Die "innere Wende": Gefühle und Emotion in der Musik vor und nach 1800

  • Zit: "...den einzelnen Fibern des menschlichen Herzens..." - das geht ja nun gar nicht. Dieser heute "wissenschaftliche Unsinn" ist nur dadurch erklär- und entschuldbar, dass im 18. Jh. die Erkenntnisse der heutigen Forschungsergebnisse noch nicht vorlagen/vorliegen konnten."


    Hallo zweiterbass,
    ich nehme Deine Worte als eine scherzhafte Anmerkung. Dieser Wackenroder war ja sogar so närrisch, zu glauben, dass das Herz zu "Ergießungen" fähig sei, die man zu Papier bringen kann.


  • "...den einzelnen Fibern des menschlichen Herzens..." - das geht ja nun gar nicht. Dieser Heute "wissenschaftliche Unsinn" ist nur dadurch erklär- und entschuldbar, dass im 18. Jh. die Erkenntnisse der heutigen Forschungsergebnisse noch nicht vorlagen/vorlagen konnten.

    Horst :D


    .... dann schau mal in die Musikpsychologie von Helga de la Motte-Haber, dann wirst du sehen, dass dieser vermeintliche "wissenschaftliche Unsinn" immer noch aktuell ist. Lediglich der Sprachgebrauch hat sich ein wenig geändert, das Sachproblem ist geblieben. Mit der romantischen Musikphilosophie habe ich mich ausführlich beschäftigt - viele methodische Lösungen dort sind weit brauchbarer als so manche positivistische Plattitüden, die sich ach so wissenschaftlich geben, 100 oder 150 Jahre später! :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Lieber Helmut,


    in der Tat drücke ich mich manchmal etwas radikal aus (manchmal bin ich sogar radikal ;)). Doch selbst wenn ich versuchte, dieses Wort "pervers" durch einen etwas kuscheligeren Ausdruck zu ersetzen, bliebe meine Ansicht dieselbe. Doch ich denke, es macht wenig Sinn, über diese Frage zu diskutieren, da wir hier keine einheitliche Meinung erzielen werden und vor allem: es hier eigentlich darum ja (noch) gar nicht geht !
    Derzeit, so meine Sicht, versuchen wir festzumachen, ob und wenn ja, warum die Musik seit Schubert eine (grundlegend?) andere Gefühlsqualität bekommen, und diese sogar noch ausgebaut hat. Das Schubert-Beispiel diente mir als textgebundene, also leicht inhaltlich beschreibbare Musik eher dazu, zu zeigen, dass hier sehr persönliche und oft sehr tiefliegende intensive Emotionen angesprochen und auf eine Weise evoziert werden, die es schwer macht, sich davon nicht (auch unangenehm) berühren zu lassen. Dies lag ja sicher auch in des Komponisten Absicht.
    Ferner ist sehr interessant, zu erwägen, mit welchen musikalischen Mitteln dieser unterschiedliche Ausdruck erzielt wird. Was die romantische von der klassisch-barocken Musiksprache unterscheidet, ist evident. Doch welche Faktoren sind es, die diese Unterschiede in der Wirkung hervorbringen?
    Offenbar haben ja auch Zeitgenossen dieses wahrgenommen. Es wäre interessant, wie etwa ein Wackenroder die Gefühlsqualität barocker Musik beschrieben hätte (so er Zugang zu ihr gehabt hätte).


    Viele Grüße,
    Bachiania

    Man sagt, wenn die Engel für Gott spielen, so spielen sie Bach, füreinander aber spielen sie Mozart.
    (Sir Isaiah Berlin)

  • Liebe Bachiania,


    knapp jetzt und auch nicht musikalisch:
    Angst bewegt uns, gefährliche Situationen zu meiden- oder in Form von Angriff das eigene Leben zu verteidigen.
    Ekel schützt uns vor verdorbenen Lebensmitteln; Neid bewegt uns, das anzustreben, was der andere besitzt und mobilisiert damit eigene Kräfte.
    Zorn und Wut helfen ganz oft, ein Problem anzugehen oder auch, den "inneren Schweinehund" zu besiegen...wie nahe verwandt Hass und Liebe sind, weiß jeder. Und selbst physiologisch Lachen und Weinen Geschwister sind.
    Welches dieser Gefühle also kann per se negativ sein?


    Ohne das "negaive" Gegenstück wären wir nicht in der Lage, das "positive" Gefühl überhaupt als solches wahrzunehmen.


    Wie das für mich nun in Bezug steht zur Musik, kann ich leider nicht vertiefen im Moment: die Pflicht ruft.


    Herzliche Grüße,
    Mike

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  • Hallo,


    ich vermute, dass mit den Antworten zu meinem Beitrag zu den "Fibern des Herzens" nicht bemerkt wurde, wo der "Hase im Pfeffer liegt" (das ist eine Metapher, werter Wolfgang Z).

    Ein Wort aus dem Zitat ausgewechselt - und schon ist "alles in Butter" (das ist aber nun keine Metapher, lieber Wolfgang Z :baeh01::hahahaha: )


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Du sagst, liebe Bachiania:
    "Doch ich denke, es macht wenig Sinn, über diese Frage zu diskutieren, da wir hier keine einheitliche Meinung erzielen werden und vor allem: es hier eigentlich darum ja (noch) gar nicht geht !"


    Aber ich denke, da irrst Du Dich. Darum geht es sehr wohl, denn daraus ist ja, so wie ich das sehe, Dein Thread hier entstanden. Es geht doch um zweierlei Aspekte: Die kompositorische Gestalt von Musik einerseits, und um ihre Rezeption auf der anderen Seite. Dein Thread setzt, so wie ich ihn verstanden habe, primär an diesem zweiten Aspekt der Sache an, um die es hier geht.
    Und das ist im Grunde eine musikhistorische, einen fundamentalen Wandel in der kompositorischen Grundhaltung und Intentionalität betreffende.
    Aber kann man bei dem Sich-Einlassen darauf den Aspekt der Rezeption von Musik, die ja ihrerseits wieder eine zeitbedingte und insofern ebenfalls genuin historische ist, wirklich trennen?

  • ich vermute, dass mit den Antworten zu meinem Beitrag zu den "Fibern des Herzens" nicht bemerkt wurde, wo der "Hase im Pfeffer liegt" (das ist eine Metapher, werter Wolfgang Z).


    Der "Hase im Pfeffer" liegt da, dass man sich zum einen mit solchen unbedachten und vorurteilsbehafteten Urteilen zurückhalten sollte, wenn man die Physiologie und Anthropologie des 18. Jhd. nun gar nicht kennt, wozu die Gelehrten hunderte Seiten dicke Kommentare schreiben. Zum anderen sollte man sich bemühen, den wesentlichen Gedanken zu erfassen: Es wird eine Übereinstimmung (was im Begriff der "Stimmung" zum Ausdruck kommt in seiner Doppeldeutigkeit von Musikalischem und Seelischem) angenommen zwischen den einzelnen harmonischen Verhältnissen und einzelnen emotionalen Regungen. Dieser entscheidende Gedanke ist eben nach wie vor aktuell, auch wenn man heute die emotionalen Regungen nicht mehr in den Fiebern des Herzens verortet.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Ich weiß, dass das Wort "pervers" im Zusammenhang mit einem Schubertlied fiel. Ich hätte eher das Wort "abstoßend" verwendet. Was ich bei romantischer Musik oft als "abstoßend" empfinde, ist das was Glockenton kürzlich im "Was stört Euch an Wagners Musik?"-Thread beschrieben hat. Die Entwicklung dahin fing vielleicht um 1800 an. Insofern ist dieser Beitrag vielleicht nicht "off-topic".


