Was mich an Tschaikowsky fasziniert .....

  • Jedenfalls wage ich die Behauptung, dass die alte Pianistengarde der um 1900-1930 Geborenen eine derartige Deutung entrüstet zurückweisen würde / zurückgewiesen hätte - wie ehrlich auch immer.


    Aber gerade bei Horowitz ist diese "Entladung" in den Oktavparallel-Läufen ja nun besonders eindrucksvoll! :love:

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Die Sache mit dem O. im 1. Klavierkonzert macht mich ziemlich ratlos und schüchtern. :love: Galt nicht "The photographer" von Philip Glass als die angeblich beste Vertonung?


    Ich sprach von einem musikalischen Orgasmus, was keine Vertonung eines biologischen Orgasmus des menschlichen Körpers meint, sondern die gewaltige Entladung aufgebauter musikalischer Spannung:



    Ab ca. 4:27 baut sich diese Spannung auf, steigert sich geradezu bis zu Unerträglichkeit (ca. 5:10), wird dann in den berühmten Oktavparallelen "kanalysiert" (eine Art Sturzbach), bevor dann die endgültige Entladung erfolgt (5:29) - für mich einer der grandiosesten Höhepunkte der Musik überhaupt (auch wenn es eindrucksvollere Einspielungen davon geben mag als das jetzt gewählte Beispiel).


    Jemand, der auch "musikalische Orgasmen" komponieren konnte, war Jean Sibelius. In seiner Fünften gibt es gleich zwei (im 1. und 3. Satz)


    Bemerkenswert ist am Ersten Klavierkonzert von Tschaikowski natürlich auch, wie sich das gefällige Thema des Kopfsatzes in völligen Abgründen verliert, die schockieren und betroffen machen.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Tschaikowsky ist keiner meiner Lieblingskomponist. Klar, die Nussknacker-Suite war als Rückseite von Peter und der Wolf eine der ersten klassischen Musikstücke, die ich als Kind hörte und das b-moll-Konzert, die 5. u. 6. Sinfonie oder auch Stücke wie 1812, Marche slave, Capriccio italienne gehörten zu den Stücken, die mich als Jugendlicher für klassische Musik begeistert haben. Aber wenige Jahre später lehnte ich seine Musik zugunsten von Mozart, Beethoven, Brahms usw. recht deutlich ab, was freilich auch ein wenig Schnöseligkeit gewesen sein mag. Das hat sich im Laufe der Zeit wiederum etwas relativiert.
    Denoch kann ich Stücke wie das Violinkonzert oder die 4. Sinfonie, obwohl ich einzelne Passagen oder ganze Sätze daraus schätze, nur selten anhören.
    (Das 1. Klavierkonzert gefällt mir, in "fetzigen" Aufnahmen, inzwischen wieder recht gut, mit den beiden anderen bin ich bisher nicht so recht warmgeworden.)
    Wenn man nun sagt, es sei die übertriebene Emotionalität, die stellenweise Schmalzigkeit oder der Lärm (wie im Finale der 4.) sind das natürlich auch nur Klischees, die ziemlich platt klingen. Ab und zu können mich auch diese Sätze begeistern, aber als vor ein paar Jahren hier im Forum eine Diskussion zur 4. oder 5. Sinfonie aufkam und ich ein paar Aufnahmen im Vergleich hören wollte, habe ich das schnell abgebrochen. Zweimal an einem Nachmittag war mir das ähnlich zuwider wie das dritte Stück Frankfurter Kranz ;) Die Rokoko-Variationen höre ich mir nicht freiwillig an.


    Inzwischen schätze ich die von mir als weniger prätentiös empfundenen Werke Tschaikowskys erheblich höher: Die Ballette (von mir nur gehört, das Rumgehüpfe interessiert mich nicht) sind wirklich brilliant, ebenso die Streicherserenade, die Kammermusik halte ich für eher unterschätzt. Die vier Orchestersuiten sind teils recht interessant (wobei Mozartiana ein ziemlicher Kitsch ist). Zugeben muss ich, dass ich von den Opern eigentlich gar keine kenne (auch die G-Dur-Klaviersonate steht zwar im Regal, wurde aber höchstens zweimal und noch nicht gründlich gehört).

