Sollen wir uns wirklich auf eine Stufe stellen mit Eduard Hanslick... ?

  • Diese Frage wurde vor einigen Tagen in einem unserer Threads von einem Mitglied gestellt.


    Ich kann diese Frage nur für mich persönlich beantworten , und die Antwort lautet: JA GERNE
    Allerdings habe ich den dunklen Verdacht, daß dieser Wunsch Herrn Dr. Eduard Hanslick, seines Zeichens der berühmteste und einflußreichste Wiener Kritiker des 19. Jahrhunderts - vermutlich nicht gefallen wird.


    Wikipedia schreibt über ihn:

    Zitat

    Eduard Hanslick (* 11. September 1825 in Prag; † 6. August 1904 in Baden bei Wien) war ein österreichischer Musikästhetiker und einer der einflussreichsten Musikkritiker seiner Zeit.

    Das ist schon mal ein gute Vorlage.


    Und noch ein Wiki-Zitat.

    Zitat

    1861 erhielt Hanslick eine Universitätsprofessur für Ästhetik und einen ersten Lehrstuhl Geschichte der Musik in Wien. Damit gilt Hanslick als erster universitärer Musikwissenschaftler im deutschen Sprachgebiet. Nach den Wertmaßstäben jener zum Historismus neigenden Zeit schätzte er vor allem Zeitgenossen, die sich an der Vergangenheit orientierten, und kritisierte Modeerscheinungen. Trotzdem nahm er regen Anteil an der Opern- und Salonkultur.

    Allmählich verdichten sich meine Zweifel, daß er es gerne sähe, wenn wir uns mit ihm auf eine Stufe stellten, denn er war - entsprechend seiner Position und dem damaligen Zeitgeist - durchaus auch standesbewusst.


    Seine Kritiken waren gefürchtet - zum einen wegen seiner treffenden Formulierungen - zum anderen wegen seines persönlichen "Gewichtes"


    Ich fürchte - wenngleich mich ein unsichtbares Band in Sachen Ästhetik verbindet, ich werde noch lange an mir arbeiten müssen, bis ich ihm das Wasser reichen kann - Veranschlagt sind dafür etwa 350 Jahre.......


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Eines habe ich ihm ja voraus: Zu meinen Lieblingskomponisten zählen Bruckner, Wagner UND vor allem Brahms, während er bekanntlich scharf gegen die ersten beiden anschrieb und selbst ein grosser Brahmsianer war.
    Den einen Vorteil, dass wir aus einer zeitlich distanzierten Perspektive Musik unterschiedlicher und zuweilen sogar gegnerischer Stilarten kennen und lieben können, haben wir ja.


    Gruss
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Liebe Forianer


    Ein Tamino-Mitglied hat mir anlässlich seines Wien Besuchs ein interessantes Buch mitgebracht und langfristig leihweise zur Verfügung gestellt. Es stammt aus dem Jahre 1885 und wurde von Eduard Hanslick geschrieben. Es enthält - soweit ich das in der Kürze überlicken konnte - vorzugsweise über Werke des 19. Jahrhunderts - und auch über Virtuosen und stattgefundene Konzerte ab 1870. Da die Rezensionen nicht mehr dem Urheberrecht unterliegen werde ich sie teilweise in den entsprechenden Threads - unter Hinweis ihrer Quelle - gekürzt zitieren - oder aber auch hier einbringen. Dabai interessieren uns natürlich heute nur mehr die Bewertungen von Kompositionen - die wir ja heute noch kritsch "gegenhören" können - und nicht Berichte über längst vergangene Konzerte, die nicht aufgezeichnet wurden.


    Zuerst habe ich einige Bemerkungen über ein Klavierkonzert von Ferdinand Ries gelesen, die ich im entsprechenden Thread verwerten werde. Das Ganze erscheint mir hochinteressant.


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Da ich mich derzeit mit der Biographie von Richard Strauss beschäftige, begegne ich natürlich auch sehr oft Eduard Hanslick, der die künstlerische Entwicklung des aufstrebenden jungen Wilden sehr aufmerksam verfolgte - natürlich sehr kritisch und scharf verfolgte. Auch wenn ich seine Urteile in den meisten Fällen nicht teile, so hat er doch die Finger auf mancher Wunde oder Schwachstelle bei Strauss. Hanslick hatte einen beispiellosen musikalischen Verstand. Er war ein glänzender Stilist und Spötter. Und noch im härtesten Verriss war es ihm gegeben, Musik genau zu beschreiben - eine Fähigkeit, die immer mehr verloren geht. Er war ein sehr neugieriger Mann. Es lohnte sich noch immer sehr, in seinen Schriften zu lesen.


    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Sehr lohnenswert zu lesen sind auch seine Opernkritiken :) - der Text ist als elektronisches Dokument hier zu lesen:


    https://archive.org/details/diemoderneoperk00hansgoog


    Hanslicks Kritik ist von heute aus betrachtet "dogmatisch" von seiner ästhetischen Posotion aus. Aber wie man am Beispiel Wagner sieht, war er alles andere als borniert oder engstirnig. Obwohl ihm Wagners Ästhetik gegen den Strich geht, weiß er die Originalität und Qualität dieser Musik durchaus zu würdigen:


    „Die Aufführung der Meistersinger wird jedem Musikfreund ein denkwürdiges Kunsterlebnis bleiben, wenn auch keines von jenen, deren echter Schönheitssegen uns beglückend und läuternd durch´s Leben begleitet. Wir erblicken in dieser Oper keine Schöpfung von tiefer Ursprünglichkeit, von bleibender Wahrheit und Schönheit, sondern ein geistreiches Experiment, das durch die zähe Energie seiner Durchführung und die unleugbare Neuheit nicht sowohl des Erfundenen, als der Methode des Erfindens frappiert. Die Meistersinger gehören für uns mit einem Worte zu den interessantesten musikalischen Abnormitäten. Als Regel gedacht würden sie das Ende der Musik bedeuten, während sie als Spezialitäten immerhin bedeutender und nachhaltiger anregen, als ein Dutzend Alltagsopern von den zahlreichen „correcten“ Operncomponisten Deutschlands, denen man um die Hälfte zu viel Ehre erweist, wenn man sie Halbtalente nennt.“


    Schöne Grüße
    Holger

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  • Obwohl ihm Wagners Ästhetik gegen den Strich geht, weiß er die Originalität und Qualität dieser Musik durchaus zu würdigen:


    Eine etwas zweischneidige Würdigung. Man könnte sie auch als eine besonders raffinierte Arte der Hinrichtung interpretieren.

  • Eduard Hanslick (1829 - war eben ein sehr gescheiter Mann. Um diese Erkenntnis wird niemand herumkommen. Daß dann gewisse Entwicklungen stattgefunden haben - man könnte auch sagen bedauerlicherweise - die seine Ästhetik veraltet erscheinen lassen, schmälert weder seinen Scharfsinn, noch sein Urteilsvermögen. Seine Rezensionen sind aus dem Geist des 19. Jahrhunderts zu verstehen und zu beurteilen. Letztlich hat sich ja "Fast Food" auch durchgesetzt - und kaum jemand wird behaupten, daß dies ein Glücksfall sei, bzw Gourmets gegenüber den Friskonteranbietern unterlegen seien.....
    WEnn ich aber Hanslick in Zukunft gelegentlich auszugsweise zitieren werde, so, um einen (bedeutenden) Kritiker der Vergangenheit zu Wort kommen zu lassen - ohne sein Verdikt zu unterstützen oder ihm zu widersprechen....
    Und sollte ich das aber in Einzelfällen dennoch tun, so werde ich genau zu erklären versuchen, warum....