    Es gibt bei manchen Stücken Wagners von den Spannungsverläufen her einen langen Anlauf, dann einen Schein-Höhepunkt, dann ein bisschen Abklingen, dann noch mehr Anlauf....usw…..bis endlich der ins Unendlich gesteigerte Höhepunkt kommt. Danach klingt es wieder ab.
    Ist das eigentlich Musik, deren spannungsstrukturelles Vorbild im Sexualakt zu sehen wäre?


    Wenn ja, ist dann Wagners Musik gerade deshalb so verführerisch, weil sie mit dem "Reinen" anfängt, sich dann aber in den Rausch, ja ins im wahrsten Sinne des Wortes „Ungeheuerliche“ steigert?


    Fühlt es sich „hinterher“ (also nach dem Hören so eines Wagnerwerks) so an, als ob sich jemand meiner musikalischen Seele bemächtigte, als ob jemand auf meinen Emotionen „herumgemacht“ hat?

  • Romantischer Musik scheint es irgendwie zu gelingen, den Punkt der eigenen Schwäche zu treffen und so geschickt zu manipulieren, dass man sich schließlich in Emotionen wiederfindet, die einem im Grunde nicht gar nicht gehören, die aber bestenfalls in leicht masochistischer Weise genussvoll sind. [als Beispiel könnte man Schubert-Lieder anführen. Jeder hat irgendwann einmal eine unglückliche Liebe erlebt. Doch dass man dann wenn die Angebetete sagt "ALLEN eine gute Nacht" mitleidet als ob man selbst betroffen wäre, und das noch als Kunstgenuss empfindet, ist auf irgend eine Weise pervers.]
    Barocke Musik sowie auch Haydn oder Mozart "zwingen" nicht. Man hat das Gefühl, selbst entscheiden zu dürfen, wie man die Musik in seinem Inneren umsetzt. Und wenn man sich für nichts entscheidet, dann geht es einem nachher zumindest gut.


    Liebe Bachiana,


    wenn Du den Eggebrecht-Aufsatz liest, wirst Du darauf eine Antwort finden ;) . Ein Daniel Schubart etwa findet die Empfindsamkeit sentimental und unecht, wenn sie nicht mit der Authentizität des Selbsterlebens verbunden ist. Musik, die uns nicht zum Gefühl "zwingt", wird als unauthentisch, unehrlich, empfunden, als hohle "Nachahmung" ohne Beseelung. Die Kehrseite der Medaille ist dann, dass dieser Ausdruck von Selbsterleben vom Hörer eben "Engagement" fordert im Sinne von Mitfühlen und Einfühlen, das bis hin zu Identifikation geht. "Kunstgenuß" ist hier ein etwas unscharfer Begriff, finde ich. Letztlich geht es um die Erfüllung eines Ausdrucksbedürfnisses. Wir "verfallen" (selbstironisch mit Heidegger gesagt) der romantischen Musik, weil wir alle selber die Bedürfnisse haben, die man Ende des 18. Jahrhunderts entdeckt: nämlich uns als Subjekt, als "Ich" zu konstituieren. Da wird das Erleben subjektivistisch und hoch reflektiert (mit dem Narzismus, der dazugehört). Entsprechend kommt dann das gegenteilige Bedürfnis, diese romantische Ichheit gerne loswerden zu wollen wie bei Strawinsky etwa und teilweise bei Stockhausen, der Begeisterung für mittelalterliche Musik, die nur das Sein kennt und kein Subjekt. Aber letztlich kommen wir doch nicht von unserer Subjektivität los. Wollen wir wirklich auf Wagners Tristan verzichten und zur einfachen rhetorischen Affektivität zurückkehren? :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

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  • Liebe Bachiania,


    nun hatte ich wieder eine Nacht lang Zeit, über Dein Ansinnen nachzudenken.


    Vor mehr als 25 Jahren las ich einen Aufsatz eines (ostdeutschen) Musikwissenschaftlers, der sich genau darum Gedanken machte.
    Zu lange her, als dass ich mich an seinen Namen oder den Titel erinnern würde.
    Dieses- in der DDR verbotene- Büchlein umschrieb eine Änderung der Eigenwahrnehmung im Zeitraum der Aufklärung.
    Bis ca.1770, so der Aufsatz, stand nicht das Individuum im Mittelpunkt der Eigenwahrnehmung, sondern fand sich bezugnehmend wieder auf Dritte. Bis dahin also, verkürzt gesagt, im "Ich im Wir". Dementsprechend war die Musik gebaut in der Polyphonie, die zwar einer Stimme Vorrang erlaubt, aber sie ins Verhältnis setzt zu anderen, sie umgebenden Stimmen.


    Mit der Aufklärung entstand der Individualismus, die Selbstverwirklichung- letztlich das "vom Wir zum Ich".
    Damit diese Simplifizierung der Stimmen- in jeder Hinsicht.


    Festgemacht wird das in jenem Artikel anhand der Entwicklung der Musiksprache in Frankreich.
    Weg von Rameaus Vielschichtigkeit; dessen Fähigkeit, selbst widerstrebende Gefühle "unter einen Hut" zu bringen auf kleinstem Raum- hin zum beinahe Primitiven Glucks oder später Berlioz', der ja geradezu hemmungslos subjektiv tönt.


    Aus dem Abstand heraus verstehe ich natürlich die Ideologie dieser Arbeit: der Sozialismus sollte, auf höherer Ebene, wieder ein "vom Ich zum Wir" erreichen.
    Mit allen Mitteln, auch musikalischen.
    Verboten waren die Seiten aber wegen der Kritik, das system-feudalistisch erreichen zu wollen und oktruiert wie in der DDR.
    Was bleibt ist, dass die Idee und der Ansatz eine schlüssige Erklärung abliefert, die erstaunlich objektiv herangeht und sich wenig verliert in Abstraktionen; schon gar nicht in Loslösung von Kunst/Musik und Mensch.
    Und keine Wertung vorgenommen wurde, denn Ziel war letztlich eine Vision, die Wege beschreibt, was hinfällig macht, von "gut" oder "schlecht" zu sprechen.


    Dieser Text erlaubt, Schlüsse zu ziehen, wie sich Musik anhand der Gesellschaft verändert hat- damit die Struktur der Musik.
    Aus dem Reichtum einer Konstellation des Verhältnisses: "Ich im Gefüge anderer" zur gewissen Verarmung. Zu: "Ich, Nabel der Welt".


    Vielleicht bis hin zur Sehnsucht, einer Gemeinschaft anzugehören. Und seien es Nebensonnen.


    Herzliche Grüße,
    Mike

  • Wir "verfallen" (selbstironisch mit Heidegger gesagt) der romantischen Musik, weil wir alle selber die Bedürfnisse haben, die man Ende des 18. Jahrhunderts entdeckt: nämlich uns als Subjekt, als "Ich" zu konstituieren.


    Hallo Holger,


    wenn Du mit "verfallen" meinst, dass es in uns Regungen/Emotionen (auch die Musik betreffend) gibt, die wir mit der Ratio nicht (bzw. kaum) regulieren können, dann bin ich Deiner Meinung.


    Wenn Du mit "weil wir alle selber die Bedürfnisse haben" meinst, diese seien willentlich von/durch unserer Ratio gesteuert, dann würde ich das nicht verstehen können.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Eine sehr spannende Diskussion, der man sich auch persönlich stellen muß. Die Gretchenfrage also.


