TELEMANN, Georg Philipp: DER TAG DES GERICHTS


  • Georg Philipp Telemann (1681-1767):


    DER TAG DES GERICHTS
    Singegedicht in vier Betrachtungen für Soli (SATB), Chor (SATB) und Orchester
    Text von Christian Wilhelm Alers
    Erstaufführung (wahrscheinlich) am 17. März 1762


    DIE SOLO-PARTIEN


    Die Religion, der Glaube, der Erzengel, dritter Seliger (Sopran)
    Die Vernunft, die Andacht, zweiter Seliger, der Glaube (Alt)
    Der Spötter, der Glaube, der Unglaube, Johannes, erster Seliger (Tenor)
    Der Unglaube, die Andacht, Jesus, Johannes (Bass)



    INHALTSANGABE


    Erste Betrachtung


    Im Orchestervorspiel, für das Telemann die Form der zweiteiligen französischen Ouvertüre wählte, erklingen zum Ende des Satzes Trompetensignale, die als Ankündigung des Jüngsten Gerichts zu deuten sind. Die Gläubigen jubeln in einem durch Blechbläser festlich klingenden Chorsatz


    Der Herr kommt mit viel tausend Heiligen, Gericht zu halten über alle.



    Der Unglaube reagiert auf die Ankündigung und den Jubel der Gläubigen mit Spott: Seit Millionen Jahren versucht man mit diesem Aberglauben die Zähmung des Menschengeschlechts. Er sieht das vollkommen anders, denn in Wirklichkeit,

    bleibet alles nach wie vor.


    Die Vernunft nennt den Unglauben einen „Lügenpriester“ und gebietet ihm zu schweigen und ihre Kinder mit seinem ätzenden Spott zu verschonen. Das will der Spötter, ganz in seinem Element und seinem Namen durch hämische Bemerkungen alle Ehre machend, nicht stehen lassen: Er muss dem Unglauben beipflichten - muss aber auch zugeben, viele „überkluge Köpfe“ mit Spott und Hohn nicht erreicht zu haben, und damit zum Schweigen verdammt gewesen zu sein.


    Die Vernunft greift Unglauben und Spötter frontal an und malt die Schrecken des Weltgerichts mit drastischen Worten, was Telemann mit dramatisch-dynamischen Kontrasten und einer erstaunlich expressiven Harmonik zu gestalten weiß:

    Des Sturmes Donnerstimmen schallen,
    seht! die Gebirge wanken und fallen bis zur untersten Tiefe hinab.
    Nun wühlt er im Schoß der Erde, sie kracht,
    und vieler Säklen stolze Pracht versinket ins traurige Grab.


    Sollte die Vernunft die Hoffnung gehegt haben, dass Unglaube und Spötter sich besinnen und ihre hellseherischen Warnungen ernst nehmen, hat sie sich getäuscht. Die Religion mischt sich jetzt ein und ergänzt die bisherigen Schilderungen: Alles Irdische wird vergehen, nur Gott, der Welten Herr, wird in alle Ewigkeit bestehen, und er hält schon die „Rachepfeile“ für die Leugner bereit.


    Der Chor der Gläubigen, vom vollen Orchester begleitet, beendet jubelnd die erste Betrachtung und vergisst auch nicht den Hinweis auf das Strafgericht für die Lasterhaften:

    Dann jauchzet der Gerechten Same,
    dann wird dein majestätscher Name, o Gott Jehovah, herrlich sein.
    An jeder der geweinten Zähren wird deine Gnade sich verklären.
    Und an der Laster grausem Heulen, die dann gestraft zum Abgrund eilen,
    wird Gott Jehovah herrlich sein.


    Die zweite Betrachtung


    Am Beginn dieses zweiten Teils steht ein vierstimmiger Chorsatz, der Gottes Kommen unter Blitz und Donner schildert; Telemann benötigt zur musikalischen Darstellung dieses Auftritts nur das Streicherinstrumentarium mit Basso continuo, das mit fast durchgängig pochenden Tremoli eine aufrüttelnde Wirkung erzeugt:

    Es rauscht! So rasseln stark rollende Wagen. Wer ist's?
    Es ist Jesus! auf Blitzen getragen fährt er zum Weltgericht daher.
    Vor seinem allmächtigen Schelten zerreißen die Welten und sind nicht mehr.


    Die Andacht ergänzt diese chorische Beschreibung in einem Accompagnato und anschließender Arie mit zusätzlichen Hinweisen auf äußerliche Ereignisse: Donner brüllen, Flammen vernichten alles Leben, die Sonne verlischt, der Mond verlässt seine Bahn, die Wasser auf der Erde verlaufen in alle Richtungen, ehe sie durch die Hitze verdampfen, und vom „Sitze des Richters kreuzen verzehrende Blitze“ herab.