    Das mir zur Verfügung stehende Buch heisst:


    Concerte, Componisten und Virtuosen der letzten 15 Jahre
    1870-1887


    Jenes von Rheingold deckt indes die Jahre von 1849 - 1856 ab. Vielleicht lässt sich da einiges verwerten ?



    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Eine etwas zweischneidige Würdigung. Man könnte sie auch als eine besonders raffinierte Arte der Hinrichtung interpretieren.


    Klar ist das zweischneidig - Hanslick und Wagner haben sich ja auch regelrecht bekriegt als Ästhetiker. Bemerkenswert ist an diesem Hanslick-Dokument finde ich, dass sich bei ihm sehr früh die Auffassung von moderner Kunst als "Experiment" zeigt. Das Experiment wird zwar einerseits noch als "Abnormität" und Ausnahme von der Regel betrachtet, zugleich bekommt die Neuheit aber den positiven Wert, den Geist anzuregen und die Kunst vor der Langeweile konformistischer Erstarrung zu retten. Und Wagner ist ja nun wirklich einer der Vorreiter der Moderne. Das hat der überaus kluge und scharfsinnige Hanslick sehr wohl gespürt, wie man hier sieht. Die originelle Eigenart von Wagners Musik beschreibt er erstaunlich präzise und treffend - auch wenn sich das dann mit einer negativen ästhetischen Wertung verbindet. Hanslick zu lesen ist wirklich ein Gewinn - auch seine Verrisse haben einfach Niveau, sind immer geistreich und regen zum Nachdenken an. :)


    Schöne Grüße
    Holger

  • Ich werde Hanslick ja nicht in voller Länge zitieren können, obwohl dies rein rechtlich zulässig wäre. Aber seine Rezensionen sind - entsprechend dem Stil seiner Zeit - recht ausführlich und weitschweifend. Aus meiner Sicht ist es aber interessant, wie der "Wiener Kritikerpapst" des 19. Jahrhunderts die Werke seiner Zeitgenossen gesehen hat. Man kann dann beipflichten oder widersprechen. Und zudem - Holger erwähnte es schon im vorigen Beitrag - sind seine Artikel durchaus unterhaltsam, geistvoll - und angenehm zu lesen. Daß die Zeit dann einige seiner Urteile "korrigiert" hat, sagt nichts über deren Richtigkeit aus, hat ja das "Fast-Food" auch den Kampf gegen die Restaurants und Gourmettempel gewonnen......... :D


    Mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Jenes von Rheingold deckt indes die Jahre von 1849 - 1856 ab. Vielleicht lässt sich da einiges verwerten ?


    Bei meiner schnellen Suche hatte ich nur die Abbildung dieses Buches gefunden. Bei den Jahren 1849 bis 1856, die es umfasst, war also keine Absicht im Spiel. Dieses Buch ist Teil einer Gesamtausgabe der Schriften von Hanslick, die - wenn ich mich nicht irre - um die zwanzig Bände umfasst. Der Mann war sehr fleißig. Es gibt auch kleinere Ausgaben. Der von mir eingestellte Buchdeckel war also nur als Illustration dafür gedacht, dass man seine Schriften jederzeit lesen kann. Was ich gelesen habe, fand ich sehr erbaulich - auch, weil viel Zeit darüber weg gegangen ist. Ewig ist fast nichts. ;)

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

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  • Ich greife das Zitat von Rheingold auf "Da ich mich derzeit mit der Biographie von Richard Strauss beschäftige, begegne ich natürlich auch sehr oft Eduard HanslicK"...
    ...und ändere es ab, indem ich den Komponisten Richard Strauss durch Johannes Brahms ersetze. Denn mit dessen Biographie bin ich zurzeit befasst, da dessen Lieder mein letztes Projekt sind, das ich - in etwas späterer Zeit - in Gestalt eines einschlägigen Threads hier verfolgen werde.
    Und da lese ich, die Person Hanslick betreffend, einiges Interessante hier. So die Bemerkung von Alfred Schmidt, Hanslick "war eben ein sehr gescheiter Mann. Um diese Erkenntnis wird niemand herumkommen. Daß dann gewisse Entwicklungen stattgefunden haben - man könnte auch sagen bedauerlicherweise - die seine Ästhetik veraltet erscheinen lassen, schmälert weder seinen Scharfsinn, noch sein Urteilsvermögen. Und daneben die Bemerkung von Glockenton: "...während er bekanntlich scharf gegen die ersten beiden (gemeint sind Bruckner und Wagner) anschrieb und selbst ein großer Brahmsianer war. "


    Und dies ist der Grund, weshalb ich diesen Thread kurz aufgreife. Das stimmt eben nicht, nicht in dieser Formulierung "Brahmsianer".
    Gewiss: Es ist unbestreitbar und vielfältig belegt, dass Hanslick Johannes Brahms, dem er freundschaftlich verbunden war, für den bedeutendsten lebenden Komponisten hielt. Aber beschäftigt man sich mal ein wenig genauer mit diesem Verhältnis zwischen den beiden, dann stellt man zu seinem Erstaunen fest: Obwohl Hanslick kein einziges Werk von Brahms öffentlich verriss, lehnte er etwa die Hälfte von dessen kompositorischem Schaffen ab. Im Grunde hatte er keinen wirklichen Zugang zur Musik von Johannes Brahms. Und liest man in seiner 1854 publizierten Abhandlung "Vom musikalisch Schönen", dann wird auch rasch deutlich, warum das so war. In das ästhetische Konzept, das darin entwickelt wird, passte Brahms nicht. Das "sinnlich Schöne" lag für Hanslick in der Melodie, und er war von daher davon überzeugt, dass die kompositorische Meisterschaft von Brahms und dessen Neigung zur Kombinatorik im Grunde nur seine Unfähigkeit verdeckten, der Musik Sinnlichkeit zu verleihen und sie auf Melodik aufzubauen. Bemerkenswert und vielsagend ist dieses Urteil über die Musik von Brahms: Sie sei, so meinte er, "im schönsten Sinne ein Denken in Tönen, ein Denken, das die Wärme und den poetischen Schwung nicht ausschließt".
    Constantin Floros hat schon recht, wenn er feststellt: "Die Geschichte des Verhältnisses Hanslicks zu Brahms erweist sich als die Geschichte eines großen Mißverständnisses."

  • Wenn dem so ist, was ich nicht bezweifle, dann hat er wohl weder "seinen" Brahms (nicht jeder Brahmsianer muss ja zwangsläufig die Brahmsmusik wirklich verstehen), noch und schon gar nicht den von ihm mitunter sehr scharf kritisierten Bruckner verstanden. Bei einem so profilierten Musikkritiker überrascht mich das ...... etwas.


    Zitat Wikipedia:


    "Auch kann gesagt werden, dass Hanslick sich über den Organisten Bruckner überschwänglich äußerte – und über Bruckners Erfolge bei dessen Orgeltournee in Nancy und Paris schwärmte – und dass Hanslick in seinen Kritiken stets betonte, wie sympathisch der Mensch Bruckner ihm sei, dass er seine Musik aber nicht verstehen könne. Nachdenklich stimmt jedoch die oftmals unsachliche Gehässigkeit gegenüber Bruckner in Hanslicks Kritiken („traumverwirrter Katzenjammerstil“), und es verwundert aus heutiger Sicht auch sehr, dass Hanslick, der doch das geflügelte Wort geprägt hatte, Musik sei nichts anderes als tönend bewegte Form, nicht erkannte, dass gerade Bruckner und seine symphonische Architektur diesem Formbegriff unter all seinen Zeitgenossen am ehesten entsprach."


