Gustav Mahler. Seine Lieder, vorgestellt und besprochen in der Reihenfolge ihrer Entstehung und Publikation

  • Die melodische Linie der zweiten Strophe ist mit der der ersten bis auf zwei minimale Abweichungen identisch. Sie finden sich bei den Worten „O, sei nicht bang“, wo die melodische Linie keinen zweifachen Sekundfall beschreibt, sondern nach dem ersten auf der tonalen Ebene verharrt, und bei den Worten „zu jenen Höh´n“ am Ende dieser Strophe. Diese Modifikation ist von größerem Gewicht. Die Fallbewegung, die am Ende der ersten Strophe (auf dem Wort „Gang“) erfolgt, wird nun zwei Mal deklamiert, nämlich auf „jenen“ und auf „Höh´n“, wodurch dieses Wort einen besonderen Akzent erhält, denn die melodische Linie setzt hier um eine Sekunde angehoben an.


    Es ist wohl nicht sinnvoll auf alle Modifikationen des Orchestersatzes einzugehen. So halten sich zum Beispiel nun die Celli am Anfang mit den übrigen Streichern zusammen zurück und überlassen die Begleitung der melodischen Linie den Klarinetten mit ihren Sexten und den Solo-Fagotten. Die wichtigste Veränderung findet sich im Orchestersatz dort, wo auch die melodische Linie in der beschriebenen Weise angewandelt wurde. Nach dem melodischen Akzent auf dem Wort „Höh´n“ setzt die Solo-Violine, begleitet von den Flöten, den Oboen und den Klarinetten, diese doppelte Fallbewegung der melodischen Linie in hoher Lage fort und verleiht damit diesem lyrischen Schlussbild der Strophe eine klanglich visionäre Dimension.


    Neben den bedeutsamen, weil die Expressivität in hohem Maße steigernden Veränderungen, die Mahler am Ende der dritten Strophe in der Melodik vorgenommen hat, finden sich davor nur zwei kleine, aber ebenfalls durchaus für die musikalische Aussage relevante: Bei den Worten „Nach Haus verlangen“ nämlich. Die Fallbewegung auf dem Wort „Haus“ mündet in eine Dehnung auf einem „Ges“, aus dem sich die melodische Linie mit einem Doppelschritt aus kleiner und großer Sekunde löst, um bei dem Wortteil „-langen“ in erneu gedehnter Weise auf der tonalen Ebene eines „B“ in mittlerer Lage zu verharren. Auf diese Weise reflektiert die Liedmusik die nun dem lyrischen Ich bewusst gewordene Tatsache, dass die Kinder nicht, wie in den beiden vorangehenden Strophen autosuggestiv angenommen, nach Hause zurückkehren werden. Die nun auftretenden Dehnungen in der melodischen Linie muten an wie ein langsames Zur-Besinnung-Kommen des lyrischen Ichs.


    Was aber ereignet sich in der mit den Worten „Wir holen sie ein“ eingeleiteten und vergleichsweise stark modifizierten letzten Melodiezeile des Liedes? Ist sie, um die Frage auf den entscheidenden Punkt zu bringen, zu vernehmen und aufzufassen als Ausdruck der Verzückung, in die das lyrische Ich bei der Imagination der Vereinigung mit den Kindern auf „jenen Höh´n im Sonnenschein“, in der Sphäre der Transzendenz also, gerät? Oder drückt die Liedmusik hier vielmehr die Intensität des autosuggestiven Sich-Einredens der Möglichkeit einer solchen Wiederbegegnung und neuerlichen Vereinigung mit den verstorbenen Kindern aus? Darin also auf der Linie bleibend, die von Anfang eingeschlagen wurde?


    Es ist hier sorgfältig auf die Musik zu hören, - nicht nur auf das, was die melodische Linie zu sagen hat, sondern auch auf das, was das Orchester begleitend und kommentierend dazu beiträgt. „Zart“ und wieder einmal „warm“ soll die melodische Linie hier vorgetragen werden. Bei den anfänglichen Worten „Wir holen sie ein“ beschreibt sie eine Bewegung, die fast identisch ist mit jener, die auf den parallelen Worten der ersten Strophe („Der Tag ist schön“) liegt, nur dass sie nun mit einem Terz-, statt einem Sekundsprung einsetzt und insofern vielleicht noch ein wenig energischer wirkt. Auch die bogenförmige, auf einem „Ges“ aufgipfelnde und dann in einer Terz und einer Sekunde wieder fallende melodische Bewegung auf den Worten „Auf jenen Höh´n“ stellt eine Wiederholung der entsprechenden Figuren in den vorangehenden Strophen dar, einschließlich der Harmonisierung.


    Bei den Worten „im Sonnenschein“ setzt die melodische Linie zu einer durch keine Pause unterbrochenen wellenartig anmutenden Bewegung an, die vier Mal in hoher Lage aufgipfelt, wobei sich bei den Worten „Der Tag ist schön auf jenen Höh´n“ dadurch ein Steigerungseffekt einstellt, dass die Aufgipfelung jeweils um eine Sekunde angehoben wird, ein Crescendo in den Vortrag kommt und überdies die Fallbewegung in Sekunden auf dem Wort „jenen“ mit Portati versehen ist. Die ersten Violinen folgen den Aufstiegsbewegungen der melodischen Linie und steigen bei der letzten in extreme Höhenlagen empor. Die Harmonik moduliert zwischen Es-Dur und der Subdominante „As“, wobei „Es-Dur“ die Tonart ist, in der das Lied ausklingt. Das Nachspiel ist bemerkenswert kurz. Es besteht aus nur drei Takten, die von den Streichern, den Flöten, den Fagotten und der Harfe unter der Dominanz der Hörner bestritten werden und in ihrer klanglichen Substanz aus einer Weiterführung der Wellenbewegung der melodischen Linie bestehen.


    Der klangliche Eindruck, den dieser Schluss des Liedes vermittelt, ist wohl der eines sich gleichsam verzückt seiner visionären Vorstellung einer Vereinigung mit den verstorbenen Kindern in der Sphäre des Transzendenz hingebenden lyrischen Ichs. Dafür spricht vor allem die permanente Steigerung der Emphase in der Liedmusik und die Tatsache, dass sie aus einer gleichförmigen, in der regelmäßigen Abfolge von Achteln ohne jegliche rhythmische Akzentuierung hervorgeht. Es ist der Gestus des Schwärmens, nicht der des Sich-etwas- Einredens, den man in dieser melodischen Linie vernimmt. Auch das Nachspiel ist wohl in diesem Sinne zu verstehen. Es verzichtet auf einen nachträglichen Kommentar und überlässt auf diese Weise den klanglichen Raum dem Fortschwingen der melodischen Linie in den transzendenten Sphären der „Höh´n“.

  • Wie sehr, um an die Gedanken zum vorangehenden Lied anzuknüpfen, Mahlers orchestrale Liedsprache Ausdruck einer „textgeborenen Empfindung“ ist, das lässt auch dieses Lied erkennen und auf beeindruckende Weise erleben. In ihrer Arbeit über die „Eigenart des lyrischen Schaffens“ von Friedrich Rückert meinte Emmi Witzig (1948), in diesem Gedicht rausche „der dunkle Strom der Trauer mehr im Untergrunde“, darüber aber breite sich „warmer Sonnenschein“ aus. Und genau so vernimmt der Hörer Mahlers Liedmusik darauf. Der „warme Sonnenschein“ begegnet ihm in Gestalt einer Melodik, die eine ausgeprägte melismatische Emphase aufweist, und in einem regelrechten Schwelgen der Liedmusik in der Klanglichkeit von Terzen und Sexten. Aber Trauer und Leid bleiben unterschwellig präsent. Sie werden in diesem Lied, das sich von seiner Harmonik her als an das vorangehende anbindend erweist, nur vorübergehend verdrängt, - überflutet von dem autosuggestiven Sich-Hineinsteigern des lyrischen Ichs in die Emphase des Ausrufs: „Der Tag ist schön“. Denn diesem ist ein beschwörender, die Realität in die Transzendenz hinüber führender Gestus inne: Der reale Tag wird für den vom Tod der Kinder tief Getroffenen in seiner Schönheit zu dem „auf jenen Höhn“, zu denen die Kinder, wie er sich einredet, „ihren Gang“ gemacht haben.


    Liedkompositorisch bedeutsam ist nun, wie in der Vorstellung des Liedes im einzelnen aufgezeigt wurde, dass Mahler die klangliche Wärme, die sich aus der Fülle der Terzen- und Sextenparallelen einstellt, sich auf der Grundlage tongeschlechtlicher Ambivalenz entfalten lässt. Darin wollte er dem lyrischen Text gerecht werden: Der Tatsache also, dass dieser sich als lyrisch-sprachlicher Niederschlag eines autosuggestiven Prozesses darbietet, dem zwar schöne Bilder entspringen, der aber keine wirkliche Bewältigung des seelischen Leids und des daraus hervorgehenden Schmerzes mit sich bringt. In diesem Zusammenhang kommt dem Schluss des Liedes in seinem Bezug zum nachfolgenden, dem letzten Lied des Zyklus, eine maßgebliche Bedeutung zu. Die emphatische Steigerung, die sich in der Liedmusik bei den letzten beiden Versen ereignet, und die Tatsache, dass sie danach ohne ein wirkliches Nachspiel „morendo“ im Pianissimo erstirbt, lässt den harten und klanglich schmerzlichen d-Moll-Einsatz des nachfolgend letzten Liedes überaus vielsagend werden.


