Nicht daß ein Engel eintrat (das erkenn),
erschreckte sie. Sowenig andre, wenn
ein Sonnenstrahl oder der Mond bei Nacht
in ihrem Zimmer sich zu schaffen macht,
auffahren -, pflegte sie an der Gestalt,
in der ein Engel ging, sich zu entrüsten;
sie ahnte kaum, daß dieser Aufenthalt
mühsam für Engel ist. (O wenn wir wüßten,
wie rein sie war. Hat eine Hirschkuh nicht,
die, liegend, einmal sie im Wald eräugte,
sich so in sie versehn, daß sich in ihr,
ganz ohne Paarigen, das Einhorn zeugte,
das Tier aus Licht, das reine Tier -.)
Nicht, daß er eintrat, aber daß er dicht,
der Engel, eines Jünglings Angesicht
so zu ihr neigte; daß sein Blick und der,
mit dem sie aufsah, so zusammenschlugen
als wäre draußen plötzlich alles leer
und, was Millionen schauten, trieben, trugen,
hineingedrängt in sie: nur sie und er;
Schaun und Geschautes, Aug und Augenweide
sonst nirgends als an dieser Stelle -: sieh,
dieses erschreckt. Und sie erschraken beide.
Dann sang der Engel seine Melodie.
Hindemith hat bei der Neufassung der Lieder dieses Zyklus unterschiedlich starke Veränderungen an der Faktur vorgenommen. Beim ersten Lied waren es nur sehr wenige, hier aber, bei „Mariae Verkündigung“ kann man fast von einer Neukomposition sprechen. Darauf kann hier nicht eingegangen werden. Es ist aber wohl sinnvoll, aus dem Kommentar zu zitieren, den er selbst dazu gegeben hat, weil das erkennen lässt, welche musikalische Aussage-Intention er mit diesem Lied verfolgte:
„Der psychologisch wichtige Moment gegenseitigen Verstehens, wo im Text von >Nicht, daß er eintrat< bis >Und sie erschraken beide< das Ineinanderdringen himmlischer und irdischer Hingabe seinen Ausdruck findet, durfte keinesfalls mehr einer in der ersten Fassung durch gespannte Vorhalt-Auflösungsharmonien zu fast hysterischer Aufregung neigenden zügellösen Komponierlust anheimfallen, ihm mußte seiner geistigen, poetischen und formalen Wichtigkeit entsprechend ein in sich geschlossenes Formstück zugewiesen werden, das durch den ihm aufspringenden metrischen Drang im Hörer ein ähnliches Pulsieren seines Herzens anzuregen vermag.“
Und das ist in dieser Liedkomposition ja auch gegeben. Sie ist dreiteilig angelegt, mit dem Vers vierzehn („Nicht, daß er eintrat…“) nimmt die Liedmusik einen deutlich ausgeprägt anderen klanglichen Charakter an, mit dem langen Zwischenspiel, das den Worten „Und sie erschraken beide“ folgt, kehrt sie aber wieder zu ihrem Anfangston zurück. Die liedkompositorische Größe des Liedes gründet, ebenso wie die klangliche Faszination, die von ihm ausgeht, in eben dieser inneren Gliederung: Beinhaltet sie doch den Einbruch tiefer Erschütterung in den Raum sakraler Ruhe, wie ihn die mystische Vereinigung des Engels mit Maria im Blick mit sich bringt.
Das relativ lange (20 Takte) Vorspiel setzt mit einer klanglichen Figur ein, die sich alsbald als musikalisches Schlüsselmotiv des Liedes erweist, denn sie ist durchgehender Bestandteil des Klaviersatzes im ersten und dritten Teil des Liedes, und das Nachspiel, das erklingt, nachdem die Singstimme die Worte „Dann sang der Engel seine Melodie“ deklamiert hat, enthüllt ihr Wesen: Es ist die musikalische Evokation des Engel-Gesangs. Das aber bedeutet: Das mystische Ereignis der Begegnung von Maria mit dem Engel bildet nicht nur das Zentrum des Liedes, es ist von Anfang an gegenwärtig und verleiht allen musikalischen Aussagen ihre ganz spezifische Bedeutsamkeit. Das Motiv besteht aus einer Kombination aus Sekund- und Terzsprung von Achteln, der über einen Terzfall in ein punktiertes Viertel mündet. Im Vorspiel ereignet sich das parallel in Bass und Diskant, in oktavischer Gestalt also, und gewinnt dadurch ein starkes klangliches Gewicht. Auch später geht diese Figur da und dort noch einmal in diese Gestalt über, vor allem im Nachspiel ist das dann der Fall, ansonsten aber ist sie auf die Abfolge von Einzeltönen reduziert.