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Wenn man nun sagt, es sei die übertriebene Emotionalität, die stellenweise Schmalzigkeit oder der Lärm (wie im Finale der 4.) sind das natürlich auch nur Klischees, die ziemlich platt klingen. Ab und zu können mich auch diese Sätze begeistern,


    Ich finde es nicht unproblematisch, nur einzelne Sätze aus Tschaikowski-Sinfonien als autonome Kunstwerke zu betrachten und zu bewerten - das Spannende an den Sinfonien ist doch gerade der Binnen-Zusammenhang zwischen den einzelnen Sätzen, also die Sinfonie als Ganzes - zumindest geht mir das so.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Ich finde, Tschaikowsky ist ein Komponist, der sich durch wenige Werke als unverwechselbar und unverzichtbar einprägt, so dass er zum eigenen Musikerleben unverzichtbar gehört. Vor allem sind es die Symphonien Nr. 4-6 mit ihrer Mischung aus Klassizität, Schönheit und einem ins Elementare gehenden Expressionismus, die im Gedächtnis bleiben. Tschaikowsky ist ein großer Dramatiker und seine Musik hat keine Angst vor der Exaltiertheit, der Extase, kennt keine vornehme Zurückhaltung. Man sollte das nicht als Lärm mißverstehen - das grenzenlose Ausleben von Leidenschaften gehört zur "russischen Seele", wie es etwa bei Gogol geschildert wird. "Die" Aufnahme der Symphonien ist für mich Mrawinsky, weil er Tschaikowsky ungeschminkt und frei von Ästhetisierungen und auch nur den entferntesten Anflug von Kitsch als beunruhigende Ausdrucksmusik vorträgt. Ob Adorno diese Aufnahmen kannte? Wohl kaum! Sonst hätte er nicht so abwertend über Tschaikowsky schreiben können, wie er geschrieben hat. Das 1. Klavierkonzert gehört zum Unverzichtbaren. Sehr liebe ich auch die lyrischen, bewußt antivirtuosen kleinen Klavierstücke, die ein Svjatoslav Richter mit unvergleichlichem Ernst, großer Schlichtheit und zugleich lyrischer Kraft vorzutragen weiß. Über die Ballette braucht man nicht zu reden - sie sind der Inbegriff des klassischen Balletts. Und seine symphonischen Dichtungen sind von großer poetischer Kraft. Eine sehr beeindruckende Klavierkomposition ist auch "Dumka" - gespielt u.a. von Vladimir Horowitz und Vladimir Ashkenazy.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Ich finde, Tschaikowsky ist ein Komponist, der sich durch wenige Werke als unverwechselbar und unverzichtbar einprägt, so dass er zum eigenen Musikerleben unverzichtbar gehört. Vor allem sind es die Symphonien Nr. 4-6 mit ihrer Mischung aus Klassizität, Schönheit und einem ins Elementare gehenden Expressionismus, die im Gedächtnis bleiben.

    Absolut einverstanden!



    Man sollte das nicht als Lärm mißverstehen - das grenzenlose Ausleben von Leidenschaften gehört zur "russischen Seele"

    Genau diese in seiner Musik grenzenlos ausgelebten Leidenschaften sind "schuld", warum ich seine Musik so liebe.



    Ob Adorno diese Aufnahmen kannte? Wohl kaum! Sonst hätte er nicht so abwertend über Tschaikowsky schreiben können, wie er geschrieben hat.

    Glücklicherweise hat die Bedeutung Adornos und seiner Urteile (und somit auch Fehlurteile) in den letzten ca. 25 Jahren ja doch spürbar abgenommen.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Jemand, der auch "musikalische Orgasmen" komponieren konnte, war Jean Sibelius. In seiner Fünften gibt es gleich zwei (im 1. und 3. Satz).


    Sehe ich ähnlich. M. E. unbedingt hinzuzufügen: Finalsatz der 2. Symphonie. Die Coda bereitet mir immer wieder Gänsehautmomente.