    Was für eine Erkenntnis kann man also aus diesen Informationen ziehen?
    Man kann unglaublich gebildet, intellektuell und durchaus auch musikverständig sein, aber hin und wieder bei sehr wichtigen Themen dennoch geradezu peinlich danebenliegen und, so wie hier, den eigentlichen Punkt bei wichtigen und überaus genialen Komponisten mitunter grandios verfehlen.
    Allgemein ist es wohl so, dass scharfsichtige, kluge und scharfzüngige Menschen, die gewohnt sind, in ihren klaren Meinungsäußerungen oft rechtzuhaben, in besonders großer Gefahr stehen, total danebenzuliegen. Vielleicht liegt es an einer mit den Jahren zunehmenden Unwilligkeit, seine eigenen Erkenntnisse und Standpunkte ab und zu einmal einer kritischen Prüfung zu unterziehen.
    Von daher ist es in der Tat so eine zweischneidige, zweiseitige Sache, sich in irgendeinem Punkt "auf die Stufe Hanslicks" stellen zu wollen.
    Mir kommt ein Filmzitat in den Sinn, dass aus meiner freien Erinnerung ungefähr so ging: " Sie sind der intelligenteste Idiot, der mir je begegnet ist"..... ;)
    Vorsichtshalber erwähne ich, dass diese Bemerkung etwas scherzhaft gemeint war ... natürlich war Hanslick kein Idiot.


    Gruß :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Man kann unglaublich gebildet, intellektuell und durchaus auch musikverständig sein, aber hin und wieder bei sehr wichtigen Themen dennoch geradezu peinlich danebenliegen und, so wie hier, den eigentlichen Punkt bei wichtigen und überaus genialen Komponisten mitunter grandios verfehlen.
    Allgemein ist es wohl so, dass scharfsichtige, kluge und scharfzüngige Menschen, die gewohnt sind, in ihren klaren Meinungsäußerungen oft rechtzuhaben, in besonders großer Gefahr stehen, total danebenzuliegen. Vielleicht liegt es an einer mit den Jahren zunehmenden Unwilligkeit, seine eigenen Erkenntnisse und Standpunkte ab und zu einmal einer kritischen Prüfung zu unterziehen.


    Wie auch das Beispiel des Herr A. belegt, dem ein halbes Jahrhundert später ähnliches unterlief.

  • Wie auch das Beispiel des Herr A. belegt, dem ein halbes Jahrhundert später ähnliches unterlief.


    Es dauerte ein wenig, bis ich darauf kam, wer denn gemeint sein könnte.
    Ich kenne Adorno nicht gut genug, um über ihn eine halbwegs tragbare Aussagen machen zu können. Von daher weiß ich nicht, welcher Aspekt seines Schaffens hier konkret gemeint sein könnte.
    In meiner Jugend hatte ich Bücher von ihm in der Hand ...... was aber schon lange her ist. Es erschien mir damals als nicht gerade eingängige Literatur.
    Seit Loriot weiß ich, dass es immer sehr klug wirkt, wenn man Sätze wie "wie es schon Adorno so treffend ausdrückte...." einstreut.... :pfeif:
    Dummerweise hatte ich noch nie die Gelegenheit, mein Image mit ihm aufzupolieren... :D



    Gruß
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

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  • Lies mal hier, da werden im dritten Absatz einige Passagen von Adorno über Sibelius zitiert. Viel gehässiger geht es nimmer.


    O ha ....... tja, nun verstehe ich :D
    Wie man sich als hochgebildeter Mensch doch derart verrennen kann.... :no:


    Gruß
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Und liest man in seiner 1854 publizierten Abhandlung "Vom musikalisch Schönen", dann wird auch rasch deutlich, warum das so war. In das ästhetische Konzept, das darin entwickelt wird, passte Brahms nicht. Das "sinnlich Schöne" lag für Hanslick in der Melodie, und er war von daher davon überzeugt, dass die kompositorische Meisterschaft von Brahms und dessen Neigung zur Kombinatorik im Grunde nur seine Unfähigkeit verdeckten, der Musik Sinnlichkeit zu verleihen und sie auf Melodik aufzubauen. Bemerkenswert und vielsagend ist dieses Urteil über die Musik von Brahms: Sie sei, so meinte er, "im schönsten Sinne ein Denken in Tönen, ein Denken, das die Wärme und den poetischen Schwung nicht ausschließt".
    Constantin Floros hat schon recht, wenn er feststellt: "Die Geschichte des Verhältnisses Hanslicks zu Brahms erweist sich als die Geschichte eines großen Mißverständnisses."

    Ich kenne den Aufsatz von Constatin Floros nicht, lieber Helmut, wundere mich jedoch über diese Hanslick-Interpretation. Da muß ich doch etliche Fragezeichen anbringen.


    1. Im Zentrum von Hanslicks Schrift "Vom Musikalisch-Schönen" steht gar nicht der Begriff der Melodie, sondern der des "Themas". Das Thema ist für Hanslick das, was der musikalischen Form Individualität verleiht und auch ihr Organisationsprinzip, weswegen er es mit einem mathematischen Axiom vergleicht, aus dem Folgerungen gezogen werden. Das Modell ist offenbar Thema-Durchführung (Variation). Natürlich kann das Thema eine Melodie sein, muß es aber keineswegs. Jedenfalls nicht ästhetisch.


    2. Das Schöne bei Hanslick ist auch kein "sinnliches Schönes" - denn Hanslick ist der große Kritiker der Gefühlsästhetik. Das Schöne ist nicht das Sinnliche einer Empfindung sondern die "Darstellung" - und das Darstellbare wiederum ist die Form. "Die Rose kann duften, aber man kann den Duft der Rose nicht darstellen", sagt Hanslick, d.h. beim Sinnlichen des Duftens handelt es sich um gar keine ästhetische Qualität, sondern eine psychologische Wirkung, die von der ästhetischen Darstellung strikt abzusondern ist.



    Was für eine Erkenntnis kann man also aus diesen Informationen ziehen?
    Man kann unglaublich gebildet, intellektuell und durchaus auch musikverständig sein, aber hin und wieder bei sehr wichtigen Themen dennoch geradezu peinlich danebenliegen und, so wie hier, den eigentlichen Punkt bei wichtigen und überaus genialen Komponisten mitunter grandios verfehlen.