    Ich denke, die kritische Rezeptionshaltung R. Wagner gegenüber läßt sich mindestens bis zu Nietzsche zurückverfolgen. Nicht so sehr Kritik an Wagner, als eine Analyse des eigenen Rezeptionsverhaltens. Man kann das z.B. bei Nietzsche auf seine ästhetischen Idealkonzepte zurückverfolgen - und die sind apollinisch (Chopin - "Chopins Barcarole"), nicht dionysisch. Diskursiv, geformt, Distanz gewährend. Gefühle in ihrer überwältigenden Unmittelbarkeit instinktiv abwehrend und herunterspielend.


    Der Romantik ging es ja u.a. um eine Ausleuchtung der Seele in all ihrer Tiefe und Leidenschaft. Bei Wagner kommt hinzu die formale Gestaltung der Zeitlichkeit des Erlebens - z.B. des Jetzt, des Augenblicks. Musikalische Zeit. Musikalische Seelenverhätnisse.


    Wenn man, wie Glockenton, die Suspense-Spannung mit dem Sexuellen kurzschließt, zeichnet man Wagner zu mechanistisch. Man denke an den Beginn von Tristan, den Dialog Brangäne-Isolde nach dem ersten Gesang des jungen Seemanns. Die rhythmisch akzentuierte, dennoch nicht schematische Begleitung im Orchester zu "Blaue Streifen steigen im Osten auf" als Kontrastfolie zu Isoldes exaltiertem Ausbruch nach "Nimmermehr - nicht heut, noch morgen" usw. Man mag, verglichen mit einer zornigen Händelarie, Isoldes Affektgewitter als Unmittelbarkeit hinstellen - gleichwohl wird die Zerrissenheit der Figur hier nicht als einfache Identifikationsnummer über den Hörer gestülpt. Man vernimmt stattdessen das komplexe Charakterbild einer enttäuschten Liebenden in aufgesetztem Haß und Selbsthaß (später, wiederum kontrastierend, den tödlich stoischen Tristan, der Isolde gegenübertritt). Alles ist spannungsvoll, sprechend, psychologisch tief. Nah am Phänomen, aber wesenhaft erfaßt, nicht effekthascherisch überzeichnet.


    Die "großen Gefühle" als ästhetisch vermittelte, als künstlich evozierte finden sich nicht erst in Wotans Abschied, sondern schon im Barock und der Klassik. Bei Wagner neu ist die Gestaltung des Werdenden, der Gestaltlosigkeit (nicht bloß im Es-Dur des Rheingolds). Debussy im Pelléas hat die Ausformulierung des Affekts, nicht seine übergängliche und unfaßliche Morphologie zurückgenommen. Der Parsifal bot schon bei Wagner das Vorbild. Arkels Leidensgebärde, Golauds Eifersuchtspathos, Yniolds Angst werden breit ausgemalt. Nur die Liebe zwischen den Protagonisten bleibt aphoristische Andeutung.


    Der Genuß der ästhetischen Distanz ist seit Aristoteles und Horaz bis zu Schopenhauer und Nietzsche fester Bestandteil des Erlebens von Kunst. Dabei stehen sich rettende Distanz und zugemutete Unmittelbarkeit in immer heiklerer Spannung gegenüber - man denke an die Entwicklung visueller Gewalt im Film, von Hitchcock über Lynch bis zum modernen Horrorfilm. "Schindlers Liste" mit seinen distanzlosen Kopfschuß-Hinrichtungen wäre für die Western der 40er undenkbar. In "Dead Man" von Jarmusch wird das Stilmittel bereits persifliert. Stones "Natural born Killers" ästhetistiert die filmisch mögliche Gewalt in ungeahntem Ausmaß. Tarantino zieht die Konsequenzen aus dem Dilemma künstlich übersteigerter Gewaltdarstellung als vermeintlicher Rettung des Realismus - sie wird zur Satire ihrer selbst. Der 11. September war sozusagen die Umsetzung ins Reale. Maximale Medienwirksamkeit. Man erinnert sich: Der total Krieg, noch totaler, als man ihn sich vorstellen kann. Das hat noch keinen zurückgeschreckt, geschweige einen Künstler von Rang.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Liebe Bachiana,


    eine schöne Diskussion hast du da angestossen. Ich fand den Gedanken der Epochenwende erstmal bestechend, bleibe aber beim konkreten Fall hängen.


    Wenn ich z.B. Schuberts Große C-Dur-Sinfonie nehme, hat sie eigentlich nichts mit den vermeintlichen subjektiven Gefühls"orgien" der Winterreise zu tun - sie ist eigentlich eine überpersönliche Musik. Ja, immer mehr glaube ich, dass es kein individueller Wanderer ist, der durch diese Musik schreitet, sondern das Wirken der Natur selbst. Womit wir bei Sibelius wären - auch für ihn gilt Glockentons schöner Satz über Schuberts Fünfte: "Die Musik genügt sich selbst. Sie braucht uns nicht, wir brauchen sie".


    Insofern scheitert die Idee der klaren Zäsur vermutlich daran, dass es a) keine Konsistenz innerhalb der Zeitläufte gibt, und b) auch keine Konsistenz einzelner Komponisten bzgl. unterschiedlicher Gattungen und biografischer Stufen (wie Schubert).


    Was meinst du?


    Herzliche Grüße


    Christian

    "...man darf also gespannt sein, ob eines Tages das Selbstmordattentat eines fanatischen Bruckner-Hörers seinem Wirken ein Ende setzen wird."



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  • Wenn ich z.B. Schuberts Große C-Dur-Sinfonie nehme, hat sie eigentlich nichts mit den vermeintlichen subjektiven Gefühls"orgien" der Winterreise zu tun - sie ist eigentlich eine überpersönliche Musik.

    Christian :)


    Das ist in der Tat ein merkwürdiger und und zugleich wichtiger Aspekt. In dieselbe Richtung geht die folgende Bemerkung von Alfred Cortot zu Schumann:


    „Comme nous en avons parlé avant-hier soir, il y a des moments dans la musique de Schumann, où la rêverie n´est plus personelle, où elle mêlée à la nature, à la sensation, à une sorte d´élément statique. Le poétique de cette andantino est objective… “


    Wenn so subjektive Romantik das Überpersönliche und "Objektive" betont, scheint das zunächst paradox und irritierend. Ist es dann aber doch nicht, wenn man genauer hinschaut. Denn die romantische Auflösung des Ich im pantheistisch gefärbten Naturerleben ist letztlich auch eine Form von emphatischem Selbsterleben, setzt also die Zäsur voraus, welche durch die Entdeckung subjektiven Gefühlsausdrucks gesetzt ist. Gerade auch in der romantischen Literatur (Eichendorff z.B.) kann man das schön sehen! :hello:


    Einen schönen sonnigen Sonntag in der Natur wünscht
    Holger

  • Bei Wagner kommt hinzu die formale Gestaltung der Zeitlichkeit des Erlebens - z.B. des Jetzt, des Augenblicks. Musikalische Zeit. Musikalische Seelenverhätnisse.

    Ja - wieder einmal ein wunderbarer Beitrag von Dir, lieber Farinelli, den ich mit Vergnügen gelesen habe.



    Der Genuß der ästhetischen Distanz ist seit Aristoteles und Horaz bis zu Schopenhauer und Nietzsche fester Bestandteil des Erlebens von Kunst.

