rolle) dagegen an diesem Ort einen Ruheort haben und schlafen und träumen. Von "Kettenhunden" oder "Hofhunden" ist auch nicht die Rede, sondern nur von Hunden, die ihn feindlich und bedrohlich von der Behausung fernhalten (durch Bellen und Kettenrasseln). Es geht also um ein virtuelles Spiegelbild der Befindlichkeit der Unbehaustheit dieses Wanderers, nicht die Schilderung eines "realen" bäuerlichen Milieus. Genau das wird von dieser Befindlichkeit der Fremdheit und dem aus ihr resultierenden abstraktiven Sehen selektiv ausgeblendet und damit das Milieuhafte ins Allgemeinmenschliche transzendiert. Es schlafen und träumen dort Menschen, nicht Bauern. Das ist der "lyrische Gehalt", die Aussage des Gedichts. So geht es hier gerade nicht um die bekannte romantische Begeisterung für das Landleben - die gibt es anderswo, aber nicht hier.


    P. S.: Wenn Dich "bürgerlich" stört, nenne es "gesellschaftlich". Der Wanderer ist eine Paria-Gestalt.


    Schöne Grüße
    Holger


    Mit Interesse habe ich die Diskussion verfolgt.


    Warum aber sollten sich - und dieser Eindruck wird von Kaletha sehr wohl heraufbeschworen ("Du übergehst einfach das Entscheidende") - die Sichtweisen von Hofmann und Kaletha gegenseitig ausschließen? Sie relativieren sich meines Erachtens noch nicht einmal, sie ergänzen sich. Im Bild der dörflichen Lebenswelt, die der Wanderer nur als negativ zu empfinden vermag, da er von ihr ausgeschlossen ist und dazu ein widersprüchliches Verhältnis entwickelt, veranschaulichen Müller/ Schubert das innere Unbehaustsein dieses "Parias". Die "Menschen"? Es sind die Menschen, die trotz und vor allem wegen der "Hofhunde" sicher schlafen können - was anderes sollen denn "Hunde" sein, deren Ketten rasseln? [Wenn einer meiner Oberstufenschüler dies bei einer Interpretation übersähe, würde ich es ihm - dezent - ankreiden! Es hier im Kontext zu überspielen, ist, mit Verlaub, wieder einmal Sophisterei der Sonderklasse]; es sind die autarken, stärker als in der Stadt auf sich gestellten Landmenschen. Der sich autark gebärdende und in dieser Autarkie innerlich bedrohte Wanderer wurde doch gerade aus der Stadt ausgeschlossen. Wenn das "Milieuhafte ins Allgemeinmenschliche" transponiert wird - richtig -, dann wird doch damit dieses "Milieuhafte" in einem dialektischen Sinne nicht, zumindest nicht primär aus dem Blickfeld gerückt, sondern eben überhöht.


    Helmut Hofmann hat - vielleicht ein wenig beleidigt, was ich aber gut nachvollziehen kann - das (sinngemäß zitiert) zu weit hergeholte diskursive Moment in den Ausführungen von Dr. Holger Kaletha beklagt, welches die konkrete Deutung des Gedichts durch den Komponisten verdecke, während Holger Kaletha - wenn ich ihn richtig verstehe - diese Deutung eher oder gleichrangig Sänger und Pianisten anheimstellt. Auch hier sehe ich eher eine Ergänzung, keineswegs Momente, welche sich gegenseitig ausschließen. Das romantische Kunstliede ist in der Tat eine bürgerliche Ausdrucksform des spät Empfindsamen, wobei die Gefahr des Abgleitens in die Trivialität (später Thema etwa bei Fontane) stets droht. Die Dichtung eines Müller oder eines Eichendorff ist es meines Erachtens nicht. Nicht grundlos formierten sich die romantischen Schriftsteller und Theoretiker in Zirkeln, diskutierten Fundamente und Realisierungen, ja die Daseinsberechtigung ihres Schaffens in konkret methodischer Sicht wie auf Metaebene. Das heißt aber doch auch, dass der Text viel strenger objektivierten Kriterien unterliegt (bis hin zur beinahe barockhaft rhetorischen Formelhaftigkeit eines Eichendorff) als die Vertonung. (Banalerweise wird man darauf hienweisen müssen, dass die Literatur eine quasi digitale, die Musik eine quasi analoge Kunstform ist.) Der Sänger wird also seinerseits nicht umhinkommen zu "deuten" und er wird das damit verbundene Risiko der Überdeutung tragen. (Ich denke, dass sich Gerhaher - siehe Beitrag 78: Schuberts „Winterreise“ post Fischer-Dieskau - genau dessen bewusst ist.)


    :hello: Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

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