    Hanslicks Urteil über Bruckner ist verständlich, lieber Glockenton, und der Wikipedia-Artikel zeugt davon, dass man Hanslick nicht verstanden hat. Das Skandalon für Hanslick ist, dass Bruckner die Prinzipien von Wagners Musikdrama auf das Symphonische überträgt (genau deswegen lehnte auch Brahms Bruckner ab). Bei Wagner fehlt Hanslick zufolge die Klarheit eines thematischen Aufbaus. Dass Hanslick wirklich ein scharfsinniger Kopf war zeigt sich daran, dass er das Prinzip dieser neuartigen Wagnerschen Kompositionsweise sehr genau analysiert und wirklich begriffen hat, dann aber von seiner ästhetischen Prämisse her dogmatisch urteilt und es ablehnt. Deswegen ist das auch so interessant zu lesen! :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Ich darf mich mal selbst zitieren, und zwar aus den satirischen Brosamen "Musik ist ein besonderer Saft" das Kapitel "Fraktale 11" (Beitrag 9, am Anfang). Ein Adornoschüler hatte eine Komposition von ihm ausgegraben, für Singstimme und Klavier: "Was streckt dort aus dem Wagen/ den langen Rüssel aus?/ Es ist ein Mammut, es ist ein Mammut / und es fährt nach Haus."
    Der Klappentext auf Adornos Buch "Klangfiguren" lautet so: "Adornos Vermögen produktiven Vorausdenkens ist dem zu vergleichen, was Guillaume Apollinaire für die französische Dichtung und Malerei leistete. Dabei werden nirgendwo selbstherrlich und willkürlich Parolen ausgegeben, sondern die Perspektiven öffnen sich der Analyse dessen, wohin die Sache von sich aus treibt und der Erkenntnis von Funktion und Problematik der Musik in der gegenwärtigen Gesellschaft!" Dieser schöne tautologische Satz als Klappentext, wer hat ihn verfasst? Richtig - Adorno selbst.

    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Der Klappentext auf Adornos Buch "Klangfiguren" lautet so: "Adornos Vermögen produktiven Vorausdenkens ist dem zu vergleichen, was Guillaume Apollinaire für die französische Dichtung und Malerei leistete. Dabei werden nirgendwo selbstherrlich und willkürlich Parolen ausgegeben, sondern die Perspektiven öffnen sich der Analyse dessen, wohin die Sache von sich aus treibt und der Erkenntnis von Funktion und Problematik der Musik in der gegenwärtigen Gesellschaft!" Dieser schöne tautologische Satz als Klappentext, wer hat ihn verfasst? Richtig - Adorno selbst.


    Mit Martin Heidegger Sein und Zeit ist das der berühmte "hermeneutische Zirkel" (den man nicht vermeiden, sondern nur in rechter Weise in ihn hineingeraten kann, so Heidegger). Adorno mochte allerdings keinen Heidegger, aber hat ihn offensichtlich praktiziert ... :D :D

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  • Das Skandalon für Hanslick ist, dass Bruckner die Prinzipien von Wagners Musikdrama auf das Symphonische überträgt (genau deswegen lehnte auch Brahms Bruckner ab).


    ...und eben darin irrte Hanslick doch nahezu fundamental, aus meiner Sicht, weil er mit einer solchen Aussage eben nicht weiter sah, als rein musikanalytisch bis zu den Noten, aber eben Bruckners eigentliche Intentionen offensichtlich verfehlte. Diese seine Kritik griff aus meiner Sicht zu kurz, und ich bin froh, dass Bruckner seine Werke trotz auch dieser Kritik schrieb, wie er sie schrieb.


    Zwar hat es für Bruckner vom harmonisch-Stilistischen und der Instrumentation her (die atmosphärischen Anfangsstreicher etwa) eindeutig gewisse wagnersche Inspirationen gegeben, aber es geht ihm in seinen Symphonien um etwas ganz Anderes, als die Prinzipienübertragung des wagnerschen Musikdramas auf die Symphonie. Ich meine hiermit die eigentlichen künstlerischen Aussagen, jene Wahrheiten, die Bruckner sucht und auch findet. Das, was er da schrieb, hat mit Wagner dann eigentlich kaum noch etwas zu tun. Jeder Komponist hat vordergründig kompositionstechnisch seine inspirativen Einflüsse; und vom Genie aus Bayreuth völlig unbeeinflusst zu agieren, war damals wohl kaum möglich, es sein denn, man hat einen ganz anderen musikhistorischen Ansatz, wie eben Brahms, mit seiner eigenen Lösungen für die Weiterführung der Musik bis in die Moderne.


    Die schwebenden Bruckner-Anfangsstreicher etwa werden heute oft als möglichst schnell zu spielende Tremoli missverstanden. In Wirklichkeit sind sie aber eher eine atmosphärisch-schwebende "heiße Luft" um den Einsatz eines unendlichen Gesangs anderer Instrumente vorzubereiten. Wenn jeder der beteiligten Streicher mit einer anderen Frequenz im ppp streicht, dann erhält man jenen dicht vibrierenden Klangteppich, der seine Entsprechung in der Ur-Vibration des Kosmos und jener vibrierenden Bewegung hat, die wir Leben nennen.
    In diesen, mich an eine Gottes-Suche erinnernden Bruckner-Anfängen ist das Weitere und das Ende irgendwie schon konzentriert, wie in einer Keimzelle enthalten, aber eben noch nicht offenbart.
    Bei Wagner - etwa bei Lohengrin - haben die hohen Streicher des Anfangs eine ganz andere, opernhaft-theatralische Funktion, und sie vibrieren ja auch nicht.
    Bruckner ist vom ganzen christlich-katholischen Typus her eher ein Gegenteil des aus meiner Sicht schon eher anti-christlichen Wagners, was in der Musik irgendwie auch hörbar und in den Biografien wohl auch erkennbar werden kann.
    Seine Symphonien sind aus meiner Sicht etwas völlig Anderes, als etwa eine Wagner-Stilkopie im symphonischen Stil. Auch harmonisch geht er dann zunehmend eigene Wege, eben doch ganz anders als Wagner.


    Hätte Hanslick diese Dinge in der Tiefe besser erkannt und dementsprechend gewürdigt, dann hätte er sicher nicht diese einigermaßen ätzenden Worte über Bruckner gefunden.


    Die Berichte über die Beerdigung Bruckners scheinen übrigens nahezulegen, dass Brahms den Bruckner vielleicht doch nicht so abgelehnt hat, wie man es manchmal so annimmt.
    Auch die verbalen Äußerungen von Komponisten sollte man vielleicht auch nicht wie Bibelworte als gesetzt ansehen. Bruckner soll ja in seinen verbalen Einlassungen kaum jenen Vorstellungen entsprochen haben, die man gegenüber einem Intellektuellen hatte. Brahms hingegen war eigentlich ein Typ mit sehr weichem Kern, der jedoch nach außen bekanntermaßen schroff auftreten konnte. Ihm persönlich näher zu kommen, war eine fast unmögliche Sache, natürlich nicht für Clara Schumann....


    Sicherlich hat Brahms für sich selbst abgelehnt, so wie Bruckner zu komponieren. Als Brahms musste er ja schließlich auch so schreiben wie er schrieb, so und nicht anders. Bruckner wiederum musste genau das schreiben, was er schrieb, aber das sind ja alles Binsenwahrheiten.
    Dass es jedenfalls keine persönlichen Feindseligkeiten zwischen Brahms und Bruckner gab, wird nach meinem Wissen im Allgemeinen so angenommen.


    Gruß :hello:
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Aus meiner Sicht liegt das Hauptverdienst von Herrn Adorno darin, daß er uns heute nicht mehr interessieren muß und es auch kaum mehr eine Veranlassung gibt ihn zu zitieren. Ihn mit Eduard Hanslick, dem ich diesen Thread gewidmet habe zu vergleichen grenzt schlicht an eine Beleidigung. Hanslicks Kritiken sind selten gehässig, und wenn gelegentlich doch, dann wohlbegründet. Er hat sich vermutlich - nein sogar sicher - nicht vorstellen können - in welche Richtung die Ästhetik dereinst abdriften würde. Zu seinen Lebzeiten waren seine Kritiken beinahe das Maß aller Dinge, umso heftiger die Kritik an seiner Person nach seinem Ableben, denn die Menschheit duldet in der Regel keine "unfehlbaren", "bedeutenden" Persönlichkeiten. Zuerst huldigt man ihnen, später bewirft man sie mit Dreck. Das ist der Lauf der Welt.


    mfg aus Wien
    Aöfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • ...und eben darin irrte Hanslick doch nahezu fundamental, aus meiner Sicht, weil er mit einer solchen Aussage eben nicht weiter sah, als rein musikanalytisch bis zu den Noten, aber eben Bruckners eigentliche Intentionen offensichtlich verfehlte. Diese seine Kritik griff aus meiner Sicht zu kurz, und ich bin froh, dass Bruckner seine Werke trotz auch dieser Kritik schrieb, wie er sie schrieb.