    ... wobei bei Aristoteles ja höchst interessant ist, dass er im Unterschied zu seinen modernen Epigonen das dramatische Erlebnis eigentlich noch gar nicht wirklich ästhetisch, vielmehr ethisch betrachtet. ;)


    Herzlich grüßend
    Holger

  • Ich finde den Ansatz , den Melante erwähnt, sehr brauchbar. Denn in der Tat scheint es mir so, als würde dies eine Rolle spielen. Der Weg der Gesellschaft hin zu einer Individualisierung, wie wir sie heute erleben, wo die eigenen Bedürfnisse und Wunschbefriedigungen einen in der Geschichte beispiellosen Raum eingenommen haben, ist ja deutlich erkennbar. Dieser hat zwar natürlich bereits lange vor Mozart begonnen, jedoch scheint er ab etwa 1800 sich auch in der Musik zu spiegeln. Die emotionale "Vereinnahmung" der Hörers durch ein Musikstück scheint mir analog zu gehen mit der Betonung individueller Gefühle. Denn diese Betonung macht Gefühle automatisch stärker, "bedeutsamer". In Zeiten, wo die Lebensumstände eine starke Betonung von Familie und anderen sozialen Gefügen erforderten, hatten wohl auch individuelle Gefühle einen anderen Stellenwert. Und auch einen anderen Einfluss. Vielleicht sogar einen anderen Pegel an "Futter" für eigenes Leiden (zumal das äußere Leiden durch die Lebensbedingungen mehr im Vordergrund stand). Will heißen: Erst seit Schubert , Wagner, Liszt "kocht" man im eigenen Saft und hat das Bedürfnis, dieses auch auszudrücken. Es könnte sein, dass es dieser "Zwang" ist, der auch zu einer geänderten Ausdrucksweise der Musik führt bzw. sich in ihr spiegelt.
    Ich sprach vor wenigen Tagen mit einem jungen Komponisten und fragte ihn, was er denn mit seiner Musik bewirken wolle. Er antwortete: "Eigentlich gar nichts. Ich will nur ausdrücken, was an Musik in mir drinnen ist." Josquin, Palestrina, Bach oder Haydn hätten dies wohl ganz anders gesehen. Und Mozart vermutlich auch.

    Man sagt, wenn die Engel für Gott spielen, so spielen sie Bach, füreinander aber spielen sie Mozart.
    (Sir Isaiah Berlin)

  • Insofern scheitert die Idee der klaren Zäsur vermutlich daran, dass es a) keine Konsistenz innerhalb der Zeitläufte gibt, und b) auch keine Konsistenz einzelner Komponisten bzgl. unterschiedlicher Gattungen und biografischer Stufen (wie Schubert).


    Viele Gattungen sind ja recht offensichtlich auf mehr oder weniger "Intimität" oder persönlichen Gefühlsausdruck angelegt. Lieder und Klavierwerke, auch die meiste Kammermusik waren zu Schuberts Zeiten private bis halböffentliche Musik, die Sinfonie neben der Oper die öffentliche Musikgattung überhaupt. Bei Schubert, oder überhaupt in der ersten Hälfte des 19. Jhds. kommt noch dazu, dass Lieder und freiere Klavierstücke Formen waren, die durch die Tradition nicht so stark vorgeformt waren wie Sinfonie oder Streichquartett. Schuberts Große C-Dur ist seine erste und einzige vollendete Sinfonie auf Augenhöhe mit Beethoven. Sie ist allein im Umfang ungewöhnlich genug, da verwundert es nicht, dass sie in anderen Aspekten sich vergleichsweise konservativ den Gattungsvorgaben fügt.
    Bei Schumann ist das auch noch relativ deutlich, aber zumindest in der 2. Sinfonie dringen "private Chiffren" (nämlich das An-die-Ferne-Geliebte-Zitat) in die öffentliche Gattung ein. Das ist jedoch ein Einzelfall und kein Vergleich zu der Fülle von Zitaten, privaten Codes und Querverweisen in der Klaviermusik und den Liedern Schumanns.
    Erst in Mahler Sinfonien findet man einen Reichtum an Zitaten, Collagen, Anspielungen und eine eigentümliche Verschränkung von privat und öffentlich, die vielleicht mit Schumanns Klaviermusik vergleichbar wäre. Und andererseits wird um 1900 die Tradition, die allzu offensichtlichen persönlichen Ausdruck in der Musik eher ablehnt, wieder sehr stark. Debussy, Satie, sogar Strauss ist verglichen mit Schumann oder Mahler weit eher ein "distanzierter Hexenmeister", der das Publikum begeistert, aber sein Innenleben verbirgt.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Wenn man epochale Einteilungen macht, steht man immer vor der Frage, wie die "Zäsuren" zu begreifen sind. Sicher werden sie nicht mit dem Rasiermesser gezogen. Eggebrecht spricht von "Revolution", das ist natürlich sehr stark und suggeriert im Anklang an die französische Revolution ein singuläres Ereignis. Da muß man wohl etwas differenzieren. Wenn man die Neuzeit in der Philosophie gerne mit Descartes beginnen läßt, ist es ja auch nicht so, dass ältere Philosophen (wie Cusanus etwa) nicht schon neuzeitliche Elemente gehabt hätten oder solche aus der antik-mittelalterlichen Philosophie nicht auch weiter fortleben würden. Das alles bedeutet aber wiederum nicht, dass es unsinnig wäre, einen Epochenbegriff von Neuzeit zu bilden. Mit Blick auf die expressive Wende ist es wohl so, dass es natürlich solche Elemente des Ausdrucks von Selbsterleben auch schon bei Bach und anderen gibt. Nur die Gewichte verschieben sich. Solche Züge werden nämlich zu Bachs Zeiten eher domestiziert z.B. durch rhetorische Elemente. Im 19. Jhd. werden sie dann zunehmend freigesetzt, d.h. man verzichtet darauf, das Ausleben von Subjektivität musiksprachlich, durch die Artikulationsform, in die Schranken zu weisen. Da brechen dann sozusagen die Dämme. Solche Verschiebungen erlauben es dann - aufs Ganze gesehen - die These von einem Wandel des Gefühlsverständnisses in der Musik aufrecht zu erhalten, denn er ist für den Hörer ja auch offenkundig. Es gibt zu Schuberts Winterreise einfach nichts Vergleichbares im 16. oder 17. oder frühen 18. Jahrhundert.


    Schöne Grüße
    Holger

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  • Melante bricht ja hier sehr vorsichtig eine Lanze für die marxistische Ästhetik und Kunstwissenschaft. Er zitiert ein in der DDR seinerzeit verbotenes Buch; aber selbst die regulären Veröffentlichungen sind oft sehr niveauvoll und anregend - man muß die Standpunkte ja nicht teilen.


    Aus marxistischer Sicht ist ein schrankenloser Individualismus bzw. Subjektivismus ein Irrweg. Im ersten Fall setzt sich ja ein Einzelner in seinen Ansprüchen über alles andere hinweg - z.B. der Typus des Renaissance-Fürsten. Im zweiten Fall verinnerlicht ein Individuum seine Abgespaltenheit und Entfremdung (von Freundschaft, Liebe, Familie, gesellschaflicher Anerkennung, materiellem Erfolg usw.) und identifiziert sich damit. Die Winterreise ist insofern ein beredtes Zeugnis für die unauflösbaren Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jh., zugleich aber auch ein Beispiel für ästhetischen Konsequenzen, die sich daraus ergeben, daß man diese Entfremdung existentiell verabsolutiert, statt sie soziologisch zu hinterfragen.


