ZitatOriginal von Johannes Roehl
Boulez hat praktisch alle Werke von Bartok häufig dirigiert und die meisten sogar zweimal eingespielt. (und sogar ein paar Sachen von Strauss)
Boulez hat sogar mehrfach seine Wertschätzung für Strauss bekundet, u.a. in einem Radio-Interview, das ich letztes Jahr gehört habe und in dem er Bewunderung für den Rosenkavalier äußerte. Wir wissen jetzt alle, dass das mehr über Boulez als über Strauss aussagt, aber ich wollte es doch mal angemerkt haben...
ZitatAllerdings kein Vergleich mit der "Wende" Strauss' nach Elektra. Gibt es denn hierzu irgendwelche biographischen oder sonstigen Erkenntnisse? Gewiß haben im 20. Jhd. viele Komponisten stilistische Wandlungen durchgemacht, aber ein derart deutliches Zurückschrecken vor der eigenen Courage scheint mir in der gesamten Musikgeschichte fast einzigartig.
Innerhalb von wenigen Jahren vom (Beinahe)Avantgardisten zum (Beinahe)Reaktionär...
Es gibt mehrere Erklärungsversuche:
1. Strauss selbst hat m.W. geäußert, er könne es seelisch nicht mehr ertragen ein Werk wie Elektra zu komponieren - das führe ihn an seine psychischen Grenzen (sinngemäß wiedergegeben, ich müsste das Zitat raussuchen). Solche Selbstinterpretationen von Künstlern sind bekanntlich mit höchster Vorsicht zu genießen, aber es besteht die Möglichkeit, dass diese Form "identifikatorischen" Komponierens Strauss eigentlich nicht lag (vgl. dazu Punkt 4). Als Hofmannsthal 1912 Strauss während der Komposition an der Josephslegende dazu bringen wollte, das Werk nicht im hier völlig unpassenden "gebrochenen" Stil der etwa zeitgleichen Ariadne zu komponieren, sondern im Stil der Elektra, weigerte sich Strauss energisch, noch einmal zu diesem Idiom zurückzukehren.
2. Opportunismus. Strauss habe gemerkt, dass Elektra - wiewohl kein Reinfall - beim Publikum nicht unbedingt Begeisterung auslöste und sei deshalb zurückgerudert. Der Erfolg des Rosenkavalier, u.a. in Form der berühmt-berüchtigten Sonderzüge von Berlin nach Dresden, habe ihn bestätigt. Diese Hypothese ist nicht völlig von der Hand zu weisen, greift aber m.E. zu kurz.
3. Strauss habe nach Elektra nur zwei Alternativen gehabt: Entweder das konsequente Weitergehen auf dem eingeschlagenen Weg und somit die Aufgabe der Tonalität, oder den Rollback (= Rosenkavalier). Strauss wählte den Rollback (aus Angst vor der eigenen Courage, aus Opportunismus und/oder weil seine Kompositionstechnik grundsätzlich nur auf dem Boden der Tonalität funktionierte). Das war früher im Rahmen des teleologischen Musikdenkens eine beliebte Erklärung, lässt aber außer Acht, dass Strauss ja durchaus einen mittleren Weg hätte einschlagen können: etwa als weiteres Ausloten einer grundsätzlich tonalen Form der expressionistischen Oper, wie z.B. von Schreker praktiziert.
4. "Postmodernes" Maskenspiel in mehr oder weniger reflektierter Form. Vgl. etwa die Strauss-Monographie von Michael Walter oder Aussagen von Giuseppe Sinopoli (Strauss ist ein Postmoderner. Er verwendet das tonale Material wie ein historisches Objekt, das aber, wenn man es in die Hand nimmt, etwas ausstrahlt in unsere Zeit.). Man darf dabei nicht vergessen, dass Strauss in seiner ganz frühen Zeit schonmal eine "Wende" hingelegt hatte - vom Wagnerhasser und neoklassizistischen Komponisten des Orchesterwerks Aus Italien zum Wagnerianer. Auch manches in Strauss' verbalen bzw. schriftlichen Äußerungen zur Musikgeschichte weist in diese Richtung: etwa sein vehementer Einsatz für die seinerzeit als zynisch geschmähte Oper Così fan tutte oder sein ungewöhnliches Interesse an der Opera seria des 18. Jahrhunderts (möglicherweise auch sein Dirigierstil). Dazu der totale Eskapismus vieler seiner späten Werke (man denke nur an das im Zweiten Weltkrieg komponierte Capriccio, ein selbstreflexives Glasperlenspiel über die Geschichte der Gattung Oper). Das ging ja schließlich soweit, dass Strauss fast nur noch in Dur komponierte und Molltonarten mied wie der Teufel das Weihwasser. Vor diesem Hintergrund muss man dann die bekannten Spätwerke wie die Metamorphosen oder die Vier letzten Lieder sehen, bei denen man den Eindruck hat - zu Recht oder zu Unrecht - es breche etwas "Authentisches" aus dem Komponisten Strauss hervor.
Was nun zutrifft - möglicherweise eine Mischung aus allen Punkten - lasse ich mal dahingestellt. Mir geht es nicht um die Frage, ob Strauss ein "guter", ein "hervorragender" oder gar "der beste" Komponist gewesen sei - oder ein "überschätzter" bzw. "schlechter". Ich finde Strauss in seinem Schwanken zwischen konventionellem Bürgerkünstler-Gebaren und dann wieder gänzlich un-abendländischer, anti-pathetischer, wurschtig-unintellektueller und chamäleonhafter Attitüde einfach interessant - musiksoziologisch wie kompositorisch.
Viele Grüße
Bernd