Jugendwahn in der klassischen Musik - Alt als unterrepräsentierte Stimmlage

  • Ich persönlich schätze das warme und dunkle Timbre vieler Altistinnen sehr und muss andererseits mit Bedauern feststellen, dass (Solo-)Alt eine von vielen Komponisten offensichtlich nicht besonders gern gesehene Stimmlage ist. (Wir hatten einen ähnlichen Thread schon einmal, wenn ich mich recht entsinne - "Ist alles außer Sopran/Tenor nur Beigemüse?" oder so ähnlich)


    Hier würde ich gerne erörtern:
    1) Ist mein Eindruck nur subjektiv? Gibt es in Wirklichkeit viele Stücke für Alt? Sind sie etwa nicht so bekannt wie andere? Warum?
    2) Gibt es einen Grund für die Abneigung gegen den Alt? Gab es zu wenig Kastraten oder Sängerinnen dieser Stimmlage?
    2b) Wieso lässt Haydn in der Schöpfung den Erzengel Michael unter den Tisch fallen und streicht den Soloalt (was sich spätestens in der Schlussfuge allerdings rächt)? Ist gerade die Wiener Klassik (im Vergleich etwa zum Barock) sehr reserviert gegenüber dieser Stimmlage?

  • Zitat

    Original von Philhellene
    Ich persönlich schätze das warme und dunkle Timbre vieler Altistinnen sehr und muss andererseits mit Bedauern feststellen, dass (Solo-)Alt eine von vielen Komponisten offensichtlich nicht besonders gern gesehene Stimmlage ist. (Wir hatten einen ähnlichen Thread schon einmal, wenn ich mich recht entsinne - "Ist alles außer Sopran/Tenor nur Beigemüse?" oder so ähnlich)


    es gibt einen ziemlich fiesen Spruch, das Altistinnen auf die Rollen der keifenden Schwiegermütter usw. festgelegt wären


    Zitat


    Hier würde ich gerne erörtern:
    1) Ist mein Eindruck nur subjektiv? Gibt es in Wirklichkeit viele Stücke für Alt? Sind sie etwa nicht so bekannt wie andere? Warum?


    Er trifft vermutlich aufs 19. Jhd., dass uns in fast jeder Hinsicht was Repertoire und musikalischen Geschmack betrifft immer noch entscheidend prägt, zu.


    Zitat


    2) Gibt es einen Grund für die Abneigung gegen den Alt? Gab es zu wenig Kastraten oder Sängerinnen dieser Stimmlage?


    Das Kastratenzeitalter kennt die Abneigung m.E. nicht! Viele der besten Kastraten waren Altstimmen. Das klassische barocke Liebespaar ist ein männlicher Altkastrat und eine Sopranistin (etwa Cäsar & Cleopatra). Wegen des ziemlich großen Tonumfangs vieler Kastraten werden diese Rollen heute mitunter auch mit Mezzos besetzt.
    (es gibt allerdings bizarre Fälle wie Händels frühes Werk Aci, Galatea e Polifemo, indem der (männliche) Aci eien höhere Stimmlage hat als Galatea)
    Vielleicht kam es dadurch aber dazu, dass z.B. zu Mozarts Zeiten eine weibliche Altstimme als seltsam empfunden worden wäre, weil man eben noch die Altkastraten der Opera Seria im Ohr hatte. Allerdings begann der Aufstieg des Tenors ja auch erst Ende des 18.Jhd. In der Barockoper sind Tenöre eher marginal, sie bleiben meist nur für gewisse Nebenrollen (u.a. ältere Männer wie Idomeneo): jugendliche Helden sind Alt/Mezzo, Bösewichter Bass/Bariton.


    Zitat


    Ist gerade die Wiener Klassik (im Vergleich etwa zum Barock) sehr reserviert gegenüber dieser Stimmlage?


    s.o. für eine recht spekulative Erklärung.


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • bei den Gesangsfächerirrtümern war schon die Rede davon, daß tiefere Stimmen sich höherschrauben wollen...


    Pflichtarien für Mezzi sind meistens Eboli, Komponist und... aus La Favorita...
    Jeweils mit b'' oder h'' am Schluß


    manchmal wird Erda vorgesungen - sehr selten..


    vielleicht - Theorie von mir - hat die heutige Zeit eine Vorliebe für höhere Stimmen, weil sie "mehr Energie" ausstrahlen
    im Gegensatz dazu ist die meditative Ruhe tiefer Stimmen etwas, was Angst erzeugen kann. Man möchte lieber mitgerissen, abgelenkt werden.


    das Fehlen tiefer Stimmen (betrifft die Bässe genauso) ist vielleicht Ausdruck für Verdrängung, man will bestimmte Gefühle nicht zulassen - die tiefen Töne können nicht erzwungen werden, nur zugelassen - das kann einen Menschen beeinflussen...


    Bässe werden immer als gemütlich und faul beschrieben - sie können es sich leisten, zu rauchen, oder zu trinken, ohne daß es der Stimme sofort anzumerken ist...


    ein kleiner Seitenhieb trifft die Gesangslehrer, die offensichtlich in der Ausbildung einiges vernachlässigen.


    als Empfehlung möchte ich noch auf die junge (gleich alt wie ich..) Elisabeth Kulman hinweisen, die letztes Jahr einen Fachwechsel durchgeführt hat...hat eine schöne Website

    Im übrigen bin ich der Ansicht, dass gepostete Bilder Namen des Fotografen, der dargestellten Personen sowie eine genaue Angabe des Orts enthalten sollten.
    (frei nach Marcus Porcius Cato Censorius)

  • Die Website dieser jungen Sängerin gibt ein Beispiel,wie sich aus einer hoffnungsvollen Sopranistin (Pamina,Figaro-Gräfin etc.) ein wundervoll erotisch klingender Mezzo mit schöner und warmer Alt-Tiefe entwickelt.