    Der zyklische Charakter dieser „Kindertotenlieder“ ist zwar durchgehend manifest, er wird aber bei den drei letzten Liedern in ganz besonderer Weise sinnfällig. Das dritte („Wenn dein Mütterlein“) endete, harmonisch betrachtet, in seinem trostlosen, weil ohne die Perspektive einer Erlösung auskommen müssenden Gefesselt-Sein an den Schmerz des Hier und Jetzt in dem c-Moll, in dem es einsetzte und in das es bei all seinen wie verzweifelt wirkenden Ausbrüchen in Dur-Harmonik immer wieder zurückgeworfen wird. Mit einer wunderlich anmutenden Rückung nach G-Dur im Schlusstakt freilich. Aber wunderlich ist sie nicht wirklich. Das folgende Lied löst diese Verwunderung mit der Harmonik, in der es einsetzt: Es ist Es-Dur, die Dur-Parallele zu jenem c-Moll, das eben gerade beim vorangehenden Lied harmonisch noch alles im Griff hatte. Man soll also, so wollte Mahler das, das vierte Lied aus vielerlei Gründen, vor allem jenen der Harmonik und des Liedschlusses des dritten Liedes, als „Antwort“ auf dieses hören und verstehen.


    Und tut man das, so erschließen sich, über die musikalische Aussage hinaus, die es als singuläre Liedkomposition aufweist, weitere hochbedeutsame musikalische Aussage-Dimensionen. Mit einem Mal wird einem der hochgradig suggestive Gestus, der der Liedmusik innewohnt, in seiner wahren Bedeutung bewusst. Er gründet in einer dieses Lied in seiner spezifischen Eigenart prägenden polyphonen Wiederholung melodischer Motive. Das Vorspiel deutet sie schon an, und die melodische Linie der Singstimme lässt sie, in gleichsam auf ihren Kern gebrachter klanglicher Gestalt, gleich am Anfang vernehmen. Es sind die melodisch-deklamatorischen Schritte, die auf den Worten liegen „Oft denk´ ich, sie sind nur ausgegangen“ und „Bald werden sie wieder nach Hause gelangen“. Diesen melodischen Motiven steht ein drittes gleichsam gegenüber. Es ist das auf den Worten „Der Tag ist schön“. Gegenüber tritt es den anderen insofern, als es sich in seiner melismatischen, die „Schönheit“ klanglich erfahrbar machenden bogenförmigen Struktur und in seiner Dur-Harmonisierung von diesen abhebt. Die melodische Linie, die auf den Worten „“Der Tag ist schön, o sei nicht bang, sie machen nur einen weiten Gang“ liegt, wirkt in ihrer Struktur wie eine zweimalige Wiederholung ihres Anfangs, dies aber unter Steigerung ihrer Emphase. Darin, aber auch in ihrer Dur-Harmonisierung, die die kleine Verminderung auf den Worten „o sei nicht bang“ gegenstandslos werden lässt, wirkt sie wie eine klangliche Emanzipation von der sich in es-Moll ereignenden melodischen Fallbewegung auf den Worten „sie sind nur vorausgegangen“.


    Und unter diesem Aspekt ist nun höchst bedeutsam, dass diese melodische Figur am Ende des Liedes gleichsam die Oberhand gewinnt. Mit den Worten „Wir holen sie ein…“ (Takt 58ff.) wiederholt sich diese bogenförmige Bewegung der melodischen Linie insgesamt sechs Mal, und dies unter Verkürzung des Bogens und einer Anhebung der tonalen Ebene seines Ansatzes in der letzten Phase. Man kann dieses Sich-Hineinsteigern der melodischen Linie in diese Figur und die damit einhergehende Potenzierung der liedmusikalischen Emphase, die auch dadurch zustande kommt, dass die Flöten, die Violinen und die Violen die Aufgipfelung bei „auf jenen Höh´n“ in einem Anstieg in extrem hohe Lage mitvollziehen, eigentlich nicht anders verstehen und deuten, als dass das lyrische Ich in eine Art Ekstasis geraten ist. Es ist außer sich geraten, hat die reale Situation des Wissens um den Verlust der Kinder und des Leidens darunter in einem autosuggestiven Prozess, wie ihn das Lied auf höchst beeindruckende Weise miterleben lässt, verlassen und sieht sich imaginativ auf dem Weg zu „jenen Höh´n“, wo es seine Kinder schon zu wissen meint.

  • Manchmal hat es sein Gutes, wenn man, nachdem man seine eigenen Aktivitäten in einem Thread unterbrochen hat, weil man auf einen Beitrag von außen dazu hofft, dann doch, nach zehn Tagen oder mehr, tatsächlich einen solchen vorfindet.
    Der entpuppt sich zwar alsbald als eine schlichte Literatur-Anfrage zu Mahlers sinfonischem "Raumklang"-Konzept, die inzwischen woanders hin transferiert wurde, aber immerhin, man hat gesehen: Da war jemand lesend hier zugange.
    Und das kann einen ermutigen, den Thread fortzusetzen und zu Ende zu führen. Was ich denn morgen auch tun werde.

  • immerhin, man hat gesehen: Da war jemand lesend hier zugange.
    Und das kann einen ermutigen, den Thread fortzusetzen und zu Ende zu führen. Was ich denn morgen auch tun werde.


    Lieber Helmut, ich kann Dir versichern, dass ich und sicherlich auch eine große Zahl weiterer Taminos Deine tiefgründigen Analysen der Lieder Mahlers (wie auch zuvor die der Lieder anderer Komponisten) mit Interesse und Gewinn studieren. Etwas auf auch nur annähernd gleichem Niveau dazu beizutragen fällt mir schwer, und so geht es wahrscheinlich auch anderen Mitlesern. Es tut mir wirklich leid, dass Deine Lied-Threads aus diesem Grund meist zu Monologen werden, und ich kann gut nachvollziehen, dass Du Dich dort manchmal einsam fühlst. Das ändert aber nichts daran, dass Deine Lied-Beiträge zu dem Wertvollsten gehören, was das Forum zu bieten hat.


    Leider bin ich schon seit einiger Zeit nicht in Mahler-Stimmung und höre - ganz entgegen meinen sonstigen Gewohnheiten - derzeit nichts von diesem Komponisten. Aber sobald ich mich den Liedern wieder einmal zuwende, werden Deine Analysen ganz ohne Zweifel zu einem tieferen Verständnis beitragen.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • Wie so oft spricht Bertarido genau das aus, was ich auch denke! Ich habe im Moment mal wieder eine Janacek-Phase, da muss auch so ein guter Komponist wie Mahler für einige Zeit zurückstehen.

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

  • Dank euch beiden für eure Worte, lieber Bertarido und dr. pingel!
    Aber ihr habt ganz gewiss bemerkt: Mein kleiner Beitrag, auf den ihr Bezug nehmt, ist nicht Ausdruck eines Sich-Beklagens über mangelnde Resonanz, sondern Wiedergabe einer simplen Erfahrung, die ich heute machte.
    Selbst eine Frage, die gar keinen Bezug zum anstehenden Thema hat, kann hilfreich sein, um aus den Verstrickungen herauszufinden, in die man bei der monologischen Beschäftigung damit geraten ist.
    Aber jetzt sehe ich: Es wäre besser gewesen, derlei persönliche Bekenntnisse zu unterlassen und morgen ganz einfach die Betrachtung der "Kindertotenlieder" fortzusetzen.

  • In diesem Wetter, in diesem Braus,
    nie hätt´ ich gesendet die Kinder hinaus;
    man hat sie getragen, getragen hinaus; (R.: ohne Wiederholung)
    ich durfte nichts dazu sagen. (R.: dazu nichts)


    In diesem Wetter, in diesem Saus,
    nie hätt´ ich gelassen die Kinder hinaus,
    ich fürchtete, sie erkranken;
    das sind nun eitle Gedanken.


    In diesem Wetter, in diesem Graus,
    hätt´ ich gelassen die Kinder hinaus,
    ich sorgte, sie stürben morgen,
    das ist nun nicht zu besorgen.


