Das dem Lied zugrundliegende Gedicht ist, wie man schon im neunzehnten Jahrhundert erkannt hatte und wie mit Heinz Röllekes quellenkritischen Untersuchungen definitiv nachgewiesen ist, in seinen wesentlichen Teilen ein „Machwerk“ der Herausgeber der „Wunderhorn“-Sammlung, - vor allem in seinem „VaterlandsHeimweh“-Aspekt, den es aufweist, und in dem es das Leiden unter der napoleonischen Fremdherrschaft und die Sehnsucht nach Heimat in nationaler Einheit zum Ausdruck bringt. Es weist aber auch einen durchaus historisch relevanten Kern auf: Die aus schwerem Leid erfolgende Desertion des aus wirtschaftlicher Not in den soldatischen Dienst feudaler Herrschaft getretenen und dort rücksichtslos ausgebeuteten, ja vergewaltigten Menschen aus einfachen gesellschaftlichen Verhältnissen. Hinzugefügt haben Achim von Arnim und Clemens von Brentano allerdings dabei das Motiv der im Leben unter Fremdherrschaft allmächtig werdenden Sehnsucht nach dem Heimatland.
Diese historischen und editorischen Aspekte des „Wunderhorn“-Gedichts interessierten Mahler aber nicht, - wenn er, was zu bezweifeln ist – überhaupt davon gewusst hat. Was ihn an diesen Versen ansprach, das lässt seine Liedkomposition auf sehr deutliche und beeindruckende Weise vernehmen:
Es ist das Leiden eines Menschen unter den Folgen einer Handlung, die dem Sich-Bekennen zur eigenen Identität und den daraus hervorgehenden Bedürfnissen entspringt. Der Ruf des „Alphorns“ wird als Signal vernommen, das zum Ausbruch aus dem „In-der-Fremde-Sein“ in den Raum des existenziellen „Zuhause-Seins“ aufruft und dazu führt, dass alle auferlegten Pflichten und Verhaltensregeln abgeworfen und hinter sich gelassen werden. Dass Mahler dieses Ereignis im historischen Umfeld vergangener Zeiten begegnete, wie das in „Des Knaben Wunderhorn“ der Fall war, musste er wohl als Bestätigung dafür verstanden haben, dass es sich hier um einen existenziell fundamentalen Vorgang handelt. Und als solchen behandelt er ihn dann auch liedkompositorisch.
Das klangliche Umfeld, in das er ihn bettet, die musikalische Evokation von militärischer Lebenswelt also – vom Marschrhythmus bis hin zum geradezu penetrant wirkenden Trommelwirbel – ist dabei letztendlich von sekundärer Bedeutung. Eigentlich dient es nur dazu, der Aussage des lyrischen Ichs, wie sie in der überaus ausdrucksstarken zwischen konstatierender Härte und gefühlvoller Hingabe hin und her pendelnden melodischen Linie klangliche Gestalt annimmt, den angemessenen Nachdruck zu verschaffen, - dies auf dem Weg einer Einbindung in eine historisch konkrete Lebenswelt.
Vielleicht aber gibt es noch einen weiteren Aspekt, der für den Griff Mahlers nach diesem „Wunderhorn“-Text eine Rolle spielte, - und für die so großartige Liedmusik, die daraus hervorging, kompositorisch prägend und richtungsweisend war. Es könnte durchaus sein, dass er sich – zumindest partiell – in der situativ-existenziellen Befindlichkeit dieses lyrischen Ichs wiederfand und sich mit ihr identifizierte.
So wie dieser Mensch dem Ruf folgte, den er in seinem tiefsten Innern vernahm, dem zwar von außen kommenden, ihn aber im Kern seiner Existenz ansprechenden Ruf des „Alphorns“, und in Folge davon in eine gesellschaftliche und existenzielle Grenzsituation geriet, so sah und erlebte auch Mahler seine eigene Situation, wie sie sich daraus ergab, dass er seinem inneren Ruf als schaffender Künstler folgen zu müssen meinte. Seine Briefe und in zeitgenössischen Quellen überlieferten Äußerungen belegen das in vielfältiger Weise. Bezeichnend eine wie diese, von Natalie Bauer-Lechner bezeugte:
„Wie schmerzlich aber ist es, diese (eigenen) Werke lebendig begraben zu sehen, und wie fürchterlich auf der anderen Seite die wachsende Vereinsamung (…) Man möchte sich am liebsten gar nicht mehr in die Welt begeben, denn jede Hoffnung, ein Verständnis zu finden, ist irrig und eitel.“