Aus diesen Figuren schält sich im Vorspiel eine Folge von Oktaven heraus, die in ihrer Abfolge eine melodische Linie skizzieren. Bevor die melodische Linie der Singstimme auftaktig einsetzt, ereignet sich im Klaviersatz eine Art klangliche Eröffnung: Zweistimmige Akkorde steigen in Diskant auf- und im Bass abwärts und erweitern sich dabei zu dreistimmigen. Die melodische Linie ist anfänglich in ihrer Struktur ganz vom wenig lyrischen, eher narrativen Gestus der Verse geprägt. Sie wirkt, als wäre sie ganz und gar in die in ihrer oktavischen Form klanglich stark dominante Folge der Hauptfigur eingebettet, mit der das Klavier sie begleitet und trägt. Aber schon hier zeichnet sich ab, wie die Liedmusik reagiert, wenn der lyrische Text auf den Engel zu sprechen kommt: Die melodische Linie löst sich von ihrem deklamatorischen Verharren in mittlerer tonale Lage und geht, nun in stärker akzentuierter Deklamation zu größere tonale Räume übergreifenden Bewegungen über, die in Dehnungen in hoher Lage münden, und das Klavier lässt von der Artikulation seiner Hauptfigur ab und lässt lang gehaltene mehrstimmige Akkorde erklingen. So bei den Worten „pflegte sie an der Gestalt, in der ein Engel ging, sich zu entrüsten.“ Und bei den nachfolgenden Worten „sie ahnte kaum, daß dieser Aufenthalt mühsam für Engel ist“ beschreibt die melodische Linie eine aus tiefer Lage sich über eine Dezime nach oben erstreckende Bogenbewegung, die am Ende ist eine Dehnung auf einem hohen „Dis“ mündet, die über zwei Takte gehalten wird.
Eine ganz eigene Gestalt nimmt die Liedmusik bei den Versen an, die um das Bild von der „Hirschkuh“ kreisen und von Rilke in Klammer gesetzt wurden. Sie ist in kleinere Melodiezeilen gegliedert, die sich an der Syntax orientieren und durch Viertelpausen voneinander abgegrenzt sind. Während die Singstimme deklamiert, schweigt das Klavier entweder, oder es lässt lang gehaltene, Bass und Diskant übergreifende vierstimmige Akkorde erklingen. In den Pausen aber artikuliert es sein musikalisches Hauptmotiv in oktavischer Gestalt, und dieses wirkt wie ein Echo auf die melodische Linie. Mit einem Mal bemerkt man, dass diese am Ende der einzelnen Zeilen ebenfalls in die Struktur dieser Figur übergegangen ist. Nur bei den beiden letzten Melodiezeilen ist dies anders. Bei den Worten „daß sich in ihr, ganz ohne Paarigen, das Einhorn zeugte“ bewegt sie sich zunächst nur auf zwei tonalen Ebenen und geht dann am Ende, bei dem Wort „Einhorn“, zu einem Sprung in hohe Lage mit Dehnung und nachfolgender Fallbewegung über. Das Klavier begleitet hier mit einem nur einmal angeschlagenen vierstimmigen Akkord, der über vier Takte langsam verklingt. Auch die letzte Melodiezeile verleiht dem Einhorn einen starken musikalischen Akzent. Wieder ereignet sich, über gehaltenen Akkorden im Klavier, eine Sprungbewegung in nun noch höhere Lage, und aus der dortigen Dehnung erfolgt ein wiederum gedehnter Quartfall.
Überraschend ist der Umschlag der Liedmusik in lebhafte Bewegtheit, die sich nun auf der Grundlage eines Dreihalbe-Taktes statt der bisherigen sechs Achtel entfaltet. Überraschend deshalb, weil er nicht mit der Deklamation der Worte „Nicht, daß er eintrat…“ erfolgt, sondern aus dem gedehnten Sekundsprung den die melodische Linie am Ende bei den Worten „das reine Tier“ beschreibt. Das hohe „E“ auf dem Wort „Tier“ wird forte deklamiert, und im selben Augenblick geht das Klavier, ebenfalls forte, zur Artikulation einer nach oben steigenden Folge von Oktaven über, die sich zu dreistimmigen Akkorden erweitern und im Bass von repetierenden Oktaven, Septen und Quinten begleitet werden. Zwei Takte lang ergeht sich das Klavier in dieser stürmisch anmutenden, dabei durch den Wechsel von Achtel- und Viertelnoten markant rhythmisierten Klanglichkeit, bevor die Singstimme dann zur – ebenfalls lebhaften – Deklamation der melodischen Linie übergeht, die auf den Versen mit dem zentralen Ereignis der Begegnung Marias mit dem Engel liegt. Dieser unvermittelte Übergang der Liedmusik aus der, die auf dem Bild vom „Einhorn“ liegt, zu diesem stürmischen Gestus will wohl so verstanden werden, dass die Begegnung mit dem Engel, von dem die Liedmusik nun spricht, einen Menschen betrifft, der rein ist wie das Einhorn, mit dem Maria im Christentum seit dem Physiologus symbolisch in Verbindung gebracht wird. Bemerkenswert ist ja doch, dass die melodische Linie auf den Worten „Nicht, daß er eintrat, aber daß er dicht, der Engel“ genau die Bewegung beschreibt, die die Akkorde des Zwischenspiels in ihrer Abfolge vorgaben.