    In diesem Wetter, in diesem Graus!
    Nie hätt´ ich gesendet die Kinder hinaus;
    man hat sie hinausgetragen,
    ich durfte nichts dazu sagen! (R.: dazu nichts)


    In diesem Wetter, in diesem Saus, in diesem Braus, (R.: ohne „in diesem Saus“)
    sie ruh´n, sie ruh´n als wie in der Mutter, der Mutter Haus,
    (R.: Sie ruhn als wie in der Mutter Haus)
    von keinem Sturm (R.: Sturme) erschrecket,
    von Gottes Hand bedecket, (hier endet das Rückert-Gedicht)
    sie ruh´n, sie ruh´n wie in der Mutter Haus, wie in der Mutter Haus.



    Das lyrische Ich zeigt sich in diesem Gedicht als in seinem Leid ganz und gar auf sich selbst zurückgeworfen. Es wird sich seiner elementaren Hilflosigkeit bewusst. Die Quelle ist die erschreckende Erfahrung, dass die Kinder in eine grausige Welt außerhalb des sie beschützenden Hauses hinausgetragen werden, ohne dass es etwas dagegen ausrichten kann. Es wird nicht gefragt.
    Alle seine Besorgnis um das Leben der Kinder, alle Fürsorglichkeit, die es für sie aufbrachte, sie konnten den Tod nicht verhindern. Das permanente konjunktivische „Nie hätt´ich“ wirkt wie eine Beschwörung dieser Fürsorge, die sich nun als nutzlos erweist. Es ist das Ausgeliefert-Sein des Menschen an den elementaren, ihm gegenüber gleichgültigen Gang von Natur und Welt, das sich hier lyrischen Ausdruck verschafft.
    Mahler musste sich in seiner Weltsicht zutiefst davon angesprochen fühlen, - und angesprochen auch von dem in der letzten Strophe vorgefundenen lyrischen Entwurf einer Befreiung und Erlösung von diesem Geworfen-Sein des Menschen in einen übermächtigen Weltenlauf: Es ist das Gefühl und das Wissen eines Geborgen-Seins im Glauben.


    Dieses tief reichende Angesprochen-Sein Mahlers durch die Verse Rückerts lässt seine Liedkomposition auf beeindruckende Weise vernehmen. Es ist nicht nur das längste, es ist das klanglich mächtigste Lied dieses Zyklus, und es mutet darin wie ein Finale an. Es lässt darin bewusst werden, wie sehr die vorangehenden Kompositionen eigentlich Lieder mit Kammerorchester-Begleitung sind, während dieses nun ein wirkliches Orchesterlied darstellt. Und das gar nicht einmal so sehr von der klanglichen Mächtigkeit her, die es entfaltet, als vielmehr mit Blick auf das Verhältnis von Orchestersatz und melodischer Linie der Singstimme, dem quantitativen Verhältnis zwischen beiden und der Rolle und Funktion, die dieser zukommt. Im Grunde ist die melodische Linie Bestandteil des Orchestersatzes, und die Art und Weise wie das melodische Material variiert und vom Orchester aufgegriffen und fortgeführt wird, lässt erkennen, dass Mahler sich bei diesem Lied am Sonatensatz orientierte. Es hat zweifellos stark symphonischen Charakter. Der Eindruck eines Finales stellt ich vor allem aber auch dadurch ein, dass dieses Lied nicht nur mit seiner Grundtonart d-Moll an das erste des Zyklus anbindet, sondern auch an die dort im Zentrum stehende Thematik. Die Lichtsymbolik, die dort eine wesentliche Rolle spielt, wird zwar von Rückert selbst hier nicht in den lyrischen Text eingebracht, wohl aber von Mahler: Nicht nur dass das Glockenspiel, das für ihn damit in einem unmittelbaren kompositorischen Zusammenhang steht, hier wieder zum Einsatz kommt, er ergänzt und verstärkt dessen auf die Transzendenz verweisende Klangsymbolik durch die ebenfalls diesem Bereich zugehörigen der Celesta.


    Das lange, siebzehntaktige Vorspiel steht mit seiner es dominierenden d-Moll-Harmonik, seiner weit gespannten Dynamik und seiner schroffen Chromatik in einem extrem harten Kontrast zu dem ihm vorangehenden, im Es-Dur-Pianissimo ausklingenden Lied. Und es erweist damit, wie auch das, was ihm liedmusikalisch nachfolgt, die schwärmerische Verzückung, der sich das lyrische Ich bei der Imagination des „Einholens“ der Kinder auf den sonnenbeschienen „Höh´n“ hingibt, als Selbsttäuschung. Die Welt, die das Vorspiel mit musikalischen Mitteln imaginiert, ist ein grausliches Chaos. Mahler hat sich ganz offensichtlich dabei von Wagners „Walküre“ inspirieren lassen. Das Thema, das die Oboen in den Takten drei bis sechs artikulieren, erinnert jedenfalls daran. In allen Instrumentengruppen herrscht heftige Bewegung. Von den Flöten, den Klarinetten, beiden Violinen und den Violen werden Figuren mit ausgeprägten Sprüngen in das von den übrigen Instrumenten entfaltete bewegte Klangbild hineingesetzt. Die Celli lassen Tremoli erklingen. Oboen und das Englisch Horn gehen zur Artikulation weit gespannter, durchweg fallender melodische Linien über, die Piccolo-Flöten erzeugen hohe, schrill wirkende und ebenfalls fallende Töne. Dann gehen die ersten Violinen zur geradezu hektisch wirkenden Artikulation von Sprung-Figuren über, denen sie, zusammen mit den Oboen, eine lang gestreckte, in hoher Lage ansetzende chromatische Fallbewegung folgen lassen.


    Und das Vorspiel will sich nicht beruhigen. Wenn die Singstimme in Takt siebzehn mit der Deklamation der melodischen Linie auf der tonalen Ebene eines tiefen „D“ einsetzt, so fällt sie buchstäblich in die immer noch im Orchester herrschende klangliche und sich im Forte-Bereich entfaltende Unruhe ein, gebildet von klanglich spitzen, ja scharf wirkenden Sprungfiguren bei den Flöten, den Oboen und – pizzicato ausgeführt – bei den Violinen, zu denen die Klarinetten, die Fagotte und die Celli fortlaufend Tremoli beitragen. Hart und schroff wirkende Figuren aus Sechzehntel-Sprüngen begleiten die melodische Linie auch noch bei den ersten deklamatorischen Schritten, die in bemerkenswerter Weise wie festgemacht auf der Ebene eines tiefen „D“ verbleiben. Das lyrische Ich wirkt wie erstarrt in seinem Entsetzen. Der erste Vers wird silbengetreu ausschließlich auf diesem „D“ deklamiert, wobei auf dem Wort „Braus“ eine Dehnung liegt. Erst beim zweiten Vers steigt sie langsam, weil in Doppelschritten, erst über eine Sekunde, dann über eine Terz zu einem „G“ in mittlerer Lage auf, und hier kommt eine Viertelpause in ihre Bewegung, die dem, was nachfolgt, ein besonderes Gewicht verleiht. Es ist der für den bisherigen Verlauf der melodischen Linie fast überraschende Septsprung bei dem Wort „hinaus“.


    Hier bricht es aus dem lyrischen Ich heraus: Der Gedanke, dass die Kinder einem solchen Wetter ausgesetzt sind, überwältigt es, es kann nicht mehr an sich halten. Gleichwohl bleibt die Neigung der melodischen Linie, auf der einmal eingenommenen tonalen Ebene zu verharren, durchaus erhalten, und das gilt durchweg für alle vier Strophen des Liedes. Nur bei der fünften ist dies anders, aber diese stellt ohnehin einen Sonderfall in diesem Lied dar. Aus der Art und Weise, wie sich die melodische Linie aus dieser Bindung an die tonale Ebene in tiefer Lage löst, und aus der Größe der Intervalle, die sie bei dem Aufstieg in höhere Lage nimmt, kann man mit guten Gründen auf das schließen, was sich in der Seele des lyrischen Ichs ereignet, wie sehr es von den Gedanken und Vorstellungen, die es äußert, innerlich ergriffen ist. Der in den vier Strophen durchweg auf dem tiefen „D“ erfolgende Ansatz der melodischen Linie und ihre Neigung, in tiefer Lage zu verbleiben und sich daselbst mit einer gewissen Starre zu bewegen, dürfen wohl als Ausdruck des Zurückgeworfen-Seins des lyrischen Ichs auf sich selbst und des Verharrens daselbst in der Tiefe des Leids verstanden werden. Umso aussagekräftiger sind dann die Ausbrüche der melodischen Linie aus diesem Grundgestus und die Art und Weise, wie das Orchester diese begleitet und in seinen Zwischenspielen kommentiert. Das Lied bezieht eben daraus seine den Hörer so zu treffen vermögende musikalische Aussage.