    Zwar hat es für Bruckner vom harmonisch-Stilistischen und der Instrumentation her ( die atmosphärischen Anfangsstreicher etwa) eindeutig gewisse wagnersche Inspirationen gegeben, aber es geht ihm in seinen Symphonien um etwas ganz Anderes, als die Prinzipienübertragung des wagnerschen Musikdramas auf die Symphonie. Ich meine hiermit die eigentlichen künstlerischen Aussagen, jene Wahrheiten, die Bruckner sucht und auch findet.


    Lieber Glockenton,


    ja natürlich. Aber da würde Hanslick, der "Formalist", einfach antworten: Solche Wahrheiten sind per se "außermusikalisch", was nur zählt, ist die "tönend bewegte Form". Wagners "unendliche Melodie" nannte er - das ist wirklich zum Brüllen, Witz hatte seine Polemik! - eine "knochenlose Ton-Molluske". (Bei Nietzsche gibt es eine ähnliche Parodie, der nannte sie "Unendlichkeit, ohne Melodie".) Was Bruckner von Wagner letztlich gelernt hat ist die formdynamische Kompositionsweise, die eben nicht mehr "architektonisch" ist, kein Periodensystem mehr entwickelt. Das nun galt Hanslick gerade wieder als die Auflösung der Form ins Formlose. Bei Brahms war es lustiger Weise so, dass er gerne in die Oper ging und sich Wagner dort mit viel Vergnügen anhören konnte. Das war für ihn, der Symphonien komponierte, einfach außerhalb des eigenen Fachs. Bruckner war dagegen für ihn ein Ärgernis, denn er komponierte Symphonien, ackerte also auf Brahms´ eigenem Feld, so wie Wagner Opern macht! Das ist natürlich ein hochspannendes Thema. Damals hat man ästhetische Auseinandersetzungen verbissen als Weltanschauungskriege geführt - davon können wir heute zum Glück absehen! :hello:


    Herzlich grüßend
    Holger

  • Aus meiner Sicht liegt das Hauptverdienst von Herrn Adorno darin, daß er und heute nicht mehr interessieren muß und es auch kaum mehr eine Veranlassung gibt ihn zu zitieren. Ihn mit Eduard Hanslick, dem ich diesen Thread gewidmet habe zu vergleichen grenzt schlicht an eine Beleidigung. Hanslicks Kritiken sind selten gehässig, und wenn gelegentlich doch, dann wohlbegründet. Er hart sich vermutlich - nein sogar sicher - nicht vorstellen können - in welche Richtung die Ästhetik dereinst abdriften würde. Zu seinen Lebzeiten waren seine Kritiken beinahe das Maß aller Dinge, umso heftiger die Kritik an seiner Person nach seinem Ableben, denn die Menschheit duldet in der Regel keine "unfehlbaren" "bedeutenden" Persönlichkeiten. Zuerst huldigt man ihnen, später bewirft man sie mit Dreck. Das ist der Lauf der Welt.


    Adorno hat ja nun eine breite Wirkung in der Musikwissenschaft, lieber Alfred. Nach wie vor unverzichtbar ist seine "Philosophie der neuen Musk", sein Mahler Buch (vielleicht sein genialstes und bedeutendstes), die Alban-Berg-Monographie und viele seiner philosophischen Texte zur Musik, wo er eben nicht ideologisiert. Womit ich persönlich nie etwas anfangen konnte ist sein Strawinsky-Buch und auch sein Wagner-Buch mag ich nicht. Wagner war ja nun auch Musikphilosoph - genau das übergeht Adorno komplett und drückt der Betrachtung seine eigene Philosophie auf. Bei Mahler ist genau das ungemein erhellend (die negative Dialektik), bei Wagner dagegen finde ich jede Menge Adorno-Vorurteile. Da hat er einfach nicht diese philosophische Qualität, die er haben kann.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Eigentlich sollte ich in diesem Thread Enthaltsamkeit üben, denn ich kenne Bruckners Musik zu wenig, um ein wirklich fundiertes Urteil über sie abgeben zu können. Aber der obige Beitrag von Glockenton (Nr.21)hat mich dazu gebracht, mich über meine Bedenken hinwegzusetzen, denn darin finden sich gedanklich höchst subtile und bedeutsame, das Wesen der Brucknerschen Musik treffende Äußerungen. Ich denke, Glockenton hat recht, wenn er feststellt: „...und eben darin irrte Hanslick doch nahezu fundamental, aus meiner Sicht, weil er mit einer solchen Aussage eben nicht weiter sah, als rein musikanalytisch bis zu den Noten, aber eben Bruckners eigentliche Intentionen offensichtlich verfehlte. Diese seine Kritik griff aus meiner Sicht zu kurz…“
    Hanslick ist – man stößt sich rasch daran, wenn man sich in seine Schriften einliest – auf bemerkenswerte Weise musiktheoretisch-ideologisch fixiert und darin borniert. An Bruckners Musik sieht er nichts anderes als die Anwendung des musiktheoretischen Konzepts von Wagner auf die Sinfonik. Was diese darüber hinaus noch an musikalisch-kompositorischer Aussage enthält, entgeht ihm.


    Typisch sein Urteil über Bruckners „Achte“ in der „Neuen freien Presse“ (23.12.1892):
    „Ein seltsames Gegenstück zu dieser Frucht Italiens (gemeint ist Verdis „Requiem“) brachten uns bald die Philharmoniker in einer ur- und neudeutschen Symphonie von Bruckner. Sie ist die Achte in der Reihe und seinen früheren in Form und Stimmung sehr ähnlich. Diese neueste hat mich, wie Alles, was ich von Bruckner´schen Symphonien kenne, in Einzelheiten interessiert, als Ganzes befremdet, ja abgestoßen. Die Eigenart dieser Werke besteht, um es mit Einem Wort zu bezeichnen, in der Übertragung von Wagners dramatischem Styl auf die Symphonie. Bruckner verfällt nicht nur alle Augenblicke in spezifisch Wagner´sche Wendungen, Effekte, Reminiszenzen – er scheint sogar gewisse Wagner´sche Stücke als Vorbild für seinen symphonischen Aufbau vor Augen zu haben. So namentlich das Vorspiel zu >Tristan und Isolde<“.
    Was Hanslick in seiner Fixiertheit auf den Kampf gegen die „Neudeutschen“, in deren Schublade er Bruckner ja ganz offensichtlich steckt, nicht sehen will, das ist, dass Bruckner mit seiner Ausrichtung auf die Symphonie als Gattung gegen deren musiktheoretische Maximen verstößt. Denn für die Neudeuschen war die Symphonie aus gleich zwei Gründen als Gattung überholt: Sie war in das Musikdrama überführt und damit als Gattung damit gegenstandslos geworden, und sie stand als „absolute Musik“ infolge ihrer mangelnden Ausrichtung auf Begriff und Text im Verruf, nicht zukunftsweisend zu sein, wie es die Symphonischen Dichtungen Liszts für die Neudeutschen per se waren.