Der mystischen Begegnung, bei der sich ja eigentlich um eine im Blick sich ereignende Vereinigung handelt, nähert sich die Liedmusik mit beeindruckender Behutsamkeit. Die Worte „daß sein Blick“ tragen eine eigene kleine Melodiezeile in Gestalt eines Quartsprungs und –falls. Es ist schließlich der Blick des Engels. Der Blick Marias, mit dem sie zu ihm „aufsah“ ist ein demütiger, ein empfangender. Und die melodische Linie reflektiert dies, indem sie bei dem Wort „aufsah“ eine Fallbewegung vorwiegend in Sekunden über das Intervall einer kleinen Sexte in tiefe Lage beschreibt. Das Wort „so“ trägt eine lange Dehnung in hoher Lage. Zu dem Wort „zusammenschlugen“ hin ereignet sich aber ein verminderter Quintfall, und erst danach steigt die melodische Linie wieder an. Das Klavier begleitet all das mit Achtelfiguren in Bass und Diskant, die häufig bogenförmig angelegt sind, also aus einem Aufstieg wieder in eine Fallbewegung übergehen. Hindemith nimmt diesen für seine Liedkomposition zentralen Vorgang als ein letztlich unbegreifliches Geschehen, bei dem sich die Liedmusik mit vorsichtig-deskriptiven Andeutungen begnügen muss.
Anders ist das, wenn es um das Verständnis dieses Vorgangs geht, seine theologische Interpretation, wie sie die Verse „und, was Millionen schauten, trieben, trugen, / hineingedrängt in sie: nur sie und er;“ zum Ausdruck bringen, Die melodische Linie beschreibt hier einen fast dramatisch anmutenden Aufstieg aus tiefer Lage in hohe, in den das Klavier am Ende mit einer im Bass nach oben drängenden Achtelkette einfällt. Bei den Worten „nur sie und er“ geht sie dann in zwei Dehnungen über, wobei die erste, die auf dem Wort „sie“ nur die Länge einer punktierten halben Note einnimmt, die auf dem Wort „er“ aber fast zwei Takt in Anspruch und forte vorgetragen wird. Das Klavier begleitet diese hochexpressive Passage des Liedes mit zweistimmigen Achtelakkord-Folgen im Diskant und permanent aus der Tiefe in mittlere Lagen emporschießenden Achtelketten.
Die Liedmusik auf den Versen 21 bis 23 („Schaun und Geschautes“) wirkt wie ein klanglich gewichtiger Kommentar zu dem, was sie gerade in ihrem Sich-Einlassen auf das lyrische Zentrum zum Ausdruck brachte. „Etwas breiter“ soll sie hier vorgetragen werden. Und in der Tat: Sie bewegt sich in deklamatorisch silbengetreu erfolgenden gewichtigen Schritten von halben und Viertelnoten. Auf dem Wort „Schaun“ liegt gar eine Dehnung in hoher Lage, die den ganzen Takt ausfüllt. Die Worte „Aug“, „Augenweide“ und „Stelle“ erhalten durch eine Dehnung in hoher Lage einen starken melodischen Akzent. Das Klavier trägt seinerseits dazu lang gehaltene Oktaven im Bass und im Diskant – bei der Melodik zu Vers 21 – eine durch zusätzliche melodische Schritte erweiterte Variation des Grundmotivs bei. Auf den Worten „sieh“, „dieses erschreckt“ und „und sie erschraken“ liegt je eine eigene, durch Pausen abgesetzte Melodiezeile, die bei „erschraken“ eine am Ende in einen verminderten Terzfall mündende lange Dehnung trägt.
Damit ist der Kommentar aber noch nicht zu Ende. Ein siebzehntaktiges Nachspiel folgt, das sich aus dem zentralen Grundmotiv des Liedes generiert und es in vielfältiger Weise variiert. Und am Ende erklingt, von einem einmal angeschlagenen Akkord aus den Tönen „B-E-F-C“ begleitet, die gewichtig deklamierte, bei dem Wort „Engel“ in einer Dehnung aufgipfelnde, bei „seine“ und „Melodie“ auf einer tonalen Lage verharrende, am Ende dann aber doch in einen gedehnten Terzfall mündende melodische Linie auf dem Schlussvers: „Dann sang der Engel seine Melodie.“ Im Nachspiel macht sie das Klavier vernehmlich: Eine in hohe Lage aufsteigende Folge des Grundmotivs.