    Irgendwo zwischen dieser Kreuztragung eines irgendwie (auch selbst-)auferlegten Leidens (ohne religiöse Hoffnung) und einer rauschhaften Selbstverwirklichung à la "Le poème de l´extase" bewegt sich, wenn ich sie recht verstehe, Bachianas Distanznahme zur Musik des 19. Jh. Brahms´ "Wiegenlieder meiner Schmerzen" - so nannte er die späten Klavierstücke, die Fantasien und Intermezzi - könnten hier exemplarisch für ein privates Einlullen im Schmerz stehen, ein Verhätscheln des Herzeleids, wozu die zahllosen Lieder über Texte scheiternder oder enttäuschter Liebe passen.


    Aber auch die großen Erlösungsdramen des 19. Jh., von der Missa solemnis und Freudenode bis zu Mahlers 8. oder dem Parsifal, haben etwas irgendwie Angestrengtes und Anstrengendes an sich. Adrian Leverkühns "Doktor Fausti Weheklag" als "Monstre-Werk der Klage" bringt den Typus dieser Generalexekution des um Erlösung wimmernden Individuums auf den Punkt.


    Mein innerer Anlaß, mich an dieser Diskussion überhaupt zu beteiligen, ist die von mir bereits mehrfach im Forum geäußerte Erfahrung, daß die Beschäftigung mit der - nicht nur geistlichen - Musik des 15., 16. und 17. Jh. irgendwie immun macht gegen die Vereinnahmung durch die romantische Musik, wie Bachiana und andere sie hier schildern. Die Missa pro defunctis von Victoria, das Stabat Mater pour les religieueses von Charpentier ergreifen mich anders als, vielleicht, der Parsifal, auf einer tieferen, ich möchte sagen: älteren Ebene, mit einem anderen Ernst, einer anderen Trauer und Tröstung.


    Holger hat ja, im Zusammenhang mit Cortot über Schumann, bereits darauf hingewiesen daß auch die Erlösung des Subjekts von sich selbst zum romantischen Programm gehört. Von daher wäre es ja nur folgerichtig, wenn wir, im Ausgang des romantischen Zeitalters, auf der Schwelle zum 21. Jh. uns auf die vorsubjektive Epoche zurückbesinnten.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • In der Musikgeschichte gibt es zwei revolutionäre Momente des Stilwandels:
    Den Umbruch um das Jahr 1600, wo sich die Musik von der horizontal getragenen Polyphonie hinwendet zu einer generalbass- (also harmonie-)gestützten Struktur. Für Jahrhunderte ist fortan eine Melodie nicht ohne (zumindest vom Hörer mit gedachten) Bass denkbar.
    Um die Wende zu 20. Jahrhundert vollzog sich (freilich lange vorbereitet) die Wende des Stilangebots in die Atonalität. Viele Komponisten verwarfen teils oder gänzlich die bisher geltenden Regeln des Zusammenklangs.


    Ich beobachte anhand meiner Hörvorlieben schon lange einen weiteren, doch eher unscheinbar vor sich gegangenen Wendepunkt...


    Hallo Bachiania,


    meinst Du nun die Gefühle und Emotionen der Komponisten und deren Interpreten oder die der Musikhörer? Ich habe mir alle Beiträge mehrmals durchgelesen und dabei den Eindruck gewonnen, dass zwischen beiden Gruppen z. T. nicht unterschieden/ getrennt wird - was aber m. E. der Fall sein müsste. Beispiele: Ob Bach bei der Komposition aller seiner Fugen Emotionen hatte, bezweifle ich, bei Schuberts Winterreise bin ich mir seiner Emotionen sehr sicher und ob er seine große C-Dur emotionslos komponiert hat, scheint mir wenig einleuchtend.


    Auf die Ergebnisse der Gehirnforschung - das Hören von Musik betreffend - darf ich verweisen.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Holger hat ja, im Zusammenhang mit Cortot über Schumann, bereits darauf hingewiesen daß auch die Erlösung des Subjekts von sich selbst zum romantischen Programm gehört. Von daher wäre es ja nur folgerichtig, wenn wir, im Ausgang des romantischen Zeitalters, auf der Schwelle zum 21. Jh. uns auf die vorsubjektive Epoche zurückbesinnten.


    Ein schönes Paradoxon eigentlich: Wer es satt ist, ein Subjekt und Individuum zu sein, hat ja in unserer Gesellschaft beliebige Möglichkeit, sich in kollektiven Zuständen auszuprobieren, von der Wandergruppe über die Meditation bis zur totalitären Religion. Was dann, in der Wahlfreiheit, auch wiederum Individualismus ist. Voraussetzung dafür schafft eine Gesellschaftsform und ein Gesetzgeber, die die individuelle Freiheit und den Individualismus für ein in weiten Teilen nicht veräußerbares Gut halten. Gefährlich wird es nur dort, wo solche Bestrebungen, den Individualismus zu "überwinden", vom Individuum auf den Staat übertragen werden sollen - da ist mir jederzeit Thoreau näher als Marx...


    Beste Grüße


    Christian

    "...man darf also gespannt sein, ob eines Tages das Selbstmordattentat eines fanatischen Bruckner-Hörers seinem Wirken ein Ende setzen wird."



  • Deinen letzten Beitrag, farinelli, kann und mag ich im einzelnen nicht kommentieren. Dazu gibt es hier kompetentere Leute (einen darunter hast Du darin ja schon namentlich erwähnt).
    Ich möchte mich einfach nur dafür bedanken, denn er hat mich zum Nachdenken angeregt. Durch eine Bemerkung wie diese zum Beispiel:
    Zit.: "...könnten hier exemplarisch für ein privates Einlullen im Schmerz stehen, ein Verhätscheln des Herzeleids, wozu die zahllosen Lieder über Texte scheiternder oder enttäuschter Liebe passen."

    „Scheiternde Liebe“ ist auch Gegenstand von Schönbergs „Buch der hängenden Gärten“. Gescheiterte Liebe steht im Zentrum der von Dir angesprochenen „Winterreise“ Schuberts, und darüber hinaus ist sie Gegenstand nicht nur anderer Liederzyklen nachfolgender Komponisten, sondern zentrales Thema der Lieder des neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts. Aber man greift zu kurz, wenn man das so sieht, wie Du das in Deinem Beitrag getan hast, exemplarisch sich verdichtend in dem obigen Zitat. Von „privatem Einlullen“ und „Verhätscheln des Herzeleids“ kann in diesem Zusammenhang in gar keiner Weise die Rede sein. Denn „scheiternde Liebe“ ist nur das Symptom einer tiefer liegenden existenziellen Grunderfahrung.


    In der Geschichte des Liedes – und nicht nur dort - schlägt sich etwas nieder, was ich als geistesgeschichtliches und künstlerisches Grundphänomen des neunzehnten und anfänglichen zwanzigsten Jahrhunderts betrachte, des eminent bürgerlichen Zeitalters also. Es ist das, was Th. W. Adorno die „Dialektik der Einsamkeit“ nannte. Für mich – und nicht nur für mich – ist sie die eigentliche Quelle der großen Musik dieser Epoche. Mit vom Marxismus hergeleiteten Kategorien kommt man ihr nicht bei. Spätestens seit Ernst Bloch weiß man das eigentlich.


    Ich werde mich im Zusammenhang mit Schönbergs „Buch der hängenden Gärten“ noch einmal mit Deinen Gedanken beschäftigen, obwohl ich mit diesem Werk eigentlich schon am Ende bin.
    Deshalb noch einmal: Dank dafür!

  • Melante bricht ja hier sehr vorsichtig eine Lanze für die marxistische Ästhetik und Kunstwissenschaft. Er zitiert ein in der DDR seinerzeit verbotenes Buch; aber selbst die regulären Veröffentlichungen sind oft sehr niveauvoll und anregend - man muß die Standpunkte ja nicht teilen.