    Bei den Worten „Man hat sie getragen, getragen hinaus“ verbleibt die melodische Linie jedenfalls zunächst einmal auf oberer tonale Lage, in die sie mit dem Septsprung geraten ist, und beschreibt dort eine Sekundfallbewegung. Das Bild ist für das lyrische Ich zu erregend, als dass es sich deklamatorisch wieder in tiefere Lage zurückbegeben könnte. Selbst der Quartfall, den die melodische Linie zu dem Wort „hinaus“ hin beschreibt, und den man wie ein Erschöpft-Sein des lyrischen Ichs empfinden kann, hält sie nicht unten, - sie beschreibt auf der zweiten Silbe dieses Worten einen in eine Dehnung mündenden Terzsprung, der auch noch mit einen Sforzato-Zeichen versehen ist. Erst mit den Worten „Ich durfte nichts dazu sagen“ kehrt sie wieder auf die Ebene des tiefen „D“ zurück, von der sie sich zunächst nur um eine Sekunde noch oben löst, bevor sie am Ende dann doch noch einmal eine um eine Terz angehobene und gedehnte Bogenbewegung beschreibt, die die innere Erregung des lyrischen Ichs zum Ausdruck bringt. Sie soll „schmerzlich“ vorgetragen werden, endet freilich dann doch auf dem tiefen „D“.


    Die Orchesterbegleitung verleiht dieser Melodik einen schmerzlich anmutenden und zugleich drängenden Charakter. Letzterer wird durch die wie Schritte wirkenden fallenden Terzen erzeugt, die die Fagotte artikulieren. Auch die Celli tun das, in Gestalt von Terzen-Tremoli. Darüber erklingen die von den Flöten artikulierten klanglich spitz wirkenden Sechzehntel-Hüpffiguren. Die schmerzlich fallende Bewegung bei „man hat sie getragen“ wird von den Hörnern mit Oktaven begleitet und akzentuiert. In der kurzen Pause nach dem Wort „hinaus“ lassen die Flöten, die Oboen und die Fagotte zusammen eine solche chromatisch fallende melodische Linie erklingen. Die Kontrabässe folgen mit Tremoli.


    Auch beim ersten Vers der zweiten Strophe, der sich ja nur durch das Wort „Saus“ von dem der ersten unterscheidet, verbleibt die melodische Linie mit silbengetreuer Deklamation in der tiefen Lage des „D“, erhebt sich davon freilich bei „Wetter“ und „Saus“ um eine Sekunde nach oben, um diese Worte zu akzentuieren. Die Celli erzeugen mit gedehnt fallenden Tönen wieder diesen drängenden Rhythmus, und Violinen und Violen sorgen mit Tremolo-Folgen für klangliche Unruhe. Beim nachfolgenden Vers setzt die melodische Linie mit einem Septsprung in hohe Lage ein und geht danach in eine Sekundfallbewegung über, die deshalb so schmerzlich-expressiv wirkt, weil sie eine chromatische ist und überdies die beiden Schritte auf der jeweiligen tonalen Ebene wiederholt werden. Wie eine Steigerung wirkt die melodische Figur auf den Worten „die Kinder hinaus“, die nach einer Viertelpause deklamiert wird und schon dadurch eine exponierte Lage erhält. Die Sprungbewegung erfolgt nun über eine ganze Oktave, und der nachfolgende Fall in einer kleinen und zwei großen Sekunden setzt auf einem hohen „F“ an, das ein Portato-Zeichen trägt. Diese Fallbewegung, die in c-Moll harmonisiert ist und auch auf einem hohen „C“ endet, wirkt wie ein schmerzerfüllter Klageruf. Die Oboen lassen im dreitaktigen Zwischenspiel danach über Tremoli in den Streichern aus Oktavsprüngen bestehende Figuren erklingen, die ihrerseits wie Klagerufe anmuten.


    Bei den Worten „Ich fürchtete, sie erkranken“ beschreibt die melodische Linie eine wieder auf dem „D“ ansetzende Aufstiegsbewegung zu einem „B“ in mittlerer Lage und endet in einem mit Portato versehenen Sekundfall auf dem Wortteil „-kranken“. Die Harmonik rückt vorübergehend in den Bereich von „B“. Danach aber kehrt sie wieder zum c-Moll zurück, denn die melodische Linie ist bei den letzten Worten dieser Strophe wieder in der Nähe des tiefen „D“ angelangt, von der sie, je weiter dieses Lied voranschreitet, zu immer größeren Höhen aufzusteigen versucht. Aber das ist kein beschwingtes Aufsteigen, es mutet überaus gequält, wie getrieben an. Die Worte „Das sind nun eitle Gedanken“ deklamiert die Singstimme auf zwei kleinen, auf einem „G“ ansetzenden und erst bis zu dem tiefen D“, dann nur bis zu einem „E“ fallenden melodischen Linien. Spitze Pizzicato-Oktaven in den Violinen über Tremoli in den Celli folgen im Zwischenspiel nach. Sie gehen in von den Flöten, den Oboen und dem Englisch Horn artikulierte Figuren über, die, weil sie drei Mal mit einem Oktavsprung ansetzen und am Ende in einen doppelten Sekundfall übergehen, wieder wie schmerzerfüllte Klagerufe wirken. Bevor die Singstimme zur Deklamation der nächsten Strophe ansetzt, lassen Flöten, Oboen und Englisch Horn ganze Ketten von chromatisch fallenden Achteln erklingen.


    Das neuerliche „In diesem Wetter, in diesem Graus“ wird wieder auf einer auf einem tiefen „D“ ansetzenden und in d-Moll harmonisierten melodischen Linie deklamiert. Dieses Mal aber fortissimo und in gleichsam zerstückter und deshalb so expressiv wirkender klanglicher Gestalt. Zweimal steigt die melodische Linie über eine Sekunde und eine Terz von eben diesem „D“ zu einem „G“ auf, das bei zweiten Mal gedehnt ist. Nach einer halbtaktigen Pause verfällt die Singstimme in einen eindringlichen Klageton. Die melodische Linie verbleibt zunächst in Gestalt eines Sekundfalls auf der Ebene eines hohen „D“, bzw. „Des“, und danach geht sie wieder bei dem Wortteil „-lassen“ in einen neuerlichen Sekundfall über. Bei den Worten „die Kinder hinaus“ ereignet sich wieder ein hochexpressiver Oktavsprung zu einem hohen „F“ mit nachfolgend in Sekunden fellender melodischer Linie.


    Auch in der melodischen Linie, die auf dem nächsten Vers liegt („Ich sorgte, sie stürben morgen“) ereignet sich eine expressive Bewegung über ein großes Intervall. Nach einem kurzen Sekundfall in tiefer Lage macht sie in zwei Schritten einen Sprung über eine Septe und beschreibt bei „morgen“ dann einen Sextfall. Das lyrische Ich gerät bei der Vorstellung, die Kinder hätte in diesem grausigen Wetter zu Tode kommen können, in große innere Erregung. Die aber fällt buchstäblich in sich zusammen beim Sich-Bewusst-Werden der Realität des Todes dieser Kinder. Sie schlägt in tiefe resignative Zerknirschung um. Die Worte „Das ist nun nicht zu besorgen“ werden wieder in der tiefen „D“-Lage deklamiert, - mit einem gedehnten Terzsprung mit Sekundfall am Ende, um dem Wort „besorgen“ Nachdruck zu verleihen.
    (Fortsetzung folgt)

  • Ein langes (neuntaktiges) Zwischenspiel folgt nach, das man als musikalischen Ausdruck der zwischen dem Ausbrechen in schmerzerfüllte Klage und dem Rückzug in resignative Innerlichkeit schwankenden seelischen Befindlichkeit des lyrischen Ichs empfindet, besonders weil darin Figuren der melodischen Linie zitiert werden. So muten jedenfalls die Figuren an, die die Hörner mitten in diese von den fallenden Tremoli der Celli wie vorangetrieben wirkende chaotische Klangflut setzen, in der immer wieder spitze klangliche Figuren bei den Violinen (Piziicati) und den Flöten und Oboen aufblitzen. Ein dumpfer Fortissimo-Paukenwirbel wirkt unheildrohend.


    Noch einmal deklamiert die Singstimme den Vers „Bei diesem Wetter…“ auf der auf dem tiefen „D“ ansetzenden Sprungbewegung über eine Sekunde und eine Terz hin zu einem „G“, die nun schon wirkt, als sei sie diesen Worten schicksalhaft eingebrannt. Dieses Mal ist die nachfolgende Pause aber länger (fast vier ganze Takte), und sie wird mit einem wahren klanglichen Wirbel ausgefüllt: Tremoli in den zweiten Violinen und den Violen, lang gehaltende Quinten in den Hörnern, fallende Sechzehntel-Figuren in den Flöten und ein Paukenwirbel, der nicht enden zu wollen scheint. Er hat Bestand bis zum Ende der Melodiezeile, die auf dem zweiten Vers liegt. Diese besteht aus einer melodischen Linie, die, fortissimo deklamiert, erst einmal einen Sturz in eine Tiefe macht, die bislang von ihr noch nicht erreicht wurde (ein tiefes „B“). Vor dort aus geht es in hochexpressiven Sprüngen über das Intervall einer kleinen Oktave hin und her und endet mit einem in eine Dehnung mündenden Quartsprung auf dem Wort „hinaus“. Das mutet an, als könne das lyrische Ich nicht mehr an sich halten im Herausschreien seiner inneren Not. Die ersten Violinen und die Bläser begleiten und kommentieren das mit permanenten Sekundfall-Bewegungen in hoher Lage, die klanglich schneidend wirken.


