Wer sein holdes Lieb verloren,
Weil er Liebe nicht versteht,
Besser wär´ er nie geboren.
Ich verlor sie dort im Garten,
Da sie Rosen brach und Blüten.
Hell auf ihren Wangen glühten
Scham und Lust in holder Zier.
Und von Liebe sprach sie mir;
Doch ich größter aller Toren
Wusste keine Antwort ihr -
Wär´ ich nimmermehr geboren.
Ich verlor sie dort im Garten,
Da sie von sprach Liebesplagen,
Denn ich wagte nicht zu sagen,
Wie ich ganz ihr eigen bin.
In die Blumen sank sie hin;
Doch ich größter aller Toren
Zog auch davon nicht Gewinn -
Wär´ ich nimmermehr geboren!
Da klagt ein Mann über den Verlust der Geliebten, den er dadurch erlitt, ja herbeiführte, dass er sich nicht auszusprechen und seine eigene Liebe zu bekennen wagte. Dabei ist sein Seelenschmerz so tief, dass er in den Ruf ausbricht: „Wär´ ich nimmermehr geboren!“ – und dies auch noch wiederholt. Da das alles lyrisch sprachlich ein wenig übertrieben daherkommt, stellt sich die Frage, wie Wolf diese Verse gelesen und in Musik gesetzt hat. D. Fischer-Dieskau meint, dass das Klavier „die jammervolle Klage raffiniert zu Ende und ad absurdum“ führe und übernimmt dabei – wie so oft – wörtlich das Urteil des Wolf-Biographen Kurt Honolka, der auf den Sachverhalt verweist, dass Wolf sich hier, ähnlich wie in seinen Mörike-Liedern, coupletartiger Floskeln bedient. Erik Werba sieht das aber ganz anders. Er vernimmt in dem Lied den Ausdruck „wahrer Klage, Selbstanklage des Liebenden“ und fügt in Klammer hinzu: (Die) „von einzelnen Interpreten hineingeheimniste Ironie ist durchaus fehl am Platz“.
Nun ist es ja zunächst einmal eine Sache der sängerischen Interpretation, wie weit man aus diesem Lied Humor und Ironie zu vernehmen vermag. Aber wenn ein Sänger sie in seiner Interpretation herausarbeitet, dann muss es dafür eine Grundlage in der Faktur des Liedes geben. Also soll in deren Betrachtung in diesem Fall a priori auch diese Fragestellung einbezogen sein.
Das Lied entstand am 28. Oktober 1889, es weist einen Zweivierteltakt auf, und fis-Moll ist die Grundtonart. Im fünftaktigen Vorspiel erklingt eine Figur, der eine Art leitmotivische Funktion für das Lied zukommt. Sie besteht aus einer Folge von Oktaven, die dadurch leicht rhythmisiert ist, dass auf einen Sekundsprung in Gestalt von Achteln ein punktiertes Achtel und dann ein Sechzehntel folgt, mit dem eine Fallbewegung eingeleitet wird, der noch zwei Achtel-Oktaven angehören. Das ereignet sich drei Mal, allerdings zwei Mal dann ohne Auftakt, danach folgt ein arpeggierter Cis-Dur-Akkord, was eine harmonische Rückung beinhaltet, denn das Vorspiel war in fis-Moll gehalten. Die danach einsetzende melodische Linie auf den Worten „Wer sein holdes Lieb verloren“ setzt ebenso auftaktig wie das Vorspiel ein und beschreibt zwar nicht dessen melodische Linie ganz genau, wirkt ihr aber sehr ähnlich, weil sie genau so rhythmisiert ist. Dieser rhythmischen Figur („punktiertes Achtel / Sechzehntel / zwei Achtel“) begegnet man, z.T.in auftaktiger Gestalt, in diesem Lied permanent, und zwar nicht nur dadurch, dass das Klavier sie in ihrer oktavischen Form in Zwischenspielen und im Nachspiel erklingen lässt, der Klaviersatz setzt sich zu seinem größten Teil aus ihr zusammen, und in der melodischen Linie vernimmt man sie bis zum Liedende weitere zwölf Mal. Dies nicht nur, weil sich bei den identischen Versanfängen „“Wer sein holdes Lieb…“, Ich verlor sie dort…“ und „Doch ich größter aller…“ auch die melodische Linie wiederholt, innerhalb der Melodiezeile auf den Worten „Wär´ ich nimmermehr geboren“ vernimmt man sie auch.