    Da es hier um Tschaikowskij geht: Bei ihm schätze ich eigentlich alle sechs Symphonien (besonders die Fünfte und Sechste, plus eine Lanze für die unterschätzte Dritte), das Klavierkonzert Nr. 1, "Romeo und Julia" und "Francesca da Rimini" sowie die Ouvertüre "1812".

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Glücklicherweise hat die Bedeutung Adornos und seiner Urteile (und somit auch Fehlurteile) in den letzten ca. 25 Jahren ja doch spürbar abgenommen.


    Weiß ich nicht, ob man das so sagen kann. Was er über Tschaikowsky, Strawinsky, Schostakowitsch, Rachmaninow, Sibelius usw. geschrieben hat, war glaube ich immer umstritten, um es vorsichtig auszudrücken. Die Auseinandersetzung mit diesen Komponisten sind einfach sehr ideologisch besetzt bei ihm. Ich fand das immer schon ungenießbar. Anders ist das mit seiner Philisophie der Neuen Musik, der Berg-Monographie oder dem unvergleichlichen Mahler-Buch, was bis heute einen unverändert immensen Einfluß hat. Da ist Adorno wirklich auf der Höhe - mit anderen kleinen Schriften auch. Man muß halt die Spreu vom Weizen trennen bei ihm. Es gibt bei ihm ein großes Gefälle zwischen absolut Herausragendem und anderem, wo er sich - leider - dem Niveau schlechten Feuilletons nähert. Er fordert so einen kritisch aufmerksamen und keinen "ehrerbietigen" Leser. :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Weiß ich nicht, ob man das so sagen kann.


    Ich denke schon, dass die Adorno-Hörigkeit abgenommen hat. Wer früher etwas auf sich hielt, musste geradezu zwangsläufig Tschaikowski, Sibelius oder Rachmaninow kirtisieren und berief sich dabei auf Adorno. Dass seine Bedeutung abgenommen hat, hat m.E. auch damit zu tun, dass die Zukunft, die er verhießen hat, so nicht eingetreten ist. Die Zukunft sollte nicht der tonalen Musik gehören, aber seine Zukunft ist unsere Gegenwart, und in dieser musste die tonale Musik keineswegs das Feld räumen. Natürlich hat er viel für Schönberg, Berg etc. getan, aber die Schönberg-Schule hat sich nicht so durchgesetzt, wie er sich das erhoffte. Natürlich kritisiert man auch heute noch Wagner, dennoch boomt die Aufführung seiner Werke ebenso wie die der anderen von ihm bevorzugt kritisierten Komponisten. Und dass er ausgerechnet über Mahlers II. den Stab brach, hat diesem Werk Gott sei Dank auch nicht wirklich geschadet. Bei all seinen historischen Verdiensten gab es aus heutiger Sicht wohl doch zu viele Fehlurteile von ihm, die sich quasi in der Praxis als solche erwiesen haben, als dass man ihn noch so ernst nehmen könnte, wie man ihn vor 30 Jahren in der Musikwissenschaft noch genommen hat - als höchste Autorität gewissermaßen. Diese Zeiten scheinen mir wirklich vorbei zu sein, und das ist auch gut so.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Ich finde es nicht unproblematisch, nur einzelne Sätze aus Tschaikowski-Sinfonien als autonome Kunstwerke zu betrachten und zu bewerten - das Spannende an den Sinfonien ist doch gerade der Binnen-Zusammenhang zwischen den einzelnen Sätzen, also die Sinfonie als Ganzes - zumindest geht mir das so.


    Diesen Zusammenhang finde ich eben in der 5. und besonders der 4. reichlich plakativ, die Musik stellenweise leider "abgeschmackt" und dabei eben dieser prätentiöse "Schicksalston". Mir gefallen die Werke, die diesen großen Ton (an dem die 4. und 5. m.E. scheitern) erst gar nicht, oder nicht in dem Maße, versuchen, meistens erheblich besser, wie etwa die Ballette und die Streicherserenade. Am überzeugendsten "ernst" ist die Pathetique, aber eben stellenweise auch besonders larmoyant...
    In der 4. nervt mich schon die Fanfare tendenziell und das Finale kann ich nur alle Schaltjahre ertragen; egal wie eng der Zusammenhang ist, ziehen diese Abschnitte das Werk, von dem ich die Binnensätze schätze, "hinunter".