    Bei den Worten „man hat sie hinausgetragen“ bleibt die melodische Linie in ihren Bewegungen wieder wie resignativ auf einer tonalen Ebene, dieses Mal in mittlerer Lage, die erst am Ende in einen Sekundfall übergeht. Und auch der Ausbruch, der sich dann bei dem Bekenntnis „ich durfte nichts dazu sagen“ ereignet, wirkt vergleichsweise gedämpft. Er besteht aus einem lang gedehnten melodischen Fall aus großer und kleiner Sekunde, und eben diese Kombination verleiht der melodischen Linie, die nun nur noch forte deklamiert wird, einen kläglichen Anflug.


    Schon kurz nach der melodischen Linie des ersten Verses setzten Tamtam-Schläge ein, die zusammen mit einem Tremolo der Piccolo-Flöte die Melodik der ganzen vierten Strophe begleiteten. Nun, im nachfolgenden Zwischenspiel vor der letzten Strophe, tritt eine wunderlich anmutende Ruhe in das Lied, als halte das Orchester für einen Augenblick aus Erschöpfung die Luft an. Die Paukenwirbel verstummen, die kleinen Flöten lasen lang gehaltene hohe Töne erklingen, in die das Glockenspiel mehrmals zwei Töne hineinsetzt. Die ersten und die zweiten Violinen artikulieren zweimal eine in Stufen fallenden Kette von Achteln, die, bei weiter erklingendem Glockenspiel, in ein wie ein Innehalten anmutendes Auf und Ab auf konstanter tonaler Lage übergeht. Man fühlt sich als Hörer in eine Erwartungshaltung versetzt und meint, nun müsse noch etwas Bedeutsames kommen.


    Und das ist auch bedeutsam, was sich nun in der Liedmusik ereignet. Überdies ist es auch überraschend, weil in einem starken Kontrast zu dem stehend, was Orchester und Singstimme zuvor klanglich darboten. Vielleicht aber ist es ganz so überraschend nun doch wieder nicht, denn die zuvor beharrlich erklingenden Doppelschläge des Glockenspiels verwiesen auf die nun bevorstehende Öffnung des Liedes hin zur Transzendenz. Und doch: Die zuvor wie schicksalhaft in tiefe Lage verbannte und sich von dort nur gleichsam quälerisch erheben könnende melodische Linie beginnt mit einem Mal zu schweben. Sie setzt zum ersten Mal nicht mehr am tiefen „D“ an, sondern auf „D“ in mittlerer Lage, und auch das d-Moll, das sie immerzu beharrlich begleitete und klanglich eintrübte, ist nun einem D-Dur gewichen.


    „Leise bis zum Schluss“ soll sie nun vorgetragen werden, und das bedeutet für das Orchester, dass es von seinen dynamisch wilden und klanglich wüsten Aktivitäten ablassen muss. Nur die Violinen, die Violen begleiten mit dem Auf und Ab von Einzeltönen die Singstimme. Die Harfe fügt Akkorde hinzu. Den entscheidenden Ton in der Begleitung setzt aber die Celesta mit ihren himmlischen Klängen. Das lyrische Ich hat sich dem in seinem Glauben gründenden Bild hingegeben, dass die Kinder nun im himmlischen Haus ruhen und von Gottes Hand „bedecket“ werden, so dass kein Unheil ihnen mehr etwas anhaben kann. Und siehe: Die melodische Linie auf den Worten „In diesem Wetter, in diesem Saus“ erinnert in ihrer Struktur nun stark an die auf die Worte „Da kam ich auf einen breiten Weg“ aus dem Lied „Urlicht“ in der Zweiten Symphonie.


    Nichts Drängendes, nichts nach oben qualvoll ausbrechen Wollendes ist mehr in der melodischen Linie. Sie bewegt sich nur noch in Noten im Wert eines Viertels, und das bevorzugt in mittlerer Lage. Achtel kommen nur dort vor, wo ein melodischer Bogen ein- und ausgeleitet werden soll. In höhere Lage steigt sie ein einziges Mal auf: Bei dem Entzücken über die Vorstellung des Bedeckt-Seins der Kinder von Gottes Hand. Hier gesellen sich vorübergehend auch die Flöten und die Klarinetten mit Terzen und Sextenfiguren zu den Violinen hinzu. Am Ende verströmt die melodische Linie wunderbare Ruhe. Auf dem wiederholten Wort „ruh´n“ lieg ein lang gedehnter Terzfall. Bei ersten Mal erhält es einen sanften klanglichen Akzent durch einen von den Hörnern, der Harfe und den Celli zusammen gebildeten Pianissimo-Akkord. Noch einmal beschreibt die melodische Linie einen Achtel-Quartsprung, am Angang der letzten Zeile auf den Worten „Wie in der Mutter Haus“. Das aber nur, um sich danach, in der Dominante „A“ harmonisiert. ruhig in Sekundschritten zum lang gehaltenen Grundton „D“ hin abzusenken.


    Das so lange von tiefer Unruhe wie vorangetrieben wirkende, dabei sich in hochexpressive, dem Chaos sich nähernde klangliche Fülle steigernde Lied hat zur Ruhe gefunden. Sie hat in der Weise, wie sie im letzten Teil langsam heranwächst und sich schließlich voll einstellt, eine Anmutung von Endgültigkeit. Und so ist den auch das Figuren der Schlussphase der melodischen Linie aufgreifende Nachspiel mit den ruhig dahin strömenden Terzen- und Sextenklängen der Hörner, den lang gehaltenen Akkorden der Klarinetten und Fagotte, dem sanften Auf und Ab der Violinen und der mit einem Crescendo auftretenden weit gespannten melodischen Linie der Celli nichts anderes als ein diese ewige Ruhe besiegelnder Nachklang.

  • Ich fand immer, dass der Schluss ("sie ruhen als wie in der Mutter Haus") zu den ergreifendsten Musiken gehört, die Mahler je geschrieben hat

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

  • Zit.: "...dass der Schluss ("sie ruhen als wie in der Mutter Haus") zu den ergreifendsten Musiken gehört, die Mahler je geschrieben hat"."


    Das empfinde und sehe ich auch so, lieber dr. pingel. Aber er ist nicht nur ergreifend, er ist auch vielsagend, was die Grundhaltung und die Weltanschauung des Menschen Gustav Mahler anbelangt, die seinem kompositorischen Schaffen zugrunde liegen und gleichsam seinen Quell darstellen. In der Nachbetrachtung zu diesem Lied werde ich auf diesen Aspekt noch einmal eingehen.

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  • In vielerlei Hinsicht ist diese Komposition das Finale einer Folge von nur wenigen, eben mal gerade fünf Liedern, die sich zwar schon zuvor als Zyklus ausgewiesen hat, im letzten Lied sich aber als solcher definitiv konstituiert, - und das als einer, der den anderen großen Zyklen der Liedgeschichte würdig zur Seite treten kann. Seine Finale-Funktion zeigt sich unter rein formalem Aspekt schon darin, dass dieses fünfte Lied die Tonart des ersten aufgreift, das d-Moll nämlich. Aber das ist ja doch nur die Oberfläche dessen, was sich hier ereignet: Es greift auch die Thematik des ersten Liedes in unmittelbarer Weise auf, die sich in der erschreckend lapidaren und darin elementare existenzielle Hilflosigkeit ausdrückenden Feststellung lyrisch artikuliert: „Das Unglück geschah nur mir allein, / Die Sonne, sie scheinet allgemein.“


    Diese Rat- und Hilflosigkeit des lyrischen Ichs, wie sie das erste Lied mit dieser in ihrem konstatierenden Gestus tatsächlich erschreckenden und mit einer in d-Moll schwer fallenden Liedmusik zum Ausdruck bringt, wird in den nachfolgenden Liedern zu bewältigen versucht, wobei der Kindestod nur eine behutsame, teilweise metaphorisch eingekleidete Erwähnung erfährt und das lyrische Ich sich in Erlösung verheißende transzendente Visionen flüchtet, ohne dass sich diese erlösende Befreiung vom Schmerz des Verlusts der Kinder wirklich einstellt. Jetzt aber, in diesem liedkompositorischen Finale, wird das Leid auf direkte, harte, geradezu brutale Weise bei seinem Namen genannt: „Ich sorgte, sie stürben morgen, das ist nun nicht zu besorgen.“ Und die Liedmusik bringt das mit einer klanglichen Schroffheit und orchestral geradezu lärmenden Direktheit zum Ausdruck, die der Hörer zwar als schmerzlichen Kontrast zum vorangehenden Lied erfährt, sie aber gerade deshalb als in einem tiefen Sinne wahr, weil den inneren Zustand des lyrischen Ichs schonungslos reflektierend empfindet.