    Der Glaube (im Rezitativ dem Tenor, in der folgenden Arie dem Sopran zugewiesen) verkündet den Tyrannen der Erde das Ende ihrer Herrschaft durch Gottes Beschluss. Aber er, der Glaube, wird sich aus den Trümmern zum Throne Gottes erheben, und mit den Engeln Jesus Christus zujubeln und ihm für sein bitteres Leiden und Sterben, das er für die Erlösung der Menschen auf sich nahm, Dank sagen.


    Die dritte Betrachtung


    Am Beginn dieses Teils steht ein Accompagnato der Andacht (dem Alt zugewiesen), die, Johannes aus der Offenbarung gleich, eine weitere Schilderung des Geschehens gibt: Gottes Racheengel bläst die Trompete, worauf die Gräber, die Särge und das Meer ihre Toten frei geben. Die anschließende Arie des Erzengels (für Sopran vertont) ruft im Auftrag Gottes die „vermoderten Geschlechter“ zum Gericht. Die Gottgläubigen, fordert er, sollen sich zur rechten, die Ungläubigen zur linken Hand des Herrn aufstellen. In den letzten 13 Takten des Accompagnato und am Ende der Arie setzt Telemann ein solistisch geführtes Horn ein, das eine markante instrumentale Färbung des sonst nur von den Streichern und dem Basso continuo besetzten Instrumentariums erzeugt.


    Nun tritt Jesus in den Kreis, grüßt und segnet die Gerechten; er nennt sie seine treuen Knechte und sieht sie den Engeln gleichgestellt. Ein Choral der Gläubigen - im gregorianischen Gewand - preist Gottes Sohn (nach Martin Luther):

    Du Ehren König Jesu Christ, Gott Vaters ew'ger Sohn du bist.
    Der Jungfrau Leib nicht hast verschmäht, zu erlös'n das menschliche Geschlecht.
    Du hast dem Tod zerstört sein Macht und alle Christ'n zum Himmel bracht.
    Du sitzest zur Rechten Gottes gleich mit aller Ehr ins Vaters Reich.


    Rezitativisch beklagt der Unglaube seine erbarmenswerte Lage, die Laster schreien chorisch um Hilfe und verfluchen alle begangenen Missetaten. Doch die Erkenntnis, wenngleich sie viel zu spät kommt, ist hart: Alles Flehen ist umsonst, der Tod ist ihnen sicher. Die dritte Betrachtung endet mit einer Arie, in der sich Jesus an die Gottlosen wendet:

    Hinweg von meinem Angesichte! Ihr Feinde Gottes, seid verdammt!
    Euch martre ewig eu'r Gewissen und Satan,
    der euch leiten müssen und jene Hölle, die dort flammt.


    DIE VIERTE BETRACHTUNG


    Dieser Teil des Oratoriums ist ein Dankgottesdienst in der Form von Wechselgesängen. Schon der aus zwei Teilen bestehende Eingangschor, den Engeln und Auserwählten zugewiesen, unterstreicht mit seiner festlichen Musik (die das volle Orchester mit Trompeten und Pauken begleitet) das Ende des Gerichts und den Beginn des ewigen Lebens für die Gläubigen:

    Schallt, ihr hohen Jubellieder! schallt durch alle Himmel wieder! Werdet ein harmonisch Chor!
    In vereinten Myriaden singt von des Messias Gnaden, von des neue Edens Flur!


    Der Bass - als Jesu Lieblingsjünger Johannes - zitiert den 10.Vers aus der Offenbarung 12:

    Nun ist das Heil und die Kraft und das Reich und die Macht Gottes seines Christus worden!

    In den Sologesang klinkt sich der Chor mit dem gregorianischen „Heilig ist unser Gott“ ein, dem ein dem Tenor zugewiesenes Arioso des Ersten Seligen folgt, das die Freude aus der Rettung ewiger Verdammnis ausdrückt; den musikalischen Reiz dieses Stückes macht die solistisch geführte Gambe aus, die jene Freude stellenweise durch markante Sechzehntelläufe ausdrückt.