    Ich habe das alles schon in älteren postings in den Sinfonie-Threads ausgeführt und erwarte natürlich nicht, dass die Tschaikowsky-Freunde diese Ansicht teilen. Es kann aber nicht daran liegen, dass ich mich "überhört" habe, da ich zB die 4. Symphonie erst viel später kennengelernt habe als seine 5. (abgesehen davon, dass ich mich an Beethovens 5. oder Mozarts 40. nie "überhört" habe, obwohl ich die viel häufiger höre).

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  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • Diesen Zusammenhang finde ich eben in der 5. und besonders der 4. reichlich plakativ, die Musik stellenweise leider "abgeschmackt" und dabei eben dieser prätentiöse "Schicksalston".

    Es gibt diesen Zusammenhang, auch wenn er sich dir nicht erschließt, deine verbalde Polemik in diesem Zusammenhang scheint zu belegen, dass Adorno irgendwie doch noch nachwirkt... ;(



    Am überzeugendsten "ernst" ist die Pathetique, aber eben stellenweise auch besonders larmoyant...

    Letzteres kann ich nun wieder - gerade bei diesem besonderen Stück - gar nicht nachvollziehen! :no:


    Ich glaube, dir fehlt einfach der Zugang zu Tschaikowski und seiner so emotionalen Musikwelt - ist ja auch ok, ich würde es nur nicht Tschaikowski in die Schuhe schieben wollen! ;)

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Meine Lieben,


    Als ich mich - ermutigt durch die doch recht interessanten Threads über die "nordischen" Komponisten, und auch die englischen Komponisten - entschloss ein weiteres Land - nämlich Russland (und Ukraine etc) in den Mittelpunkt zu stellen, da war mir einerseits das Risiko solch eines Unternehmens klar. Und mir war auch klar, daß der weg nur über Tschaikowsky führen konnte, denn ob man ihn schätzt oder nicht - er ist nun mal der bekannteste russische Sinfoniker des 19. Jahrhunderts. Deshalb habe ich begonnen die Sinfonien 1 und 2 alt Thread zu gestalten (Nr 3 wird in Kürze folgen) und zugleich einen der Threads über die "etablierten" oder "populären" Sinfonien -nämlich über die Nr 4 wiederzubeleben. Zugleich habe ich diesen Thread "Was mich an Tschaikowsky fasziniert" wieder zu aktivieren versucht - und anscheinend ist mir das auch gelungen. Denn nur wenn Tschaikowsky auf genügend Interesse stösst, dann besteht eine Chance die (heute) weniger bekannten Zeitgenossen in kollektive Klassikbewusstsein zu rufen. Mir war klar, daß nicht jeder von Tschaikowskiy fasziniert sein kann - aber auch eine ablehnende Haltung kann durchaus interessant sein.
    Persönlich hatte ich - von einigen Ohwürmern mal abgesehen - durchaus Schwierigkeiten mit dem Zugang zu Tschaikowsky. Heute interessiert er mich wieder - und - im Rahmen meiner Beschäftigung mit ihm und der russischen Sinfonik überhaupt - habe ich sogar Gefallen an ihm gefunden. Wir müssen uns immer vor Augen halten, daß jegliche Musik .auch wenn manche das anders sehen - national geprägt ist. Ein Russe wird ein russisches Volkslied, welches in einem Sinfonischen Werk zitiert oder variiert wird leichter erkennen, als der durchschnittliche westliche Hörer - somit wird sein subjektiver Eindruck auch ein anderer sein. Tschaikowsky gilt als einer der am westlichsten orientierten russischen Komponisten - ob das wirklich stimmt ist sicher fraglich. Mit Sicherheit ist er aber ein Fixstern am russischen "Komponistenhimmel" - einer auf den man Bezug nehmen kann, wenn über andere Komponisten seines Kulturkreises diskutiert wird...


    mfg aus Wien
    Alfred


    BTW. Herr Wiesengrund steht nicht auf der Liste meiner prägenden Persönlichkeiten in Sachen Musik.....