    Aber seinen eigentlichen Kern als Finale, eigentlich im Hinblick auf die musikalisch-künstlerische Aussage des Zyklus in seiner Ganzheit, offenbart dieses Lied erst in seinem zentralen liedmusikalischen Ereignis: Es ist der Schluss, in dem die Singstimme nun zum fünften Mal mit den Worten „In diesem Wetter…“ einsetzt. Dieses Mal aber tut sie es in einem fundamental anderen, aus Dur-Harmonik hervorgehenden klanglichen Umfeld und in der Weiterführung der melodischen Linie mit einer ganz und gar gewandelten, nämlich in den Schmelz der Streicher gebetteten orchestralen Begleitung. Die dreifachen Anschläge des Glockenspiels deuteten ja schon an, was sich nun ereignen wird. Und auch darin besteht ein dezenter Bezug zum ersten Lied. Denn im Zwischenspiel, bevor die Singstimme dort zur Deklamation der Worte „Du musst nicht die Nacht in dir verschränken“ übergeht, meldet sich das Glockenspiel drei Mal. Und es ist im kompositorischen Schaffen von Mahler grundsätzlich ein klangliches Sich-zu-Wort-Melden der Transzendenz.


    Und das ist es ja auch, was den Kern dieses musikalischen Ereignisses ausmacht: Das Hereintreten der „anderen Welt“ in die reale Welt des abgrundtiefen Schmerzes und hoffungslosen Leidens, wie sie der Verlust der Kinder mit sich gebracht haben. Das Neue an diesem Ereignis, und das, was es zu einer Antwort auf die im Zyklus aufgeworfenen existenziellen Grundfragen werden lässt, besteht in der Art und Weise, wie es sich ereignet. War die klangliche Verzückung, in der das vorangehende vierte Lied sich am Ende steigert, letzten Endes das Ergebnis eines autosuggestiven Sich-Hineinsteigerns in das visionäre Bild, das sich in den Worten „Der Tag ist schön auf jenen Höh´n“ lyrisch sprachlich verdichtet, die Folge eines aus Verzweiflung und Hilflosigkeit hervorgehenden subjektiven Willensakts also, so mutet das, was sich mit dem letzten deklamatorischen Auftritt der Singstimme ab Takt 99 ereignet und von Mahler mit den Anweisungen „Leise bis zum Schluß“ und „Langsam wie ein Wiegenlied“ versehen ist, an wie ein Geschenk, - wie ein dem leidenden Menschen unverhofft und unerwartet zuteilwerdender Akt der Gnade.


    Hört man genau auf die Musik dieses Liedschlusses, einschließlich des Nachspiels, dann fällt auf: Darin finden sich Anklänge an das Lied „Urlicht“, dem vierten Satz der Zweiten Symphonie also, und an das Finale der Dritten Symphonie. Und sie erweisen sich als höchst aufschlussreich, die musikalische Aussage dieses letzten Liedes des Zyklus betreffend. Die melodische Linie auf den Worten „In diesem Wetter, in diesem Saus“ (Takte 99-104) ähnelt auffällig der auf den Worten „Da kam ich auf einen breiten Weg“ in „Urlicht“ (Takte 38-41). Und überdies ähneln sich auch die zugehörigen melodischen Figuren der ersten, bzw. der Solo-Violine. Und im Nachspiel des Liedes stimmen die Celli in Takt 128f. eine mit den Anweisungen „senza sord. unis.“, und „hervortretend“ versehene melodische Figur an, die an die Takte eins bis fünf des Finales der Dritten Symphonie erinnert.


    Zu diesem Finale bemerkte Mahler in einem Brief an Anna von Mildenburg (1.7.1896): „Ungefähr könnte ich den Satz auch nennen >Was mir Gott erzählt!<. Und zwar eben in dem Sinne, als ja Gott nur als >die Liebe< gefaßt werden kann“. Und nimmt man den von Mahler kompositorisch ganz gewiss nicht zufällig hergestellten Bezug zu „Urlicht“ hinzu, dann kann man sich ganz sicher sein, wie Mahler dieses letzte Lied seines Zyklus „Kindertotenlieder“ verstanden wissen wollte: Als musikalische Evokation des Glaubens an die Überwindung des Todes durch die Liebe in der Gewissheit der Existenz eines die Liebe verkörpernden Gottes.

  • Mahlers „Kindertotenliedern“ kommt in seinem kompositorischen Gesamtwerk eine Art Schlüsselfunktion zu. Sie sind in der Konzentration ihrer Liedmusik-Sprache auf das Prinzip der Polyphonie so etwas wie der Eintritt Mahlers in sein kompositorisches Spätwerk. Und zugleich stellen sie in ihrer musikalisch-künstlerischen Aussage ein für das Wesen von Mahlers Musik gleichsam exemplarisch-repräsentatives Werk dar.
    Man kann wohl, und das aus gleich mehreren sachlichen Gründen, die Auffassung vertreten, dass die „Kindertotenlieder“ zu den persönlichsten musikalischen Schöpfungen Mahlers gehören, - wenn es nicht gar die persönlichsten überhaupt sind. Wobei die Wertung „persönlich“ so zu verstehen ist, dass sich in der Musik der Mensch im Komponisten, sein Denken und Fühlen in ihren existenziellen Dimensionen also, im Sinne einer Identifikation damit niedergeschlagen hat, - und dies in einer in der Faktur des Werkes erfassbaren Gestalt. Das ist bei den „Kindertotenliedern“, wie hoffentlich aufzuzeigen gelungen ist, ganz ohne Frage der Fall. Sowohl die religiöse Überhöhung der lyrischen Texte Rückerts, wie auch die liedmusikalische Emphase, in der sie sich ereignet, sind unüberhörbare und in der Faktur der Lieder klar nachweisbare Indizien dafür.
    Dabei ist höchst bemerkenswert: Den Liedern geht, bei aller inneren Betroffenheit des Komponisten durch ihren Gegenstand, jegliche Sentimentalität und klangliche Rührseligkeit ab. Der Mahler-Biograph Jens Malte Fischer hat schon recht, wenn er feststellt:
    „Hier spricht und singt jemand, der gelernt hat, seine Gefühle aufs äußerste zu kontrollieren, nicht in Weinkrämpfen zusammenzubrechen.“ Und man möchte hinzufügen: Dieser hochgradig emotional kontrollierte liedkompositorische Umgang mit den von starker emotionaler Betroffenheit geprägten lyrischen Texten Rückerts macht die eigentliche musikalisch-künstlerische Größe dieses Werkes aus.


    Warum aber vermag es dann seine Hörer dennoch so zu erschüttern, dass einer seiner Interpreten, Christian Gerhaher nämlich, zu dem Bekenntnis gelangt:
    „Ich singe diesen Zyklus oft, weil er so großartig ist, aber ich habe immer ein schlechtes Gefühl dabei und denke, wenn sich Menschen im Publikum befinden, die ein Kind verloren haben, kann man ihnen das eigentlich nicht antun.“
    Die Antwort auf diese Frage dürfte in eben diesem liedkompositorischen Konzept Mahlers zu finden sein. Weil es, selbst im letzten Lied, nicht auf die schiere Evokation von Emotionen mit klanglichen Mitteln ausgerichtet ist, sondern die semantische Dimension von Rückerts lyrischen Texten mit einer polyphon strukturierten und darin gleichsam dem Geist der Sachlichkeit verpflichteten Liedmusik auslotet, gewinnt die künstlerisch-musikalische Auseinandersetzung mit der lyrischen Artikulation des Erlebnisses des Kindestods eine solch erschütternde Wirkung.


    Aber eben deshalb halte ich die Schlussfolgerung, die Christian Gerhaher aus seiner ganz persönlichen Erfahrung als Interpret der Lieder zieht, für unangebracht. Er meint:
    „Ich empfinde es fast als eine Art Anmaßung, nicht nur vom Komponisten, sondern auch vom Interpreten, das auf der Bühne darzustellen“.
    Dahinter steht bei ihm ein Verständnis dieses Zyklus – den er im übrigen für „unverzichtbar“ hält -, das er in die Worte gefasst hat:
    „Dieser Zyklus ist in seiner Thematik einzigartig und, wie ich finde, auch problematisch. Was hier geschieht und womit man hier konfrontiert wird, ist in meinen Augen am Rande der Indiskretion. Ich habe vor allem mit dem letzten Lied >In diesem Wetter< große Schwierigkeiten, obwohl, vielleicht aber auch weil es mit dem Wiegenlied einen so versöhnlichen Ausgang findet. Dieser Wintersturm, der zum Herzenssturm wird, ist zwar illustrativ gekonnt und eindrücklich dargestellt, geht in der Vereinnahmung des Bildes des trauernden Elternteils in meinen Augen aber zu weit. Die Reaktion der Eltern auf den Tod des Kindes wird hier in einer fast manipulativen Weise imaginiert, wie sie dem von Mahler sonst immer gewahrten Geschmack meines Erachtens nicht mehr ganz entspricht. („Halb Worte sind´s, halb Melodie“, S.111).