    Mich haben die tieferen Frauenstimmen schon immer fasziniert.Nicht nur Carmen,auch Santuzza,Eboli,Amneris oder auch Azucena sind wunderbar leidenschaftliche Charaktere,die nur mit tiefen Stimmen wirken.


    Also,Philhellene,kein Beigemüse,sondern tragende Säulen und Verkörperungen von Leidenschaft,Lust und Tragik.

    Freundliche Grüße Siegfried

  • Zitat

    Original von Philhellene
    Ich persönlich schätze das warme und dunkle Timbre vieler Altistinnen sehr


    Noch immer ist eine der beliebtesten Stimme der Tonträgerarchive die von Kathleen Ferrier. Und was war sie??? Genau!!

  • Hallo,


    ich glaube, das mediale Interesse an den hohen Stimmen dürfte auch damit zusammen hängen, dass es sie in sehr guter Qualität einfach viel seltener gibt.
    Auf der anderen Seite genießen die herausragenden Vertreter der tieferen Lagen fast ebenso große Popularität. Man denke nur an die Altistin Marilyn Horne, die ungeheuer Populär war, oder die Mezzosopranistin Christa Ludwig, die in ihrer absoluten Glanzzeit (+/- 1970) die Sängerin mit den weltweit höchsten Abendgagen war!


    Zu den Fragen:
    1) So wenig wird es gar nicht sein. Man denke nur an die Rossini-Partien, die in Wirklichkeit für Contralto komponiert waren und über ein Jahrhundert lang überwiegend von Koloratursopranistinnen gesungen wurden, bis sich das in den letzten Jahrzehnten wieder gewandelt hat.
    2) Ich merke ehrlich gesagt nichts von einer Abneigung.
    2a) Die Wiener Klassik liegt in der Übergangszeit von Kastrat zu Alt, vielleicht wird diese Stimmlage in dieser Zeit deshalb etwas unter dem Durchschnitt eingesetzt.


    (Dabei fällt mir ein, auf eine der außergewöhnlichsten Stimmen unserer Zeit hinzuweisen; muss nur den passenden Thread dafür suchen.)

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Zitat

    Original von Theophilus
    die Altistin Marilyn Horne


    War das nicht eine Mezzo???


    Eine richtige berühmte Altistin war auch Marion Anderson (oft sieht man auch Marian), eine schwarze Amerikanerin.
    Nur von Hannah Schwarz kann ich sagen, daß ich ihr auf Grund ihres tiefen Timbre eher als Altistin betrachte und nicht als Mezzo.

  • Zitat

    Original von musicophil


    War das nicht eine Mezzo???


    Eine richtige berühmte Altistin war auch Marion Anderson (oft sieht man auch Marian), eine schwarze Amerikanerin.
    Nur von Hannah Schwarz kann ich sagen, daß ich ihr auf Grund ihres tiefen Timbre eher als Altistin betrachte und nicht als Mezzo.


    Ich kann dir nicht sagen, wie der Unterschied zwischen Alt und Mezzo genau definiert ist. Auf jeden Fall sang Marilyn Horne zum Beispiel die tiefen Rossini-Rollen, die z.B. einer Angelika Kirchschlager oder einer Cecilia Bartoli verwehrt sind.

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Zitat

    Original von Theophilus
    ich glaube, das mediale Interesse an den hohen Stimmen dürfte auch damit zusammen hängen, dass es sie in sehr guter Qualität einfach viel seltener gibt.


    Im ernst? Wir reden nun ja ohnehin nur von Sängern, denen internationale Karrieren gelungen sind, aber da soll es mehr hervorragende Altistinnen als Sopranistinnen geben? Kann eigentlich schon von den entsprechenden Rollen her gar nicht sein, weil es zig Opern mit drei Sopranen, aber ohne richtigen Alt gibt. Ich glaube Altistinnen müssen sich oft auch auf Lied- und Oratorien legen, oder wird man wirklich als Ulrica oder Erda berühmt? (Eher Kastratenpartien: Glucks Orpheus oder eben Händel, aber diese Opern sind ja immer noch lange nicht so populär wie Mozart bis Wagner/Puccini )
    Andererseits sind einige der großartigsten Arein in Oratorien für Alt: "Erbarme Dich", "Es ist vollbracht", "He was despised"


    Zitat


    Auf der anderen Seite genießen die herausragenden Vertreter der tieferen Lagen fast ebenso große Popularität. Man denke nur an die Altistin Marilyn Horne, die ungeheuer Populär war, oder die Mezzosopranistin Christa Ludwig, die in ihrer absoluten Glanzzeit (+/- 1970) die Sängerin mit den weltweit höchsten Abendgagen war!


    Mir scheint Philhellenes Eindruck auch ein wenig einseitig...außerdem noch Janet Baker, Brigitte Fassbaender und noch nicht genannt, aber vielleicht die deutlichste Altlage von den genannten: Maureen Forrester.


    Zitat


    (Dabei fällt mir ein, auf eine der außergewöhnlichsten Stimmen unserer Zeit hinzuweisen; muss nur den passenden Thread dafür suchen.)


    Ewa Podles?


    viele Grüße


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
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    (Bob Dylan)

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