Zwischenzeitlich begnügt sich ja HIP nicht mehr mit dem 18. und 19. Jhdt. sondern ist in missionarischen Eifer schon bis ins 20. Jhdt. gekommen.
Ein schönes Beispiel dafür ist Ravels Bolero in der Interpretation von Jos van Immerseel mit seinem Anima Aeterna Orchester.
Zugegeben, Immerseel hat einen hervorragenden Bolero abgeliefert, die ganze durchaus dogmatische HIP-Argumentation im Booklet hätte er sich aber sparen können, da der HIP-Aspekt dieser Aufnahme schlicht und einfach redundant ist. Warum? Weil es eine zeitnahe Einspielung des Boleros unter der Leitung des Komponisten selbst gibt und es von dem her HIPer nicht geht.
Die Aufnahme stammt von 1930, klingt trotz des leicht antiquierten Klangbildes erstaunlich gut, läßt keine Fragen offen und gilt als eine der besten Bolero-Einspielungen überhaupt. Zum Glück hat sich Immerseel diese Aufnahme zum Vorbild genommen, so dass jetzt ein aufnahme- und spieltechnisch einwandfreies Remake dieser alten Aufnahme von 1930 vorliegt.
Einen anderen Weg ist Francois-Xavier Roth mit seinen Les Siecles bei der Einspielung von Starwinskis Le Sacre du Printemps in HIP gegangen, wollte der doch nicht seine anderen Dirigenten-Kollegen des "Falschspiels" bei diesem Werk überführen, sondern, sondern den Sacre so wiedergeben, wie er bei seiner Uraufführung am 29. Mai 1913 geklungen hat.
Das war legitim, da sich diese UR-Fassung doch deutlich von den diversen späteren unterscheidet und somit eine discographische Lücke geschlossen wird. Die Wahl des Instrumentariums und der entsprechenden Spielweisen war dabei meines Erachtens zweitrangig, da die Klangunterschiede zu neueren Instrumenten nur marginal sind, aber auf jeden Fall konsequent. Und Roth mast sich auch nicht an, die bis 1967 gehenden Revisionen Strawinskis an diesem Werk zu kritisieren. Letztendlich hat er nur den Ausgangspunkt derselbigen rekonstruiert.
Von der Interpretation her kann Roth durchaus mit Chailly, Boulez und Strawinski selbst mithalten auch wenn sie fassungsbedingt in keiner Konkurrenz dazu steht.
John Doe