    Womit ich beim Verhältnis Bruckner-Brahms wäre, auf das Glockenton ebenfalls in – wie ich finde – treffender Weise eingeht. Wenn er feststellt: „Die Berichte über die Beerdigung Bruckners scheinen übrigens nahezulegen, dass Brahms den Bruckner vielleicht doch nicht so abgelehnt hat, wie man es manchmal so annimmt.“…
    … so würde ich ihm darin voll zustimmen. Brahms und Bruckner standen sich als Komponisten in ihrer Grundintention, der Ausrichtung ihres kompositorischen Schaffens auf die Symphonie nämlich (die bei Brahms freilich nicht dominant war) durchaus nahe. Die historische Quellenlage zeigt recht deutlich, dass ihre „Gegnerschaft“ im 20. Jahrhundert aus einem Wienerisch-lokalen Konflikt zu einem kompositorischen und musikheoretischen Dualismus hochstilisiert wurde. Brahms störte sich zweifellos an der Musik Bruckners, die für ihn einen eklatanten Mangel an motivischer und thematischer Arbeit aufwies. Und er ärgerte sich über die Unbekümmertheit, ja Naivität, mit der sich Bruckner der Gattung „Symphonie“ zuwandte. Der Musikologe Peter Gülke hat das mal so formuliert: Bruckner schien für Brahms nichts zu wissen von der Problematik, „derentwegen die Komposition einer Symphonie zunehmend identisch wurde mit ihrer Verabschiedung“.


    Ach ja, zum Schluss noch eine Anmerkung zu der Bemerkung von Glockenton, Johannes Brahms betreffend: „Ihm persönlich näher zu kommen, war eine fast unmögliche Sache, natürlich nicht für Clara Schumann....“
    Ja, es war wirklich eine „unmögliche Sache“, Brahms als Menschen wirklich „näher zu kommen“. Aber auch Clara Schumann ist das nicht wirklich gelungen. Der Briefwechsel zwischen beiden lässt das recht deutlich erkennen. Max Kalbeck gegenüber bekannte Clara Schumann einmal, Brahms sei ihr eigentlich immer noch so rätselhaft und fremd, wie er ihr vor fünfundzwanzig Jahren gewesen sei.
    Brahms hat sich sein Leben lang mit einer Art Schutzpanzer umgeben, dahinter seine hochgradige Sensibilität und Verletzlichkeit verbergend. Aber er ist hier nicht Thema, und deshalb verabschiede ich mich.


    (Zu den "Watschen" die Theodor W. Adorno hier im Forum immer wieder mal verabreicht werden, könnte ich - in meiner Betroffenheit als sein studentischer Schüler und lebenslanger Leser und Studierer seiner Schriften - zwar auch einiges sagen, - will aber nicht, weil es wohl nichts bringen dürfte.)

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  • Ich finde, man sollte, wenn man Hanslicks Urteil über Bruckner "borniert" nennt, den Zeitkontext berücksichtigen. Bruckner hatte es zu seiner Zeit generell schwer, verstanden zu werden. Also nicht nur Hanslick hatte solche Verständnisprobleme. Bruckner saß halt zwischen allen Stühlen. Und im Zeitkontext ist dann Hanslick eben doch bemerkenswert, dass er trotz seiner dogmatischen Position in der Lage war, das, was er ablehnte, Wagners Kompositionsweise und Ästhetik nämlich, in seiner Neuartigkeit erstaunlich präzise zu begreifen. Hanslicks eigene Position ist zu seiner Zeit sozusagen "Avantgarde", weil er sich sowohl gegen metaphysische Romantik als auch gegen ein rhetorisches Musikverständnis wehrt und erstmals versucht, Musikästhetik wissenschaftlich zu begründen. Und gerade das ist im Falle Bruckner ungemein schwer, ihn eben nicht nur als Romantiker und Metaphysiker zu nehmen oder nur als Wirkungsrhetoriker. Dass Bruckner die Prinzipien Wagners auf das Symphonische übertragen hat, ist ja nun schlicht richtig - das bestätigt auch die Bruckner-Forschung. Nur das als ein eigenständiges Formprinzip zu begreifen, dazu fehlte Hanslick nicht zuletzt das analytische Rüstzeug. Bezeichnend geben noch bei einem Hugo Riemann Beethovens Klaviersonaten das Modell für die Formbildung ab - also musikalische Form wird verstanden als Architektur. Auch daran sieht man, wie schwer man es in der Zeit von Hanslick hatte, diese so gar nicht architektonische Dynamik bei Bruckner eben nicht nur als Wirkungsrhetorik, sondern als Formprinzip, zu begreifen. Ein Sergui Celibidache, unzweifelhaft einer der bedeutendsten Bruckner-Interpreten, interessiert sich übrigens für die "metaphysische" Seite von Bruckner genau so wenig wie Hanslick, sondern nimmt Bruckner als "absolute Musik" ohne jede Programmatik. So kann man also Bruckner durchaus gerecht werden.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Lieber Holger,


    Ein Sergui Celibidache, unzweifelhaft einer der bedeutendsten Bruckner-Interpreten, interessiert sich übrigens für die "metaphysische" Seite von Bruckner genau so wenig wie Hanslick, sondern nimmt Bruckner als "absolute Musik" ohne jede Programmatik. So kann man also Bruckner durchaus gerecht werden.


    hier fürchte ich, nicht wirklich zustimmen zu können.


    Ich hatte ja hier ein Video gepostet, in dem Celibidache seine Philosophie über Musik generell erläutert. Er beginnt mit anderen Komponisten, aber er ist kommt dann doch recht bald zu seinem eigentlichen Thema, nämlich Bruckner. Aus meiner Sicht ist Celis musikphilosophischer Ansatz vor allem mit Bruckner verknüpft, bzw. ohne Bruckner wäre er m.E. nicht jener phantastische Musiker und Denker geworden, den wir kennen.


    Falls Du es nicht gesehen hast: Der Einfachheit halber poste ich es hier noch einmal:



    Selbstverständlich sind Bruckners Symphonien keine Programm-Musik, d.h. sie beziehen sich nicht etwa auf eine konkrete Szene, wie es z.B. bei Vivaldis "Vier Jahreszeiten" oder in theatralischer Form bei Wagner finden. Auch für die Brahms-Symphonien muss man jeden programmatischen Bezug ausschließen.


    Dennoch: Diese Musik ist doch so viel mehr, als nur die Durcharbeitung von Themen und die an eine Architektur erinnernde Darstellung von Formen. Durch die "Beschränkung" auf das Allgemeine, können in der Seele des die Musiksprache verstehenden und nachempfindenden Hörers nahezu alle möglichen Assoziationen/Verknüpfungen hochkommen.