    Da bin ich genau Deiner Meinung, lieber Farinelli!



    Aus marxistischer Sicht ist ein schrankenloser Individualismus bzw. Subjektivismus ein Irrweg. Im ersten Fall setzt sich ja ein Einzelner in seinen Ansprüchen über alles andere hinweg - z.B. der Typus des Renaissance-Fürsten. Im zweiten Fall verinnerlicht ein Individuum seine Abgespaltenheit und Entfremdung (von Freundschaft, Liebe, Familie, gesellschaflicher Anerkennung, materiellem Erfolg usw.) und identifiziert sich damit.

    Da muß ich nun allerdings Bedenken in zweierlei Hinsicht äußern:


    Ist diese marxistische Weltsicht nicht längst gescheitert und zwar gerade in ihrer anspruchsvollen Form? Die anspruchsvolle Variante ist ja nicht die – letztlich totalitäre – Auflösung des Individuums ins gesellschaftliche Kollektiv, sondern die mit Marx selbst hegelianisch gedachte dialektische „Versöhnung“ des Individuums mit der Gesellschaft, das in ihr schließlich integrierend aufgehoben wird. Nehme ich da aber Georg Simmel, also Soziologie an der Wende des 20. Jhd., dann ist diese Utopie längst gestorben in einer „Tragödie der Kultur“. Die Vereinzelung des Individuums den Prozessen der Gesellschaft gegenüber, die ihm davonlaufen, ist unaufhebbar. Und auch Niklas Luhmann bestätigt das zu Beginn unseres 21. Jhd.: Die Globalisierung von heute – die Konstitution der „Weltgesellschaft“ – hat paradox immer eine radikale Partikularisierung als Kehrseite.


    Und das zweite Bedenken betrifft die musiksoziologische Gleichsetzung von moderner Subjektivität mit Individualität (durch das soziologische, inzwischen auch in der Soziologie schon umstrittene Deutungsschema Individuum versus Gesellschaft). Franz Liszt vertont bezeichnend Petrarca – „Pace non trovo“. Geschildert wird im Sonett die chaotische Verwirrung, in die Petrarcas Liebe zu seiner Laura seine Seele stürzt. Der Romantiker Liszt wählt hier interessanter Weise höchst individualistische Lyrik, die aus dem 14. Jhd. stammt! Die Entdeckung von Individualität gibt es also bereits im Mittelalter und dann natürlich in der Renaissance, die Entdeckung von Subjektivität um 1800 ist da wohl doch noch eine andere Dimension, denn Petrarca war sicher noch kein Romantiker.



    Die Winterreise ist insofern ein beredtes Zeugnis für die unauflösbaren Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jh., zugleich aber auch ein Beispiel für ästhetischen Konsequenzen, die sich daraus ergeben, daß man diese Entfremdung existentiell verabsolutiert, statt sie soziologisch zu hinterfragen.

    Was ergibt aber die soziologische Hinterfragung? Dass die Fremdheit, welche die „Winterreise“ thematisiert, letztlich gar kein Produkt subjektiver Entfremdung ist, wie die Entfremdungsdialektik von Schiller, Hegel oder Marx meint, sondern schlicht ein unvermeidliches soziales Konstrukt ist. Niklas Luhmann sagt fast schon zynisch: Die Subjektivität konstituiert das moderne Individuum nicht selbst, sie wird ihm von der Gesellschaft zugewiesen und quasi „verordnet“. Damit hat es einfach keine andere Wahl, so zu sein, wie es ist.



    Irgendwo zwischen dieser Kreuztragung eines irgendwie (auch selbst-)auferlegten Leidens (ohne religiöse Hoffnung) und einer rauschhaften Selbstverwirklichung à la "Le poème de l´extase" bewegt sich, wenn ich sie recht verstehe, Bachianas Distanznahme zur Musik des 19. Jh. Brahms´ "Wiegenlieder meiner Schmerzen" - so nannte er die späten Klavierstücke, die Fantasien und Intermezzi - könnten hier exemplarisch für ein privates Einlullen im Schmerz stehen, ein Verhätscheln des Herzeleids, wozu die zahllosen Lieder über Texte scheiternder oder enttäuschter Liebe passen.

    Ich würde Dir da zugeben, dass es höchst spannend wäre, zu untersuchen, wie in den verschiedenen Epochen musikalisch das Leiden unterschiedlich ausgedrückt wird. In Bezug auf Brahms denke ich allerdings anders. Bei einem Subjekt, das sich der Welt fremd fühlt, kann der Schmerz nicht nur zum Tröster werden, sondern sogar zum – tragischen – Ort der Selbstfindung: Zumindest im Leiden ist der Mensch bei sich und nicht mehr nur entfremdet außer sich.


    Ich mag ja die Balladen op. 10 von Brahms besonders – kongenial und unerreicht interpretiert durch Arturo Benedetti Michelangeli. Das ist ernste und „ehrliche“ Musik in ihrem tief empfundenen Schmerz – da wird für mich nichts verharmlost oder verhätschelt. Romantik im besten – und für mich überzeugendsten – Sinne. „Privat“ ist das freilich – aber nicht im Sinne von privativ, weil es letztlich eine allgemeine Weltsicht ist: Die Welt gesehen aus dem Blickwinkel des leidenden Subjekts.



    Aber auch die großen Erlösungsdramen des 19. Jh., von der Missa solemnis und Freudenode bis zu Mahlers 8. oder dem Parsifal, haben etwas irgendwie Angestrengtes und Anstrengendes an sich. Adrian Leverkühns "Doktor Fausti Weheklag" als "Monstre-Werk der Klage" bringt den Typus dieser Generalexekution des um Erlösung wimmernden Individuums auf den Punkt.

    Da würde ich Dir auch zustimmen. Die Frage ist letztlich, wie man das philosophisch bewertet. Hegel sagte mal „Die Wahrheit des Individuums ist sein Tod“ – und alle Marxisten bis heute sind dem gefolgt. Aber wie, wenn die Konstitution des Individuums eine unauflösliche Absurdität wäre? Dann wäre es sozusagen unsterblich und würde an dieser Unsterblichkeit natürlich unendlich leiden. (Die Thematik gibt es ja tatsächlich in einer Janacek-Oper.)



    Mein innerer Anlaß, mich an dieser Diskussion überhaupt zu beteiligen, ist die von mir bereits mehrfach im Forum geäußerte Erfahrung, daß die Beschäftigung mit der - nicht nur geistlichen - Musik des 15., 16. und 17. Jh. irgendwie immun macht gegen die Vereinnahmung durch die romantische Musik, wie Bachiana und andere sie hier schildern. Die Missa pro defunctis von Victoria, das Stabat Mater pour les religieueses von Charpentier ergreifen mich anders als, vielleicht, der Parsifal, auf einer tieferen, ich möchte sagen: älteren Ebene, mit einem anderen Ernst, einer anderen Trauer und Tröstung.

    In Bezug auf diese Frage muss ich sagen, dass ich da „zwei Seelen in einer Brust“ habe. Seit meiner Jugend bin ich einerseits ein großer Liebhaber von Debussy – also „antiromantischer“ Musik. Zudem bin ich fasziniert von Neuer Musik, finde z.B. Stockhausens Musik als entsubjektiviertes Erleben von reinen Klangphänomenen eine tief beeindruckende Erfahrung. Nur hat mich das nie immun machen können gegen romantische Musik. Zwar lag mir immer schon die „Appassionata“ eigentlich weniger – ich fand diese Musik allzu erdrückend, was sich mit zunehmendem Alter aber doch geändert hat. Sehr nah waren und sind mir dagegen etwa die Waldstein-Sonate und op. 111. Aber ohne Brahms, Schubert, Chopin, Liszt kann ich auch nicht musikalisch leben. Es würde ein Teil von mir fehlen. Zugeben muss ich natürlich, dass mir was Alte Musik angeht doch einiges an Entdeckungen fehlt.