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Es gibt diesen Zusammenhang, auch wenn er sich dir nicht erschließt, deine verbalde Polemik in diesem Zusammenhang scheint zu belegen, dass Adorno irgendwie doch noch nachwirkt... ;(


    Unsinn, ich hatte diesen Eindruck schon lange bevor ich irgendwas von Adorno gelesen hatte. "plakativ" bedeutet übrigens nicht, dass sich ein Zusammenhang nicht erschließt, sondern dass er allzu offensichtlich herausgestellt wird. Man vgl. diesbezüglich zB Brahms 3. mit Tschaikowskys 4. und 5. Brahms konnte Tschaikowskys Musik schon nicht leiden (was auf Gegenseitigkeit beruhte), als Adorno noch gar nicht geboren war...

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  • Unsinn, ich hatte diesen Eindruck schon lange bevor ich irgendwas von Adorno gelesen hatte. "plakativ" bedeutet übrigens nicht, dass sich ein Zusammenhang nicht erschließt, sondern dass er allzu offensichtlich herausgestellt wird. Man vgl. diesbezüglich zB Brahms 3. mit Tschaikowskys 4. und 5. Brahms konnte Tschaikowskys Musik schon nicht leiden (was auf Gegenseitigkeit beruhte), als Adorno noch gar nicht geboren war...

    Trotzdem verstehe ich ehrlich gesagt nicht, warum (und wie) du dich in dieser Rubrik überhaupt beteiligst, denn diese Rubrik heißt doch nicht "Was mich an Tschaikowsky abstößt", sondern "Was mich an Tschaikowsky fasziniert"!


    Dass Komponisten Probleme mit der Musik von Zeitgenossen hatten, ist nun wirklich kein Tschaikowsky-spezifisches Problem!

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Zunächst eine Eigenkorrektur: Das vorgestern angesprochene lyrische Juwel der 1. Symphonie ("Winterträume") ist Satz 2, nicht der in Teilen ziemlich wilde Kopfsatz.


    Da es hier um Tschaikowskij geht: Bei ihm schätze ich eigentlich alle sechs Symphonien (besonders die Fünfte und Sechste, plus eine Lanze für die unterschätzte Dritte), das Klavierkonzert Nr. 1, "Romeo und Julia" und "Francesca da Rimini" sowie die Ouvertüre "1812".


    --------------------------------------------

    Bernstein: 10:44/17:34/19:41 /------------------------------------------------------------------------------------------- Gergiev: 9:05/15:31/18:10



    Dantes Dame aus Rimini enthält für den Tschaikowskij-Gourmet wohl eine der delikatesten und lyrischsten Passagen des Meisters überhaupt, bei der man am Klavier regelrecht die Bodenhaftung verlieren kann und, was bei Original-Klavierwerken leider die große Ausnahme ist, sich wie ein Tasten-Orpheus fühlt - eine Passage, zu der freilich gar nicht erst gelangt, wer sich von dem unheilvoll-bedrohlichen Getöse der Anfangsminuten (mit Reprise am Schluss) einschüchtern lässt, ohne zu wissen, dass der Hörer auf einen recht ausgiebigen Trip durch Dantes Hölle mit all ihren wehklagenden Seelen mitgenommen wird.
    Die Rede ist vom Mittelsatz, dem Andante cantabile non troppo (Takt 333 bis 519), welcher sich wiederum in drei Liedformabschnitte gliedern lässt. Rudolf Kloiber ("Handbuch der Symphonischen Dichtung", 3. Aufl. 1990) bezieht Abschnitt 1, T.333-413, auf Francescas Klage, Abschnitt 2, T.414-456, auf das gemeinsame Glück von Francesca und Paolo, und erkennt in Abschnitt 3, T.457-519, eine großangelegte Steigerung zum musikalischen Höhepunkt (o nein, nicht schon wieder ... :love: ) in T.481 ff., gefolgt von "Erschütterung und Zubodenfallen" des Dichters.