    Ehe sich der Alt als Zweiter Seliger bei Jesus für dessen Liebestat, dem Tod am Kreuz, bedankt, ist abermals das „Heilig“ in einem achttaktigen Chorsatz zu hören. Danach zitiert Johannes aus der Offenbarung 5 den 12.Vers:

    Das Lamm, das erwürget ist, ist würdig zu nehmen Anbetung, Preis und Dank.

    und kontrapunktiert das gleichzeitig erklingende „Heilig“ des Chores der Seligen, das gegen Ende des Satzes durch je zwei Hörner und Trompeten seinen festlichen Glanz erhält. Der Dritte Selige, dem Sopran zugewiesen, sieht sich durch Gottes Segen mit Weisheit und Gerechtigkeit gestärkt, er dankt dem Herrn, der seine Seele erquickt hat.


    Der Chor der Seligen ruft die Seraphine zum Lobe Gottes, dem „Schöpfer unserer Seligkeit“, auf und der Glaube (Alt) sieht alle Erretteten in die Unsterblichkeit des Reiches Jesu Christi einziehen, wo sie als „Chöre der Himmlischen“ den Schlusschor anstimmen:

    Vollchor: Die Rechte des Herrn ist erhöhet! die Rechte des Herrn behält den Sieg!
    1. Teilchor: Er hob die gewaltige Rechte allmächtig empor und zog durch der Gräber Nächte den Staub hervor.
    2. Teilchor: Er warf der Höllen Ungeheuer und seine frevelnden Mächte und Laster Knechte ins Feuer.
    Vollchor: Die Rechte des Herrn ist erhöhet! die Rechte des Herrn behält den Sieg!
    3. Teilchor: Posaunet vor dem Sieger her! er kommt mit der erwählten Menge! hre Zahl ist wie Sand am Meer und Ewigkeit ist ihres Lebens Länge!
    4. Teilchor: Eröffnet mit frohem Getümmel dem jauchzenden Zion das Tor,
    und singt dem neubevölkerten Himmel die ewigen Hymnen vor!

    Vollchor: Die Rechte des Herrn ist erhöhet! die Rechte des Herrn behält den Sieg!


    INFORMATIONEN ZUM WERK


    Die Entstehungszeit von Telemanns Oratorium wurde früher in die Zeit von 1730 bis 1750 (so im „Historisch biographischen Lexikon der Tonkünstler“ von Gerber, Leipzig 1790) oder, etwas enger gefasst, von 1740 bis 1750 (Carl von Winterfeld „Geschichte der Musik…in Hamburg“, ohne J.) angesetzt. Letzterer beruft sich auf Telemanns Autobiographie in der „Ehrenpforte“ Matthesons von 1740, in der er das Werk nicht aufführt. Heute wird „Der Tag des Gerichts“ in das Jahr 1761 datiert, weil die Uraufführung (nach Josef Sittard „Geschichte des Musik- und Concertwesens in Hamburg vom 14 Jahrhundert bis in die Gegenwart“) am 17. März 1762(*) stattfand und Telemann nie für die „Schublade“ komponierte.


    Das Autograph ist verloren gegangen; der Herausgeber der Partitur, Max Schneider, vermutete sie zuletzt in der Bibliothek der „Allgemeinen Musikgesellschaft“ in Zürich, wo sie (Mitteilung des Bibliothekars Kisling) seit 1897 vermisst wurde. Die berechtigte Frage, wie Telemanns Original dorthin kam, konnte Schneider natürlich nur spekulativ beantworten: Die Hamburger Uraufführung hatte nicht der Komponist, sondern ein gewisser Friedrich Hartmann Graf geleitet. Dessen Bruder, Friedrich Leopold, war seit 1759 als Konzertmeister bei der „Allgemeinen Musikgesellschaft“ in Zürich tätig, hat offenbar - brüderliche Hilfe aus Hamburg unterstellt - Werke von Telemann in Zürich aufgeführt. Auch „Der Tag des Gerichts“ kam dort zu Gehör und fand für lange Zeit großes Interesse. Es ist also für Schneider vorstellbar, dass der Hamburger Graf statt einer Kopie das Original nach Zürich schickte, wo es verblieb. Folgt man dieser Annahme ergeben sich aber neue Fragen, die Schneider jedoch nicht erörtert: Hat Telemann sein Autograph aus der Hand gegeben? Hat er es, freiwillig oder auch vertragsgemäß, den Verantwortlichen der Hamburger Uraufführung überlassen (wobei nicht feststeht, wo diese Aufführung stattfand: Konzertsaal oder Kirche)? Aber Schneider teilt immerhin mit, dass „Der Tag des Gerichts“ nicht unter den Handschriften war, die Telemanns Neffe Georg Michael als Erbe erhalten hat. Georg Michael Telemanns Autographe kam in den Besitz des Musikaliensammlers Georg Poelchau; nach dessen Tod wurden sie 1841 dem „Musikalischen Archiv“ der „Königlichen Bibliothek zu Berlin“ (der heutigen Staatsbibliothek) durch Ankauf zugeführt. Diese Sammlung enthielt eine Abschrift von „Der Tag des Gerichts“, die Max Schneider für seine Notenausgabe benutzte. Sie erschien in der Reihe „Denkmäler deutscher Tonkunst“ im Verlag Breitkopf & Härtel als Band XXVIII (zusammen mit der Kantate „Ino“ ohne Jahresangabe, das Vorwort mit einer sehr umfangreichen Telemann-Biographie, darunter beide autobiographischen „Lebensläufe“ von 1718 und 1740).