    Christian Gerhaher mag als – übrigens großartiger! – Interpret der „Kindertotenlieder“ das ja durchaus so empfinden, aber als sachliches Urteil über die spezifische Eigenart dieses Werkes wird er ihm damit nicht gerecht. Was den zentralen Vorwurf der „Indiskretion“ anbelangt, so bedenkt er nicht, dass Rückerts Gedichte gar nicht zu Publikation gedacht waren. Was nun Mahler betrifft, und das, was er daraus musikalisch gemacht hat, sind diese kritischen Anmerkungen Gerhahers ebenfalls ohne sachliche Grundlage. Mahlers Liedmusik geht der Gestus der „Vereinnahmung“ menschlichen Leidens unter dem Kindestod zu liedmusikalischen Zwecken völlig ab. Das Wesen seiner „Kindertotenlieder“ besteht ja gerade darin, dass er die eminente Subjektivität der Rückert-Verse mit musikalischen Mitteln auf eine gleichsam objektive Ebene hebt. Die allgemein-existenzielle nämlich: Die des menschlichen Leidens unter der Erfahrung von Tod und Vergänglichkeit. Und das Mittel der Objektivierung ist die liedkompositorisch-thematische Verarbeitung der lyrischen Texte Rückerts nach dem Prinzip des polyphonen Einsatzes von Orchesterstimmen und melodischer Linie der Singstimme.


    Und was Christian Gerhaher auch - wie ich finde – nicht hinreichend bedacht hat, das ist die Bereicherung und Vertiefung der religiösen Dimension von Rückerts Texten. Zugrunde liegt diesen Liedern, und im letzten wird das ja regelrecht explizit, der Gedanke der Transzendierung des Todes durch die Liebe. In diesem Sinne ist das „Wiegenlied“, in dem der Zyklus am Ende gleichsam zu sich selbst kommt, eben gerade keine klanglich süßliche Beschönigung der Todeserfahrung, wie sie sich im Verlust der Kinder ereignet, vielmehr musikalische Evokation eben dieser Liebe, die sich aus der irdisch-menschlichen Dimension in die der Transzendenz ausweitet. Und darin erweist sie sich als Bestandteil und Element der Polyphonie dieser Liedmusik.

  • Mit den „Kindertotenliedern“ ist diese chronologisch angelegte und sich unter den Anspruch der Vollständigkeit stellende Betrachtung des liedkompositorischen Werks Gustav Mahlers an ihr Ende gelangt. Denn danach hat er keine „Lieder“ im genuinen Sinn dieser musikalischen Gattung mehr komponiert. Das „Lied von der Erde“ ist, auch wenn es in seinem Titel diesen Gattungsbegriff aufweist, keine Liedmusik, sondern ein die Liedmusik gleichsam integrativ einbeziehendes wesenhaft sinfonisches Werk, das Alma Mahler in durchaus treffender Weise als eine Weiterentwicklung der Lieder zu „ihrer Urform – zur Symphonie“ nämlich charakterisierte. Mahler selbst bezeichnete es als „Symphonie für eine Tenor- und eine Alt-(oder Bariton-)Stimme und Orchester.“


    Eine retrospektiv angelegte Zusammenfassung all dessen, was hier im einzelnen zu Mahlers Liedmusik, ihrer spezifischen Eigenart und ihrer liedhistorischen Bedeutung gesagt wurde, soll hier nicht erfolgen. Das ist, abgesehen davon, dass das ja alles nachlesbar ist, allein schon deshalb nicht sinnvoll, weil dieser Thread ja nicht abgeschlossen ist, sondern – hoffentlich – weitergeführt und durch Beiträge von anderer Hand aus diesem Forum bereichert wird.
    Der „Rückblick“ soll hier in wahrsten Sinn des Wortes erfolgen: In Gestalt einer kurzen Betrachtung eines Liedes, das noch fehlt, um den Anspruch der „Vollständigkeit“ wirklich eingelöst zu haben. Es ermöglich einen Einblick in die Anfänge von Mahlers Liedkomposition, - und erweist sich darin wie ein Schlüssel für den Zutritt zu deren Wesen.


    Gustav Mahler: „Winterlied“


    Über Berg und Tal
    Mit lautem Schall
    Tönet ein Liedchen.
    Durch Schnee und Eis
    Dringt es so heiß
    Bis zu dem Hüttchen.
    Wo das Feuer brummt,
    Wo das Rädchen summt
    Im traulichen Stübchen.
    Um den Tisch herum
    Sitzen sie stumm.
    Hörst du mich, Liebchen?
    Im kalten Schnee,
    Sieh! wie ich steh',
    Sing' zu Dir, Mädchen!
    Hat denn mein Lied
    So dich erglüht
    Oder das Rädchen?
    O liebliche Zeit
    Wie bist du so weit!
    O selige Stunden!
    Ach nur ein Blick
    War unser Glück.
    Ewig verschwunden!


    Das Lied entstand am 27. Februar 1880. Es gehört, zusammen mit „Im Lenz“ und „Maitanz im Grünen“ zu der Gruppe von frühen – seinen ersten - Liedkompositionen für Tenorstimme und Klavier, die Mahler seiner Klavierschülerin Josephine Poisl gewidmet hat, in die er sich während seines Aufenthalts in Iglau (August/September 1897) verliebt hatte. Alle diesen Liedern zugrunde liegenden Texte stammen von ihm selbst, also auch der von „Winterlied“. Schon das ist bemerkenswert, lässt es doch die von Anfang an bestehende Grund-Intention seiner liedkompositorischen Betätigung – ja seines kompositorischen Schaffens generell – erkennen: Das Sich-selbst-Aussprechen im Medium der Musik. Mahlers Liedkomposition setzt nicht mit der „Vertonung“ vorgefundener Lyrik ein, sie will von vornherein eine eigene textliche Grundlage haben, in der sie sich mit dem, was sie sagen will, ohne jegliche Beschränkung durch externe Vorgaben entfalten kann. Und wenn Mahler später, nach der neuerlichen textlichen Eigenschöpfung im Falle der „Lieder eines fahrenden Gesellen“, dann doch zu solchen textlichen Vorgaben griff – Richard Leander und Tirso de Molina im Fall der „Frühen Lieder“, „Des Knaben Wunderhorn“ und Friedrich Rückert in seinem liedkompositorischen Hauptwerk – er behandelt sie im Grunde alle wie eigene Texte und greift aus diesem Grund geradezu hemmungslos in sie ein.


    Selbst wenn sich dieses Lied in der Struktur seiner melodischen Linie, in der klangmalerischen Verwendung einer Spinnrad-Figur und in seiner Harmonik, die sich im Bereich von A-Dur und c-Moll zwischen Tonika, Dominante und Subdominante bewegt und sich erst im langen (vierzehntaktigen) Nachspiel nach F-Dur wagt, als der Tradition verpflichtetes „Frühwerk“ erweist, so lässt es doch den späteren Liedkomponisten Mahler gleichsam ahnen. Dies vor allem in der Art und Weise, wie er den Klaviersatz gestaltet und funktional in die Komposition einbringt. Er arbeitet hierbei mit einem klanglichen Motiv, das gleich im Vorspiel auftritt und seine gleichsam leitmotivische Funktion darin erweist, dass die melodische Linie der Singstimme es mit den Worten „Über Berg und Tal mit lautem Schall“ aufgreift. Es besteht aus einem – im Vorspiel akkordisch ausgeführten – mit einer harmonischen Rückung in die verminderte Subdominante verbundenen kleinen Sekundfall, der sich nach der Rückkehr in die Ausgangslage zu einem großen Terzfall erweitert. Daran schließt sich ein weiteres Motiv an, das – auch wieder bei „tönet ein Liedchen“ erstmals von der melodischen Linie übernommen – aus einer doppelten Fallbewegung besteht, die erst auf der Quinte und dann auf der Sexte ansetzt und, in der Dominante harmonisiert, auf der Sekunde über dem Grundton endet.


    Diese beiden klanglich-harmonischen – und melodischen – Motive bilden die musikalische Substanz, aus denen Mahler das Lied gestaltet. Sie begegnen einem permanent, dies allerdings in sich in der Emphase steigernden Modifikationen, die darin die jeweilige lyrische Aussage reflektieren. Im ersten Zwischenspiel nach den Worten „tönet ein Liedchen“ erklingen diese musikalischen Motive, die die Singstimme eben gerade deklamierte, noch einmal in voller Länge. Und das ist auch der Fall im neuerlichen Zwischenspiel nach den Worten „bis zum dem Hüttchen“. Die melodische Linie hat zuvor zwar nicht direkt diese Figur beschrieben, dennoch wirkt sie in ihren Fallbewegungen wie eine Modifikation derselben, vor allem deshalb, weil sie wieder auf dem Grundton endet.