    Spannend, und für mich eine - späte - Neuigkeit, ist der werkbiographische Hintergrund dieser Symphonischen Dichtung: Mancher wird wissen, dass unter den Bayreuther "Ring des Nibelungen"-Premierenbesuchern schlechthin, denjenigen vom August 1876, sich ein gewisser Piotr Iljitsch T. befand, extra von Lyon angereist. Sein Ruhm hielt sich damals ja noch in Grenzen, und so dürfte es fraglich sein, ob Richard Wagner von dem 36-Jährigen überhaupt Notiz genommen hat. Jedenfalls beschäftigte sich der russische Bayreuth-Pilger unterwegs mit Dantes "Divina Commedia", was zuvor ja schon mit beeindruckendem Resultat Franz Liszt getan hatte, und so entzündete sich in Tschaikowskijs Phantasie die Idee, die Geschichte von Francesca da Rimini zu vertonen.
    Rudolf Kloiber (a.a.O.) meint, dass diese Symphonische Dichtung nicht nur "die Periode der Vollreife" einleitete (als Tschaikowskijs Durchbruch gilt ja gewöhnlich "Romeo und Julia"), und das Werk gar das Niveau der 4. Symphonie erreiche, sondern selbst von einer - zumindest latenten - Beeinflussung durch "die magische Wirkung" der 2-3 Monate zuvor in Bayreuth persönlich erlebten Nibelungen-Musik ausgegangen werden könne. Pro und Contra dürfte sich hier die Waage halten, da es sich um eine zwar denkbare, aber durch nichts zu untermauernde Hypothese handelt.


    Bei Wieland Backes im SWR ("Ich trage einen großen Namen") war am vergangenen Sonntag, dem 3. Mai, im Grunde sensationell, ein Urgroßneffe Tschaikowskijs zu Gast, der ehrlich genug war zu bekennen, dass er selbst keine musikalische Ader besitzt und außerdem sein Selbstwertgefühl und Identität nicht von der Abstammung eines berühmten Komponisten abhinge. Wer als Zuschauer nun gedacht und gehofft hatte, das Gespräch würde sich spannend entwickeln und vielleicht ein paar neue Familiendetails enthüllen, wurde bitter enttäuscht. Außer Klischees, v.a. zur Todesfrage, kam vom Moderator nichts. Immerhin wissen wir jetzt, dass es noch Nachfahren mit einer gewissen optischen Ähnlichkeit gibt, freilich keine der direkten Sorte.


    Abschließend mein doppelter Rausschmeißer zum 175.* Tschaikowskijs:


    - zunächst die Erneuerung meiner Buchempfehlung für "An Tschaikowsky scheiden sich die Geister" unter der Herausgeberschaft des führenden T.-Forschers Thomas Kohlhase, das auf über 500 Seiten in dankbar kompakter, aber zugleich detailüppiger Form Textzeugnisse der T.-Rezeption von 1866 bis 2004 bringt, garniert am Ende von einem vollständigen Werkverzeichnis (mit ČS-Zahlen), dem i. W. identischen Vorläufer des etwas später erschienenen Katalogs von Korabelnikowa etc., wobei ich mich mit der merkwürdigen Schreibung "Čajkovskij" wohl nie werde anfreunden können.


    --------------------------------------------------------------------------------


    Als kleine Kostprobe daraus, betreffs "Francesca da Rimini": Richard Wuerst nannte [im Berliner Fremdenblatt v. 17. Sept. 1878] dieses Stück ein musikalisches Monstrum. [...] "Das erste und das letzte Allegro, welches den Höllensturm darstellt, hat gar kein Thema, gar keine Gedanken, sondern nur einen Wulst von Tönen ; wir finden, daß diese Ohrenschinderei, vom künstlerischen Standpunkt aus betrachtet, selbst für eine Hölle zu stark ist. Der mittlere Teil [s.o.], in welchem mein [sic!], sowie Francesca's und Paolo's trauriges Schicksal geschiildert wird, weist wenigstens, trotz seiner unendlichen Länge, eine Spur einer leicht zu behaltenden Melodie auf" [...] Im Freundeslager wurde "Francesca", namentlich von Moszkowski auf Kosten der [im selben Konzert zuvor aufgeführten 2.] Symphonie von Brahms sehr gelobt. [...] Kotek erzählt, daß [Joseph] Joachim das Stück gefallen haben soll, trotz seiner Voreingenommenheit für seinen Freund Brahms, während Max Bruch auf die Frage, wie ihm F. gefallen habe, geantwortet haben soll: "Ich bin viel zu dumm, um über diese Musik zu urteilen."