    Bei Beethovens berühmten Kopfsatz der Fünften (eine sehr rhetorische Musik) etwa kam mir neulich die Assoziation einer wuchtigen Wutrede.
    Da ist jemand, der seine Wut, seine angestaute Verzweiflung einfach einmal rauslassen wollte. Der Schluss des Satzes kann einen an die berühmte Trapattoni-PK erinnern: "Ich habe fertig!!"
    Selbstverständlich sind das nur unzureichende Verknüpfungen, denn in Beethovens Musik wird so viel mehr und viel konkreter und konzentrierter ausgesagt. Eben weil er - bis auf die Sechste - irgendwie dauert zu appellieren scheint (auch in seinen langsamen Sätzen, da hebt er m.E. deutlich humanistische Ideale hoch), braucht der ein oder andere Hörer mitunter eine Beethovenpause....;-)


    Bruckner ist da völlig anders, in dem was er will, und ja, er will auch etwas. Aber damit, dass er überhaupt etwas ausdrücken will, unterscheidet er sich wieder nicht von Beethoven.
    Nur weil eine ein-eindeutige musikwissenschaftliche Beweisführung ziemlich schwer bis unmöglich wird, ist es doch eine tragische Verkürzung, ein sich freiwilliges Blindmachen, wenn man sagt: "ok, wenn man es nicht beweisen kann, dann lassen wir so etwas von vornherein unter den Tisch fallen".
    Die Ansicht, dass absolute Musik nichts als ihre Noten sagt, finde ich sehr falsch.
    Im Gegenteil: Weil sie eben nicht an ein konkretes Frühlingsgedicht (Vivaldi der Frühling) oder etwa eine Rheinszene (Vorspiel Rheingold/Wagner) gebunden ist, kann sie noch viel mehr sein, noch mehr wollen und enorm viel sagen und bedeuten.
    Nur auf die Form zu schauen, oder sich sachlich kühl an die funktionsharmonische Analyse zu halten, führt eben genau zu jener hochgebildeten Blindheit, die vor lauter Spezialistentum und Fachwissen den eigentlichen Kern in bestimmten Fällen gänzlich verfehlen kann.
    Nichts gegen die formale und funktionsharmonische Analyse. Ich liebe es zu verstehen, was dort im Einzelnen gemacht wurde, und vor allem wie es gemacht wurde. Dadurch kann ich meine eigene Musiksprache sukzessive um Vokabeln, Redewendungen und Ausdrucksmöglichkeiten erweitern. Aber ich muss ja auch den tieferen Sinn der Tonsetzerei möglichst in jedem Takt versuchen zu verstehen.
    Wenn es nichts zu sagen hat außer irgendeinen formal-architektonischen Aufbau zu zeigen, dann wäre es eine Zeitverschwendung.


    Man könnte die deutsche Sprache lernen, und wissen, dass die Veilchen eine Blumenart sind und ein Traum durch bestimmte elektrische Regenerationsströme im Gehirn während des Schlafes phasenweise ausgelöst wird. Aber hätte man damit den Satz "Veilchen träumen schon" auch nur im Ansatz verstanden? Nein, wie ich finde.


    Eine gotische Kirche ist ja auch nicht dazu da, dass sie die Kunst einer Architektur zeigen will, sondern sie will ein materiell gewordenes Gotteslob sein, sozusagen eine Transzendenz räumlich-materiell ermöglichen. Wer in so einer Kirche sitzt (und dann kommen im Idealfall noch die anderen Künste wie Bildhauerei, Malerei, Rhetorik und Musik hinzu), der soll in eine andere Zeitdimension, in eine andere Erfahrungswelt geführt werden. Die Erfahrung der Gottesnähe soll ihm im Idealfall erleichtert werden.


    Eine ähnlich transzendierende Aufgabe scheint mir Bruckner seinen Noten gegeben zu haben, die er in die Partituren seiner Symphonien schrieb.
    Wenn man Celis Aussagen über Bruckner zusammenfasst (auch aus den Proben) dann kann man wohl klar sagen dürfen, dass er der Auffassung war, dass die Strukturen und die Schönheiten in der Musik sozusagen ein Lockmittel darstellen, um dem Hörer zu ermöglichen, zur Wahrheit, zum Kern der Aussage vorzudringen, ihn berühren zu können.
    Hier wird vibrierende Energie spürbar, und die Suche danach drückt sich schon dadurch aus, dass viele Sätze mit dem typischen Bruckner-Tremolo anfangen, was - wie ich schon früher im Sinne Celis anführte - kein normales Erregungstremolo ist, sondern eben eine konzentrierte Basis für den Rest der zu erwartenden Aussagen. In diesem Konzentrat ist das zu Sagende und das Ende bereits enthalten, nur in noch nicht aufgedeckter Form.
    Hier gibt es - man wird es beim Lesen spüren - starke Anklänge an den für Bruckner so wichtigen katholischen Glauben, die ich hier nicht weiter ausführen will. Wichtig ist, dass es diese Wahrheit gibt. Wer nach einer solchen Symphonie sagt "ach, war das schön" der ist bei der äußeren Schönheit stehengeblieben (immerhin weitergekommen als nur beim formalen Verständnis...) ohne zur eigentlichen Aussagen vorzudringen.
    Ein Interpret soll dem Hörer solche Erfahrungen ermöglichen und nicht verunmöglichen. Beim späten Celibidache ist das in der Tat erfahrbar, aber es ist auch eine Frage der eigenen Konstitution.


    Zudem ist ja gerade Bruckners Vierte voll von "romantisch" anmutenden Assoziationen, also Horn-Signale wie von einer Burg kommend, eine Pilger-Prozession (Satz 2) mit lichtdurchfluteten Offenbarungen und demütigenden Erfahrungen von Ohnmacht, Leiden, Schwachheit und Tod.
    Der dritte Satz wiederum erinnert mit seinen Hornmotiven an die Jagd, während das Trio dieses Satzes für mich wie eine sonnige Lichtung in den österreichischen Alpen klingt.
    Das alles ist nicht naturwissenschaftlich beweisbar, und die Vergleiche sind zu niedrig. zu unzureichend, eben weil die Musik Höheres sagen kann, als die Sprache. Die wahre Musik (da haben wir sie wieder, die Wahrheit) kann das Unsagbare sagen und verstummt da nicht, wo die Sprache keine Worte mehr findet.



    Wenn man sich nun in diesem Sinne Wagners Zielsetzung und seine Art und Weise, eine musikalische Seele zu bewegen (oder sagen wir besser, ihr fast schon eine rauschhafte Gewalt anzutun) anschaut und Bruckners nonverbalen Aussagen gegenüberstellt, dann könnte es verschiedenartiger nicht sein.
    Wer da nur bestimmte harmonische Anklänge oder formale Dinge zur Kenntnis nehmen will, der bleibt am allzu Sichtbaren und Analytischen stehen. Bruckner hat sich bei Wagner sicherlich Inspirationen geholt, aber damit etwas fundamental Anderes gemacht - und hier rede ich nicht von Gattungen.
    Man könnte ein Bild von Caspar David-Friedrich nehmen, und eine korrekte chemische Analyse durchführen, vielleicht auch noch aufzeigen, was für Farben und mit welcher Maltechnik der Meister arbeitete. Man könnte sogar eine stilistische Analyse machen, mit anderen Malern vergleichen - aber hätte man damit irgendetwas von dem verstanden, wozu uns so eine Meisterwerk eigentlich bewegen will? Wohl weniger, möchte ich annehmen.
    Da muss man dann schon über die Todessymbolik, über das Elend des Diesseits und über das verheißende Paradies sprechen, und nicht nur "hier wird ein Baum in ziemlich realistischer Weise dargestellt".