    Holger hat ja, im Zusammenhang mit Cortot über Schumann, bereits darauf hingewiesen daß auch die Erlösung des Subjekts von sich selbst zum romantischen Programm gehört. Von daher wäre es ja nur folgerichtig, wenn wir, im Ausgang des romantischen Zeitalters, auf der Schwelle zum 21. Jh. uns auf die vorsubjektive Epoche zurückbesinnten.

    Letzteres ist sonderbarer Weise die Quintessenz auch von Eggebrechts Aufsatz. Das schreibt er bezeichnend in einer Zeit, wo das Programm einer „Verwindung“ der modernen Subjektivität auch in der Philosophie en vogue war, etwa bei Heidegger. Und zweifellos gibt es das als starke Tendenz in der modernen Kunst: Primitivismus, Klassizismus, Neue Musik usw. Dazu gehört wie wir wissen immer die Rückbesinnung auf das Alte, siehe Pulcinella von Strawinsky oder Debussy und Ravel, die Musikstücke mit dem Titel „Hommage à Rameau“ oder „Le Tombeau de Couperin“ schreiben. Du erwähnst Th. Mann und seinen „Doctor Faustus“. Interessant ist, dass Th. Mann gerade diese moderne Neigung, die Subjektiviät loszuwerden, die „Läuterung des Komplizierten zum Einfachen“, als etwas Dämonisches und Mephistophelisches ansieht. Da fragt man sich dann ja: Ist purer Selbstverzicht wirklich ein tragfähiger Sinn? Oder: Was stört uns denn eigentlich genau an romantischer Subjektivität, dass wir sie oft nicht mehr ertragen wollen? Was sind eigentlich unsere Motive dabei?
    :hello:


    Herzlich grüßend
    Holger

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  • Ich sollte vielleicht klarstellen, daß ich weiter oben einen möglichen ästhetischen Standpunkt aus marxistischer Sicht bloß sehr grob und pointiert skizziert habe, ohne damit meine eigene Meinung oder gar Haltung zu formulieren.


    Helmuts Einwände haben mich ein wenig in die Lektüre zurückgetrieben. Wenn man die Verhältnisse wiederum stark vereinfacht, so läßt sich sagen, daß die Musik (sagen wir: zumal die des 19. Jh.) ihre tonal gebundene Grammatik so weit differenziert hat, daß sie geschmeidig genug wurde, die emotionale Innerlichkeit frappierend genau abzubilden. Nach Wagner und mit Schönberg wirft sie dann diesen ästhetischen Schein ab und zeichnet das nicht nur Schöne unserer inneren Regungen, Ängste und Leiden ohne Rückgriff auf die tradierten rhetorischen Kategorien, Formeln und Phrasen quasi seismographisch nach.


    (das ist von mir alles unverantwortlich simplifiziert)


    Wenn man diesen Prozeß in der Geschichte zurückverfolgt, scheint die von Helmut zitierte Wackenroderthese plausibel:


    "Es hat sich zwischen den einzelnen mathematischen Tonverhältnissen und den einzelnen Fibern des menschlichen Herzens eine unerklärliche Sympathie offenbart, wodurch die Tonkunst ein reichhaltiges und bildsames Maschinenwerk zur Abschilderung menschlicher Empfindung geworden ist. (...) Keine andere (Kunst) vermag diese Eigenschaft der Tiefsinnigkeit, der sinnlichen Kraft, und der dunklen, phantastischen Bedeutsamkeit auf eine so rätselhafte Weise zu verschmelzen."


    Lieber Zweiterbass: bedenke doch, daß die vegetative Steuerung des Herzens durch den Sympathicus gar nicht so einfach zu begreifen ist. Und wenn man unter Fibern nicht bloß Sehnen oder Fasern, sondern zumal die Nervenbahnen versteht, zugleich aber das Herz als emotionales Zentrum erkennt, so hat Wackenroder innerhalb seiner Metaphorik allemal recht.


    Ebenso interessant an dem Zitat scheint mir jedoch, neben der hier sehr früh gewählten Zuordnung zu einem historischen Prozeß, die Maschinenmetapher zu sein.


    Der "dunklen phantastischen Bedeutsamkeit", "sinnlichen Kraft" und "Tiefsinnigkeit" musikalischer Emotionen hat sich die Diskussion des Threads ja bereits verschiedentlich angenommen. Das Unbestimmte unserer Gefühlswelt offenbart sich auf der Zeitachse als Kontinuum unklar gegeneinander abgegrenzter Seelenzustände, räumlich hingegen als Schichtmodell, wo unter vordergründigen Affekte tiefere Gefühle schlummern.


    Schopenhauer hat, lange nach Wackenroder, unser Thema dahin eingegrenzt, Musik drücke zwar Emotionen aus, aber stest bloß in idealisierter Form - die Freude, den Schmerz; keinesfalls aber je eine wirklich subjektive Ausprägung davon. Man denkt hier unwillkürlich an die barocke Affektrhetorik, die ja noch bei Schopenhauers Ideal Mozart einige Gültigkeit besitzt. "Der Hölle Rache" ist nichts als das kalte Feuer triumphierenden Hasses, "In diesen heiligen Hallen" nichts als erhabene Humanität, "Dies Bildnis" nichts als schwärmerische Liebe, "Ach, ich fühl´s " nichts als abgrundtiefe Melancholie.


    Und dennoch, und das ist das eigentliche Wunder, empfinden wir Paminas Schmerz nicht über den Umweg eigener leidvoller Erfahrung, sondern unmittelbar durch Empathie - wir rechnen ihn ihr persönlich zu, und dadurch wird dieses halb puppenhafte Geschöpf für uns lebendig - es ist nicht zuvorderst der Schmerz, sondern ihr Schmerz.


    Dieser Aspekt gehört für mich neben die von Bachiana eingangs dieses threads so plastisch geschilderten Phänomene der Distanzlosigkeit zur musikalischen Emotion - der unvermeidlichen Identifikation mit Tristan (oder vielmehr der nicht abzuwehrenden Aufwühlung durch die expressive Emotionalität).


    Man mag sich fragen, ob nicht bereits in der Matthäuspassion die Spannung zwischen Empathie (ecce homo) und emotionaler Vereinnahmung des Hörers (etwa durch die dichte musikalische Affektdarstellung) stark ausgeprägt ist.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Lieber farinelli,


    Lieber Zweiterbass: bedenke doch, daß die vegetative Steuerung des Herzens durch den Sympathicus gar nicht so einfach zu begreifen ist. Und wenn man unter Fibern nicht bloß Sehnen oder Fasern, sondern zumal die Nervenbahnen versteht, zugleich aber das Herz als emotionales Zentrum erkennt, so hat Wackenroder innerhalb seiner Metaphorik allemal recht.

    Wackenroder hat das nicht anders gekannt, eben dem damaligen Wissensstand entsprechend, aber wir anerkennen das Herz wohl nicht mehr als emotionales Zentrum.


    Schopenhauer hat, lange nach Wackenroder, unser Thema dahin eingegrenzt, Musik drücke zwar Emotionen aus, aber stest bloß in idealisierter Form - die Freude, den Schmerz; keinesfalls aber je eine wirklich subjektive Ausprägung davon.