    - wenn schon die richtige Antwort meines Musikrätsels, wie sich im vergangenen Sommer - zu meinem Erstaunen - zeigte, den im Alter vorgerückten Kassier einer Originalwohnung des Gesuchten zu verblüffen vermag, dann ist wohl die Annahme erlaubt, dass auch unter den Forianern längst nicht jeder von dieser musikhistorischen Absonderlichkeit, im positivsten Sinn verständlicherweise, gehört hat. Noch vor fünf Jahren hätte auch ich das Ganze bestenfalls für einen Scherz gehalten.

    FRAGE: Wer, welche Persönlichkeit, dirigierte - Zusatzrätsel: wann und wo - als erster ein Werk Tschaikowskijs im Rahmen einer öffentlichen Aufführung?


    ----------(kleiner Tipp: Für Aufführungen kommen mancherlei Orte, im nichtgeographischen Sinn, in Betracht.)

  • Ein paar subjektive Worte zum Titel dieses Threads und auch zur Frage ob man hier auch seine Ablehnung von Tschaikowsky artikulieren soll oder darf.
    Natürlich ist ein solcher Titel suggestiv und wird gegebenenfalls auch Widerspruch hervorrufen - wie sich ja gezeigt hat. Die Möglichkeit, daß man von Tschaikowsky eventuell NICHT fasziniert sein könnte, habe ich ja schon im Eröffnungsbeitrag angedeutet. Die Ablehnung wird natürlich auch erneuten Gegendruck erzeugen, was zu einer belebten Diskussion führt. Das Freilegen der Sympathien, Wertschätzungen - aber auch Abneigungen der zeitgenössischen Komponisten untereinander schärft den Blick für die musikalischen Richtungen ihrer Zeit und ihre Beziehungen zueinander. Speziell für unser Projekt "Russische Orchestermusik", mit momentanem Schwerpunkt "Sinfonie" ist das Wissen darüber sehr nützlich.
    Ich wäre froh, wenn diese Threadserie (Sie ist ja erst im Entstehen) bei unseren Mitgliedern und Mitlesern den selben Effekt hätte, wie das bei mir der Fall ist: Ich habe plötzlich das Bedürfnis, Werke von Tschaikowsky zu hören, die mich jahrelang überhaupt nicht interessiert haben.......


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Lieber PianoForte29


    Die Beantwortung deiner Frage, wer wann und wo die erste öffentliche Aufführung eines Werkes Tschaikowskys leitete, möchte ich nachkommen:


    Johann Strauss (Sohn) leitete am 30. August 1865 bzw. 11. September die Uraufführung von "Charakter- Tänze" für Orchester (Tanz der Mägde) in Pavlovsk, der Sommerresidenz der Zarenfamilie.


    Quelle: Tschaikowsky-Gesellschaft, Mitteilung 13, S. 42 (2006)


    lg moderato
    .