    Bei den Worten „Wo das Feuer brummt, wo das Rädchen summt“ geht die melodische Linie in eine zweimal sich wiederholende Aufstiegsbewegung über, und das Klavier imaginiert mit einem Auf und Ab in Sekunden klanglich das „Summen“ des Spinnrads. Aber die auf der Sexte ansetzende Fallbewegung auf den Worten „im traulichen Stübchen“ stellt wieder ein Element der Grundfiguren dieses Liedes dar. Und prompt wiederholt das Klavier diese melodische Bewegung noch einmal. Mit den Worten „Hörst du mich, Liebchen“ kommt große klangliche Emphase in das Lied. Nach einem kurzen Zwischenspiel, in dem das Klavier wieder die Grundmotive erklingen lässt, steigert sich die melodische Linie mehr und mehr in einen geradezu pathetischen Gestus, den das Klavier dadurch noch steigert, dass es die sich wiederholende melodische Bewegung auf den Worten „Hat denn mein Lied / So dich erglüht“ in Gestalt von Terzen im Nachspiel und weiter nach oben ausgreifend wiederholt. Auch die Fallbewegung der melodischen Linie auf den Worten „Oder das Rädchen“ wird vom Klavier mit Sexten und Terzen im Nachklang klanglich überhöht. Man könnte auch sagen: Geschönt. Denn Mahler schreckt hier in keiner Weise vor der Nähe zu klanglicher Süße zurück.


    Auch wenn dieses Lied in diesen Elementen seiner Faktur eine noch ganz der traditionellen Liedsprache verpflichtete Komposition darstellt, es lässt bereits die Grund-Intention von Mahlers liedkompositorischem Schaffen vernehmen und erkennen. Dies vor allem in der Arbeit mit den beiden musikalischen Grundmotiven. Dadurch, dass sie wie in leitmotivischer Funktion das ganze Lied beherrschen und prägen, zeigen sie, worauf es Mahler letzten Endes hier – und später und generell – ankommt: Nicht den lyrischen Text zu „vertonen“, sondern mit klanglich-musikalischen Mitteln die Emotionen, die er mit seiner Semantik und seiner Metaphorik auszulösen vermag, in eine Musik zu setzen, die eben diese emotionale Dimension mit ihrem evokativen Potential in ihrer wahren Tiefe auszuloten vermag.


    Mahlers liedkompositorische Entwicklung, wie sie sich in seinem diesbezüglichen und hier vorgestellten Werk abzeichnet, ist nicht mehr und nicht weniger als der Weg zur vollkommenen, die lyrische Aussage aufgreifenden und mit den Mitteln der Musik in ihrem kognitiven und ihrem emotionalen Potential ausschöpfenden und auf diese Weise vertiefenden Liedsprache. Dem Schritt vom Klavierlied zum Orchesterlied und der gleichsam symbiotische Bindung zwischen Lied und Symphonie wohnt von daher eine gewisse liedkompositorische Logik inne. Er erreichte dieses Stadium der Vollkommenheit in der Polyphonie der Liedmusik der „Kindertotenlieder“.

  • Mit den „Kindertotenliedern“ ist diese chronologisch angelegte und sich unter den Anspruch der Vollständigkeit stellende Betrachtung des liedkompositorischen Werks Gustav Mahlers an ihr Ende gelangt.


    Nun hat also dieser am 17. Februar begonnene Thread doch noch ein Ende gefunden. Bliebe díes ohne Feedbeck der Leserschaft, wäre das ein blamabler Vorgang.
    Das war und ist eine respektable und bewunderungswürdige Leistung, die nicht hoch genug gelobt und gewürdigt werden kann. Es ist ja nicht nur die reine Menge des Geschriebenen, die beeindruckt, es ist auch noch lesenswert ... Dank dafür!

  • Ja, lieber Kollege hart, hier hat Helmut eine bewundernswerte Tat vollbracht - ein Aushängeschild dieses Forums!!!
    Und man darf mit Fug und Recht dem Autor nicht nur Dank sagen, sondern auch für diese Leistung gratulieren!
    Sollte ich mich einmal für Mahlers Lieder interessieren - ich weiß, wo ich nachschla...lesen kann.
    Lieben, herzlichen Dank, lieber Helmut!


    :hello:

    .


    MUSIKWANDERER

  • Ich stimme meinen Vorrednern uneingeschränkt zu und möchte diese Arbeit zu einem "Leuchtturm des Forums" erklären!

    Aller Anfang ist schwer - außer beim Steinesammeln (Volksmund)

  • Auch ich möchte mich sehr herzlich bei Helmut für diese Tat bedanken! Leider habe ich momentan keine Zeit, das alles mit der Gründlichkeit zu lesen, die es verdient, aber ich hoffe, dies bald nachholen zu können.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Noch immer unter dem Schock der schrecklichen Nachricht vom Tod unseres so hoch geschätzten Tamino-Mitglieds hami1799 stehend, möchte ich doch euch allen, lieber hart, musikwanderer, dr. pingel und Stimmenliebhaber, für diese so überaus positiven kommentierenden Worte zu diesem Thread ganz herzlich danken. Ich müsste lügen, wenn ich leugnete, dass ich mich darüber sehr gefreut habe.
    Zu bedenken ist freilich: Das, was es hier von meiner Seite aus zu lesen gibt, ist ja doch im Grunde nichts anderes, als was die Liedmusik Gustav Mahlers bei ihren Hörern emotional und gedanklich zu bewirken vermag.
    Und das ist halt sehr, sehr viel!

  • Nein, lieber Helmut, du hast es nicht verdient, dass ich dir immer nur sage, wie sehr ich deine hiesige Arbeit schätze und wie sehr ich hoffe, das irgendeines Tages mal in Ruhe lesen zu können! Und deine Verknüpfung mit den gestern hier bekannt gewordenen tragischen Ereignissen um Hami und seine Frau haben mich dazu veranlasst, mir heute vormittag Zeit zu nehmen für die "Kindertotenlieder" und diese - in der Aufnahme mit Siegfried Lorenz - zu Hamis Andenken (der zwar kein Kind, aber auch ein Mensch war) zu hören und dazu auch deine diesbezüglichen Artikel zu lesen! Soeben habe ich den Beitrag 215 gelesen, manche Absätze auch mehrfach - und ich habe bis zum Beginn des letzten Liedes des Aufnahme dafür "gebraucht" und habe deine Zeilen wirklich mit großem Gewinn gelesen, Danke dafür!
    Nun möchte ich auch noch unverzüglich die Beiträge zu den einzelnen Liedern lesen. Dein Einstiegsbeitrag zum Zyklus weckt nämlich den Wunsch nach mehr!

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Zu Deiner Bemerkung, lieber Stimmenliebhaber: "...zu Hamis Andenken (der zwar kein Kind, aber auch ein Mensch war) zu hören...":


    Das habe ich gestern Abend auch getan, - in der Aufnahme mit Kathleen Ferrier, Bruno Walter und den Wiener Philharmonikern vom 4.10.1949
    Die "Kindertotenlieder" sind wohl das persönlichste liedkompositorische Werk Mahlers. Wahrscheinlich deshalb können sie ihren Hörer und ihre Hörerin tiefer ergreifen als alle anderen. Und das will etwas heißen, denn viele von ihnen, etwa die "Wunderhorn-Lieder" vermögen das ja auch in hohem Maße.

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  • Ich habe HEUTE den ganzen Tag mit Mahler Lieder verbracht und H.Hofmanns Texte hier und In den anderen Threads gelesen, es hat mich mal wieder so vom Hocker gerissen und ich verneige mich tief gebückt vor soviel Kompetenz :!:


    Mir hat es auch das reinste Vergnügen bereitet, wie der liebe H.H. auf alles eine Erklärung parat hat um die Texte mit der Musik Mahlers in einen Wunderbaren Einklang bringt.


    :hail::hail::hail::hail::hail: Danke lieber H.Hofmann


    Es grüßt dich untergebenst Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • Hier möchte ich noch H.H. zitieren......


    Und besonders hervorheben möchte ich dies.....

    Zitat

    Er ist kein wirklich sprachlicher Fortdichter von vorgefundener Poesie, sondern ein musikalischer

    .....das hat mich meinen ganzen heutigen Tag begleitet und beflügelt!


    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • Ja, das kann zum großen Erlebnis werden, wenn man sich, wie Du das getan hast, lieber Fiesco, in tiefgehender Weise auf Mahlers Liedmusik einlässt.

    Dass ich Dich darin mit dem, was ich zu ihr hier im Forum geschrieben habe, begleiten durfte und konnte, das hat mich natürlich sehr gefreut. Mich aber dafür so zu loben, das war, auch wenn Du es gut gemeint hast, nun wirklich nicht nötig.

    Gleichwohl danke ich Dir dafür.