    Ich meine, das gilt z. B. nicht für Distlers Chorsatz "Ich wollt dass ich daheime wär".



    Und dennoch, und das ist das eigentliche Wunder, empfinden wir Paminas Schmerz nicht über den Umweg eigener leidvoller Erfahrung, sondern unmittelbar durch Empathie

    Ein Mensch, der einen Schmerz/Freude aus eigener leidvoller/himmelhoch jauchzender Erfahrung kennt, wird umfangreicher, tiefer empfinden als "nur" über Empathie. Beispiel: Ein Mann wird nie die Gefühle, den Schmerz einer Frau bei der Entbindung über Empathie nachfühlen können; das persönliche Miterleben der Entbindung eines gemeinsames Kindes kann er jedoch als höchst emotional empfinden. (Meine Meinung zu Mahlers Kindertotenlieder ist Dir bekannt.)


    Viele Grüße
    zweiterbass



    Nachsatz: Dieser Beitrag soll keine Entgegnung zu Deiner Meinung sein, er soll/kann sie nur erweitern oder komplettieren.

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Lieber Farinelli,
    lieber zweiterbass,


    vielleicht interessant, dass in der Altenpflegeausbildung auch heute noch Wert darauf gelegt wird, das Herz nicht nur als "Pumpe" zu betrachten, sondern ihm weitere Funktionen nicht abzusprechen.
    Seltsamerweise fällt es niemanden schwer zu akzeptieren, dass jemand an "gebrochenem Herzen" leidet.
    Viel schwerer ist es den Dozenten möglich zu erklären, dass wir unser Hirn nur zu zwanzig Prozent zum Denken nutzen und eben achtzig Prozent "Leistung" in die Spiegelneuronen geht, die nichts anderes tun, als ständig damit beschäftigt zu sein zu ergründen, was in unserem Gegenüber emotional vorgeht.


    Ganz klar aber: wir können nicht fühlen, was unser Gegenüber fühlt. Wir können es allenfalls spiegeln.
    Das sind dann aber unsere eigenen Gefühle, nicht die des Urhebers.
    Die zu erkennen nutzen wir nebst allem der verbalen Kommunikation eben auch Tonfall, Stimmlage, Klangfarbe etc....in gewisser Weise die "Musik der Sprache", das Nonverbale.


    Was in den Köpfen- oder Herzen- von Menschen vorgeht, deren Wortschatz verlorenging auf Rudimente, die aber komplette Liedtexte mitsingen beim gemeinsamen Singen, wie stark also Wort und Musik verknüpft sind, ist nicht nur immer wieder eines der stärksten Erlebnisse für mich in meiner Arbeit.
    Es beschäftigt mich auch gedanklich, führt mich auf das, was Farinelli weiter oben schrieb.
    Denn es funktioniert nur im gemeinsamen Singen- und verlässt somit den hochgelobten Individualismus.


    Setzt allerdings auch einen gewissen Kanon an "gemeinsamer" Musik voraus.
    In der WG, in der ich arbeite, geht das über alte Schlager- schließt aber die einzelne Dame aus, die diese nicht kennt, die lieber Mozart hörte.
    Sie nun vor einen CD-Player zu setzen, aus dem Mozart dudelt, bringt nichts, die Gemeinsamkeit fehlt.
    Mit ihr gemeinsam allein ein paar Takte zu singen, lässt sie einstimmen und nimmt ihr alle Angst und Einsamkeit.


    Manchmal neige ich dazu, eigene Schlüsse aus solchen Erlebnissen zu ziehen.
    Eben solche, dass Sprache und Musik eins sind- und Harnoncourt viel weiterreichend recht hat als er selbst formuliert.
    Dass Musik "im stillen Kämmerlein" eigentlich ihren Sinn verfehlt.
    Dass eben doch das Singen "Fundament von allen Dingen".


    Und wirft Fragen auf: warum selbst diese mozartverliebte alte Dame- wie andere auch- komplizierte Bach- Fugen erinnert, aber keinen einzigen Bruckner- oder Mahler-Satz, vom "weder Fisch noch Fleisch"-Schubert ganz abgesehen.


    Dabei nicht zu vergessen: Demenzkranke sind bei vollem Bewusstsein, allein überwiegt ihre emotionale Kompetenz vor der kognitiven.


    Ich glaube, ich muss nicht explizit schreiben, dass ich nun nicht dafür plädiere, unsere kognitiven Fähigkeiten zu ignorieren um Musik anzunehmen. Aber ich bitte um zumindest ein Gleichgewicht. Und dafür, den Zusammenhang von Sprache und Musik nicht zu ignorieren.
    Rhetorische Floskeln und Formen sind wichtiger als Schönklang.
    Womit ich, lieber farinelli, Deinen Zeilen nahe bin, wenn auch anders formuliert.


    Herzliche Grüße,
    Mike

  • Ganz klar aber: wir können nicht fühlen, was unser Gegenüber fühlt. Wir können es allenfalls spiegeln.
    Das sind dann aber unsere eigenen Gefühle, nicht die des Urhebers.


    Das sehe, ich lieber Mike, von meinem theoretischen Standpunkt her ein bisschen anders. Wir hören ja letztlich nicht Beethoven oder Schumann, sondern Beethovens und Schumanns Musik - und welche Gefühle diese Musik ausdrückt. Schumann hat z.B. in seiner Fantasie op. 17 seine Gefühle Clara Wieck gegenüber ausdrücken wollen - aber daraus wissen wir nur aus der Biographie. Die "privaten" Gefühle des Komponisten kann ein Musikstück generell nicht ausdrücken, da hast Du selbstverständlich Recht. Aber andersherum gibt es ja auch Erfahrungen, dass uns ein bestimmter Ausdruck von Musik befremdet, d.h. wir ihn gerade nicht mit unserem eigenen Gefühl mitvollziehen können. Die These, dass angeblich alle in der Musik oder Kunst ausgedrückten Gefühle und Befindlichkeiten nur "Projektionen" unseres eigenen Innern seien, ist also genauso problematisch. Das ist allerdings die Abgründe der Einfühlungstheorie, mit denen ich mich herumgeschlagen habe... :D


    Herzlich grüßend
    Holger

  • Lieber Farinelli,
    lieber zweiterbass,


    vielleicht interessant, dass in der Altenpflegeausbildung auch heute noch Wert darauf gelegt wird, das Herz nicht nur als "Pumpe" zu betrachten, sondern ihm weitere Funktionen nicht abzusprechen.

    Lieber Melante,
    es ist auch noch Usus von Menschen die sich selbst töten, von Selbstmördern zu sprechen - sogar Sprecher von BR-Klassik tun dies - obwohl dies genau genommen absoluter Unsinn ist. Der richtige Ausdruck dafür ist Selbsttötung; auch Freitod ist falsch, da Menschen die sich selbst töten kranke Menschen sind, die unserer Hilfe bedürften und aufgrund ihrer Krankheit keinen freien Willen mehr haben können (aber wem sage ich das?).


    Welche weiteren Funktionen, neben der als Pumpe, sprichst Du dem Herzen zu?

    Seltsamerweise fällt es niemanden schwer zu akzeptieren, dass jemand an "gebrochenem Herzen" leidet.

    Dass Menschen am Herzen erkranken können, was allein psychische Ursachen haben kann, ist Allgemeingut. Nebenbei ist für mich das "gebrochene Herz" eine (ziemlich unglückliche) Metapher und die "dumme Gans" oder das "dreckige Schwein" ein ziemlich falsches Adjektiv für das jeweilige Tier ist und m. E. auch unter "dumme" Metapher einzureihen wäre.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

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