    An dieser Stelle ist eine kurze biographische Notiz zum Textdichter notwendig: Christian Wilhelm Alers (Poelchau schreibt durchgängig Ahlers) wurde am 6. Dezember 1737 in Hamburg geboren; er bekam seine wissenschaftliche Vorbereitung sowohl am Johanneum als auch am Gymnasium, und war somit Telemanns Schüler. Von 1759 bis 1762 studierte er Theologie in Helmstedt, wurde 1762 als „Candidat des hamburgischen Ministeriums“ aufgenommen, übernahm 1768 eine Pastorenstelle in Rellingen. 1789 übersiedelte Alers „ohne besondere Wahl“ als Hauptpastor und Klosterprediger nach Ütersen, wo er am 3. Juni 1806 starb.


    Von Alers sind verschiedene Texte im Druck erschienen, darunter auch der Text zur „Serenate auff die erste Jubelfeier der hamburgischen, löblichen Handlungsdeputation“, der von Telemann 1765 in Musik gesetzt wurde. Ohne Zweifel ist aber „Der Tag des Gerichts“ Alers Hauptwerk, Schneider geht sogar so weit, das Libretto als eines der besten Oratorientexte jener Zeit zu bezeichnen:


    Man kommt um die Feststellung nicht herum, daß es in erster Linie das Verdienst des Dichters ist, wenn „Der Tag des Gerichts“ (…) in der Oratorienkomposition des 18, Jahrhunderts überhaupt als bemerkenswerte Erscheinung hervorragt. Die Dichtung ist frei von pietistischem Wust und zeichnet sich durch Prägnanz und frische Lebendigkeit des sprachlichen Ausdruck aus. In der formalen Gestaltung dürfte die Verwendung des Allegorienapparates (…) wohl weniger auffallend erscheinen, als die meisterhafte Art, wie diese Allegorien durch Vermeidung von Gemeinplätzen und durch eine überaus bilderreiche Szenerie dramatisch belebt werden. Der Aufbau der Handlung erweist sich als sehr geschickt. Allerdings ist in der „Ersten Betrachtung“ nichts von Handlung zu spüren, aber im zweiten Theile setzt ein Crescendo ein, das mit einer kurzen Unterbrechung durch etwas schwächliche Arien bis zum Schluß anhält.



    (*) Das Programm jenes Konzerts nennt ein „Singegedicht voll starcker Bewegungen, der Tag des Gerichts genannt“, und die sogenannte Donner-Ode, die Telemann nach dem großen Erdbeben in Lissabon (am 1. November 1755) komponierte.


    © Manfred Rückert für den Tamino-Oratorienführer 2015
    unter Hinzuziehung der Partitur, Breitkopf & Härtel, ohne Jahresangabe, Herausgeber Max Schneider

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    MUSIKWANDERER

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  • Bei den Tamino-Werbepartnern Amazon und jpc sind drei Einspielungen des Telemannschen Oratoriums gelistet:



    In der nebenstehenden Aufnahme singen Roberta Alexander, Kurt Equiluz, Max van Egmond und Gertraud Landwehr-Herrmann; es spielt der Concentus Musicus Wien unter Nikolaus Harnoncourt.



    Diese Interpretation von Hermann Max, mit den Solisten Ann Monoyios, Barbara Schlick (Sopran), Axel Köhler, David Cordier (Altus), Wilfried Jochens (Tenor), Stephan Schreckenberger, Harry van der Kamp und Hans-Georg Wimmer (Bass), der "Rheinischen Kantorei" und "Das Kleine Konzert", ist insofern interessant, als es auf der zweiten CD noch die „Donner-Ode“ und „Der Herr ist König“ enthält.



    Diese Produktion mit dem Bach Consort Leipzig wird von Gotthold Schwarz dirigiert. Solisten werden nicht genannt; aus einer Rezension zu dieser Aufnahme geht hervor, dass die Solopartien von Mitgliedern des Chores gesungen werden.

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