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Tschaikowsky - also ziemlich seit Beginn meines Interesses für die "klassische" Musik in der frühen Jugendzeit ist Tschaikowsky ganz vorne dabei. Das hängt vielleicht auch mit der Verständlichkeit seiner Tonsprache zusammen, im Gegensatz zur "modernen" Musik. Da steht die 5. Sinfonie erst mal für sich. Von der Nacht zum Licht, von e-Moll zu E-Dur, so einfach scheint das zu sein, überzeugend in der Dramaturgie, einfallsreich die kurze Unterbrechung vor dem endgültigen Schlussjubel, mich hat das Werk von Anfang an begeistert und es ist auch das mit den meisten Tschaikowsky-Aufnahmen in meiner Sammlung. Tschaikowsky, das ist russische Musik pur. Da wird geschwelgt, getanzt, getrauert, marschiert und zelebriert. Er verwendet Themen, die im Gedächtnis bleiben. Und er ist volkstümlich. Eine andere Dramaturgie haben die 4. und dann die 6. Sinfonie, um bei den drei beliebtesten Sinfonien zu bleiben. In der 4. Sinfonie wird das Schicksal nicht besiegt, sondern die Botschaft ist "Wenn du in Dir selbst keine Gründe zur Freude findest, dann schau auf die anderen Menschen, geh unter das Volk, sieh wie es sich vergnügt" so Tschaikowsky selbst. Es mag sein, dass der Beckenschlag im Finalsatz nicht jedermanns Geschmack ist, aber er passt in den Gesamtrahmen dieses Werkes. Völlig anders die 6. Sinfonie. Zunächst dominieren Lebensfreude und Zuversicht. Am Schluss jedoch siegt das Schicksal. Am Ende ist der Tod. Tschaikowsky soll dieses Werk als sein Requiem bezeichnet und beim Niederschreiben häufig geweint haben. Und so ist auch der Hörer schließlich tief ergriffen. In welchem Stück gibt es solch gewaltige Emotionen wie in der "Pathetique" von Tschaikowsky? Wen lässt diese Musik kalt?
    Immer wieder auf den Konzertspielplänen sind auch das 1. Klavierkonzert sowie das Violinkonzert. Das Klavierkonzert beeindruckt zunächst mit dem unverkennbar machtvollen Eingangsthema, dessen sinfonische Verarbeitung den Hörer fesseln kann. Nach einer Ruhepause im 2. Satz geht das Feuerwerk im Finale weiter. Sehr dem Leben zu gewandt ist ohne Zweifel auch das Violinkonzert mit eingängiger Thematik. Dazu besonders in Finale mit einer grandiosen Virtuosität, die jede/n Solisten/in technisch sehr fordert. Leider fristet das 2. Klavierkonzert ein Stiefmütterchendasein. Mich fasziniert das markante Eröffnungsthema, das effektvoll verarbeitet wird. Zum Träumen schön ist der zweite Satz mit dem konzertierenden Solo-Cello und Solo-Violine. Im 3. Satz wechseln sich energische und tänzerische Elemente ab, bis es zum mitreißenden Abschluss kommt.
    Unvollendet ist das 3. Klavierkonzert geblieben. Nicht unerwähnt sollen die sinfonischen Dichtungen bzw. Konzertouvertüren bleiben. Sehr gegensätzliche Motive beeindrucken bei "Francesca da Rimini", wo sich gefühlsvolle lyrische Teile und hochdramatische, ja dissonante Abschnitte abwechseln. "Romeo und Julia" ist programmatisch angelegt und entspricht der Shakespearschen Vorlage, die Musik dazu ist sehr ansprechend und wirkungsvoll. Wunderbar gestaltet sind für mich die Ballette "Schwanensee", "Der Nussknacker" und "Dornröschen". Wer kann sich dem Zauber, der von dieser Musik ausgeht, entziehen?
    Die ersten drei Sinfonien stehen im Schatten der drei letzten, die sicher publikumswirksamer sind. Dennoch mag ich die "Winterträume" mit ihrer emotional berührenden Thematik und die effektvoll gestaltete 3. Sinfonie. Nicht zu vergessen ist die auch zu selten gespielte "Manfred"-Sinfonie, die gänzlich Programmmusik ist. Hier erleben wir Leidenschaft, Liebe , Idylle, Seelenkampf und abschließende hymnische Verklärung unter Einbeziehung der Orgel.
    Tschaikowskys Musik berührt, bewegt, begeistert oder erschüttert. Für mich ein Komponist mit unglaublich ausdrucksstarken Emotionen. Und mit einem eigentlich unerfüllten, tragisch endendem Leben. Auch das findet sich in seiner Musik.
    (Zu den Opern will ich mich hier nicht äußern, das mag ein anderer besser können).
    :hello:

    Wenn schon nicht HIP, dann wenigstens TOP

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