Der Gedanke liegt nahe, in dieser Rhythmisierung der Liedmusik auf einen lyrischen Text, dessen zentraler Inhalt die Klage um den Verlust der Geliebten ist, ein Indiz für den Humor zu sehen, den Wolf in sie hineingelegt hat. Beachtet man dabei aber, an welchen Stellen die leichte Dehnung in Gestalt eines punktierten Achtels auftaucht, dann stellt man fest: Sie ist wortgeneriert. Durchweg erfüllt sie die Funktion einer Akzentuierung lyrisch wichtiger Worte: „holdes“, „verlor“, „hell“, „größter“, „Liebe“, “Blumen“. Und auch bei dem Vers, in dem die Klage gleichsam auf die Spitze getrieben ist, bei den Worten „Wär´ ich nimmermehr geboren“ kommt ihr eben diese Funktion zu. Hier beschreibt die melodische Linie eine auf einem hohen „E“ ansetzende und sich über eine Septe erstreckende Fallbewegung in kleinen Sekunden, die in fis Moll harmonisiert ist. Das punktierte Achtel, die Dehnung also, liegt dabei auf dem Wortteil „-mehr“ und die erste Silbe von „geboren“ trägt das Sechzehntel. Das entspricht dem Gestus, in dem dieser Satz gesprochen wird, und überdies verleiht es dem Wort „nimmermehr“ einen deutlichen Akzent. Am Ende dieser Fallbewegung, auf der letzten Silbe von „geboren“ ereignet sich eine Rückung nach D-Dur, und das Klavier geht in der eineinhalbtaktigen Pause der Singstimme zur Artikulation der Figur aus dem Vorspiel über, die wieder in einen arpeggierten Akkord mündet.
Es gibt keinen Grund, diesen Klageruf nicht als wahren und echten Ausdruck seelischen Empfindens zu verstehen und entsprechend gesanglich zu realisieren. Das gilt auch für die anderen Melodiezeilen, die in diesem Lied wiederholt werden. Da ist die auf den ersten drei Versen, die Wolf am Ende – abweichend vom lyrischen Text – in ihrer Faktur unverändert wiederholen lässt. Die Fallbewegung auf den Worten „Besser wär´ er nie geboren“ ereignet sich ebenfalls in kleinen Sekundschritten. Sie ist in fis-Moll harmonisiert, und am Ende erfolgt wieder die Rückung nach D-Dur. Die kleine Dehnung liegt hier auf dem Wort „nie“ und hebt es auf diese Weise musikalisch hervor.
Bemerkenswert ist die Passage auf den Worten „Und von Liebe sprach sie mir“. Die Liedmusik darauf wiederholt sich bei den Worten „In die Blumen sank sie hin“. Hier liegt auf dem Wort „Liebe“ ein leicht gedehnter und das Wort akzentuierende Sekundfall, und zu dem Wort „sie“ hin ereignet sich ein Quartfall, der in einen Sekundsprung übergeht. Das soll wohl zum Ausdruck bringen, dass das lyrische Ich dieses „Sprechen von Liebe“ zwar vernommen hat, damit aber nichts anzufangen wusste, - genauso wie beim Hinsinken in die Blumen. Das Klavier legt mit seiner Begleitung eine solche Deutung recht nahe. Vor dem Wort „Liebe“ (bzw. „Blumen“) lässt es eine Folge von Sechzehntel-Oktaven aufsteigen. Dann folgt auf dem Wort selbst ein arpeggierter d-Moll-Akkord, der bei „mir“ durch einen Cis-Dur-Akkord abgelöst wird. Und danach artikuliert das Klavier „zart“ (Anweisung) eine steigende und nach wellenartigem Verweilen wieder fallende Sechzehntel-Figur, die stark an Chopin erinnert. Auch das ist zu vernehmen als musikalisches Aufgreifen und Umsetzen einer lyrischen Szene, die für das lyrische Ich mit wahren Gefühlen und Empfindungen verbunden ist und von Wolf nicht in Humor umgebogen wurde.
Schließlich wiederholt sich auch die Liedmusik auf den Versen „Doch ich größter aller Toren / Wusste keine Antwort ihr – / Wär´ ich nimmermehr geboren“ (die ja in der zweiten Strophe textlich variiert werden) in unveränderter Form. Die Tonrepetitionen, die nach der anfänglichen Fallbewegung der melodischen Linie einsetzen, vernimmt man als Ausdruck echter Empörung und Verwunderung über das eigene Verhalten, zumal das Klavier der fallenden Linie der Melodik eine ansteigende Folge von Akkorden entgegensetzt, die bei dem Wort „Toren“ ihren Höhepunkt erreicht. Auch hier vermag man – ich jedenfalls - keinen Humor herauszuhören.