    Ähnlich ist es auch bei Brahms: Man wird ihm nicht gerecht, wenn man nur seine kurzthematischen Zellen-Entwicklungen (etwa Vierte Symphonie, Satz 1) analysiert, so gut und richtig das auch ist. Wahr ist nämlich auch, dass seine Themen (ob kurz oder länger) verschiedene Metamorphosen durchlaufen (durch klassische musikalische Mittel) und damit eigentlich aus der Tiefe seiner vielschichtigen Seele erzählen. Er wurde einmal darauf angesprochen, dass er verschlossen sei und nichts von sich erzähle. Seine Antwort: "Ich spreche durch meine Musik". Und wie er das tat! Da ist also auch mehr gewesen als nur Noten und Architektur. Das Schöne an solch absoluter Musik ist ja, dass man mehr heraushören kann, als nur einen konkreten Umstand.
    Für mich etwas ist der Anfang der Vierten von Brahms ein Ausdruck tiefsinniger Altersweisheit.


    Wie gesagt, ich kann Hanslicks Fachkompetenz in vielen Bereichen schätzen, auch seine kreativen Sprachschöpfungen in gewisser Weise bewundern. Doch sein Herunterschreiben Bruckners halte ich nicht nur inhaltlich, sondern auch menschlich für nicht in Ordnung.
    Wer bei ihm in Ungnade viel, der hatte es anschließend nicht so leicht.
    Ich gebe zu, es ist ein gewagter Vergleich, aber in einem Punkt (nur in dem einen) passt er etwas: Wer sich heute als Prominenter mit der BILD überwirft, der bekommt möglicherweise in Deutschland kein Bein mehr auf die Erde, selbst wenn er das höchste Staatsamt bekleidet.
    Wer damals als Komponist vom Hanslick heruntergeschrieben wurde, der spürte dann auch einen nicht unbeträchtlichen Gegenwind.
    Schade, es hätte gar nicht sein müssen.


    Gruß
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Dennoch: Diese Musik ist doch so viel mehr, als nur die Durcharbeitung von Themen und die an eine Architektur erinnernde Darstellung von Formen. Durch die "Beschränkung" auf das Allgemeine, können in der Seele des die Musiksprache verstehenden und nachempfindenden Hörers nahezu alle möglichen Assoziationen/Verknüpfungen hochkommen.

    Lieber Glockenton,


    herzlichen Dank für Deinen wie immer sehr geistvollen Beitrag! Ich habe das oben mal herausgegriffen, was Du schreibst, weil man damit sehr schön zeigen kann, worum es Hanslick ging. Hanslick war - und deshalb ist er für mich so wichtig - im Grunde der erste "Phänomenologe" unter den Musiktheoretikern. Er würde Dir hier antworten: Zum musikalischen Erlebnis gehört all das, was Du schreibst: die Assoziationen, die Projektionen an "Bedeutung", die wir in die Musik hineinlegen. Nur ist solches eben nicht das, was das musikalische Erlebnis zu einem ästhetischen Erlebnis macht. Ästhetisch verhalten wir uns zur Musik nur dann, wenn wir nicht nur assoziieren und projizieren, sondern allein das erfassen, was in den Tönen selbst gegeben ist, also auch tatsächlich "gehört" wird. Denn alles Andere ist letztlich subjektiv willkürlich, nur das, was sich in den Tönen tatsächlich "darstellt", ist der ästhetische Kern des musikalischen Erlebnisses. Das ist dann die Trennung von Musikalischem und Außermusikalischem bei Hanslick. Er würde Dir antworten als "phänomenologischer" Ästhetiker: Wenn Du so denkst, begehst Du den Fehler des "Psychologismus", d.h. Du verwechselst das Ästhetische und "Objektive" des musikalischen Erlebnisses mit dem nur Subjektiven.


    Hanslick in Zitaten, wo er das zum Ausdruck bringt:


    ,,In der Tonkunst gibt's keine ,.Intention" in dem beliebten technischen Sinne. Was nicht zur Erscheinung kommt, ist in der Musik nicht da. Was aber zur Erscheinung gekommen ist, hat aufgehört, bloße Intention zu sein."


    ,,Musik spricht nicht blos durch Töne, sie spricht auch nur Töne." ,.Die Musik besteht aus Tonreihen, Tonformen, diese haben keinen andern Inhalt als sich selbst."


    Hanslicks Rigorismus ist natürlich intuitiv betrachtet falsch, aber eben unglaublich schwer zu widerlegen, weil seine (meist als Behauptung von Gefühllosigkeit des "Formalismus" mißverstandene) Grundthese ist: Musik kann keine Gefühle ausdrücken, statt dessen nur reichhaltigste Gefühlswirkungen in uns auslösen. Gefühle (also "Ausdruck" und die sich damit verknüpfende "Bedeutung") sind demnach nur psychologisch, aber niemals ästhetisch relevant, weil sich Gefühle in den Tönen nicht "darstellen", sondern nur mit ihnen äußerlich assoziiert werden ("die Rose kann duften, aber man kann den Duft der Rose nicht darstellen" - kommentiert das Hanslick). Und das alles hat Hanslick verdammt gut begründet! Als Phänomenologe muß ich also gegen Hanslick zeigen, dass auch subjektiver Ausdruck und Bedeutung "in den Tönen" liegt, zum "Selbstgegebenen" des musikalisch-ästhetischen Erlebnisses gehört. Das ist nun leider, leider haarsträubend schwer - dazu muß man sich nämlich mit den ganzen "psychologistischen" Fallen der Einfühlungstheorie herumschlagen. Und dazu habe ich dann ein ganzen Buch geschrieben! :D


    Es ist nun interessant, dass es auch auf der "formalistischen" Position von Hanslick möglich ist, ein Bruckner-Verehrer zu werden. Beides war nämlich August Halm - ein strikter Verfechter der ästhetischen Prinzipien von Hanslick und zugleich Bruckner-Enthusiast. Halms These ist, dass es "zwei Kulturen" der Musik gibt - Bach und Beethoven - deren Synthese sich dann bei Bruckner findet.


    Einen schönen Sonntag wünscht
    Holger

  • Das ist schwere Kost, ich werde mir das ausdrucken, damit ich darüber nachdenken kann. Nur eine kleine philosophische Frage fällt mir jetzt schon dazu ein: Erzeugt ein umstürzender Baum im Wald ein Geräusch, auch wenn kein Mensch in der Nähe ist?

    Schönheit lässt sich gerne lieben...

    (Andreas Hammerschmidt,1611-1675)

  • Das ist schwere Kost, ich werde mir das ausdrucken, damit ich darüber nachdenken kann.

    Das finde ich nun wiederum gar nicht. Und Deine Aussage »Durch die ›Beschränkung‹ auf das Allgemeine, können in der Seele des die Musiksprache verstehenden und nachempfindenden Hörers nahezu alle möglichen Assoziationen/Verknüpfungen hochkommen« liest sich für mich doch geradezu wie ein Beleg für das, was Holger geschrieben hat. Wenn im Hörer »nahezu alle möglichen Assoziationen/Verknüpfungen hochkommen« dürfen, dann liegt es doch an mir als Hörer und ist nicht in der Musik festgeschrieben, was ich empfinde. Und das sagt mir ja auch meine eigene Erfahrung, dass ich ein- und dasselbe Musikstück zu unterschiedlichen Zeiten, in unterschiedlichen Stimmungen, mit unterschiedlichen Erfahrungen, die ich gemacht habe, ganz anders empfinden kann.



    Nur eine kleine philosophische Frage fällt mir jetzt schon dazu ein: Erzeugt ein umstürzender Baum im Wald ein Geräusch, auch wenn kein Mensch in der Nähe ist?

    Ja natürlich. Und man könnte ein Mikrophon aufstellen und das Geräusch aufzeichnen. Aber das weißt Du selbst und mit der Frage möchtest Du auf etwas anderes hinaus. Aber auf was?

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