Jewgeni KISSIN - eine Jahrhundertbegabung

  • Ich halte Kissin auch für eine ganz große Begabung.


    Leider hat er den großen Fehler gemacht und sich den Merketingstrategen seiner Plattenfirma ausgeliefert, die ihn als großen "Star" vermarktet haben. Das hieß: Jedes alljährliche Konzertprogramm mußte auf CD rausgebracht werden. Die Folge: Die allermeisten Kissin-CDs sind intepretatorisch weder Fisch noch Fleisch und im Grunde überflüssig. Weniger wäre da klüger gewesen: das wären Produktionen, die hätten aufhorchen lassen. So denkt man: Ach ja, schon wieder so eine Kissin-Platte... Zum Glück hat seine Produktion in der letzten Zeit doch deutlich nachgelassen. Anscheinend hat er dazugelernt. Seine Aufnahme von Scriabins 3. Klaviersonate ist jedenfalls vorbildlch bis ins Detail durchdacht - wie man es von Kissin bislang nicht immer gewohnt war. Das Klavierkonzert von Chopin, was ich zuletzt von ihm im Fernsehen gesehen habe, fand ich eher enttäuschend. Wirklich hinreißend ist "Die Lerche" von Balakireff/Glinka - Zugabe zu den "Bildern einer Ausstellung". Allein deshalb lohnt sich die Platte zu kaufen! :)


    Beste Grüße
    Holger

  • Leider hat er den großen Fehler gemacht und sich den Marketingstrategen seiner Plattenfirma ausgeliefert, die ihn als großen "Star" vermarktet haben. Das hieß: Jedes alljährliche Konzertprogramm mußte auf CD rausgebracht werden. Die Folge: Die allermeisten Kissin-CDs sind interpretatorisch weder Fisch noch Fleisch und im Grunde überflüssig.

    Ohne jetzt das Marketing zu bewerten: "seine" Plattenfirma gibt es nicht. Seine Discographie ist eine bunte Mischung von DGG, BMG, Sony, EMI, Melodyia, Victor (jap.), Revelation, Relief, Yedang und Accentus Music.


    Interessant ist auch, dass deine strenge Kritik weder mit den Bewertungen auf Amazon.de noch mit jenen auf Amazon.com korrelieren. Da gibt es jeweils einen ungewöhnlich hohen Schnitt bei den Bewertungen. Ich habe nur wenige Kissin-Platten, die mir aber recht gut gefallen.


    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • 4 lange Jahre Pause. Laut meiner Liste wäre ewieder an der Reihe.
    Aus unerfindlichen Gründen besiotze ich keine einzige CD mit ihm, ich habe, weil ich es nicht glauben konnte, soeben in meienr Datenbank nachgesehen. Die ist zwar nicht am letzten Stand, aber in den letzten Jahren habe ich keine Aufnahme mit ihm erworben.
    Die Meinungen über Kissin waren ja hier sehr unterschiedlich, seine Aufnahmen sind oft mehr als günstig zu haben....
    Die Gelegenheit ist günstig, daß die heutige Tamino-Crew ihre subjektiven Eindrücke schildert.


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



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  • Lieber Christian,


    ein guter Tipp, und schon geordert, für eine Doppel-CD ein moderaster Preis, und bis auf die op. 111 habe ich ja alle anderen hier im Forum schon besprochen. Er kann dann also nach und nach auch in den Beethoven-Sonaten-Threads auftauchen. Und er ist ja auch noch jung genug, um den einmal angefangenen Beethoven-Zyklus auch zu beenden. Die Frage ist, ob er das auch will, und wenn ja, ob ich noch alt genug werde, um das mitzuerleben. Die 5 KK's hat er ja vor Jahren schon unter Davis eingespielt.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Kissin jetzt also auch bei der DGG! :) Das Programm ist natürlich ein Hammer - die CD wird selbstverständlich gekauft! Ich bin auch sehr gespannt, zumal ich von seiner Entwicklung in den letzten Jahren nicht so ganz überzeugt war. Vielleicht wächst er hier ja mit der großen Aufgabe. :)


    Schöne Grüße
    Holger

  • Ich habe Kissin letztes Jahr in München u.a. mit op. 57 gehört. Das war beeindruckend, noch besser hat mir allerdings der Albéniez nach der Pause gefallen. Zur Zeit hat er ja die Hammerklaviersonate im Programm!


    Viele Grüße
    Christian

  • Wenn er denn in München spielen würde, lieber Christian, das würde ich mir noch gefallen lassen, aber die Carnegie Hall ist mir doch ein wenig zu weit. Dir war ja letztens von München aus sogar Köln zu weit. :D


    Er spielt zwar im Januar bei uns in Essen, aber mit dem Emerson-Stringquartett Klavierquintette und Quartette von Mozart, Fauré und Dvorak.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
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  • Kissin spielt am 11.3.2018 in München im Gasteig folgendes Programm:


    Beethoven Klaviersonate B-Dur op. 106 (Hammerklavier)
    Rachmaninov 12 Préludes aus op.2, op.23 und op.32


    Wenn Du das mit einem Besuch in München verbinden willst, würde ich mich freuen und Karten besorgen. Ich habe da einen direkten Kontakt. Im März kann es hier allerdings mächtig schneien.


    Beste Grüße
    Christian

  • Kissin jetzt also auch bei der DGG! :) Das Programm ist natürlich ein Hammer - die CD wird selbstverständlich gekauft! Ich bin auch sehr gespannt, zumal ich von seiner Entwicklung in den letzten Jahren nicht so ganz überzeugt war. Vielleicht wächst er hier ja mit der großen Aufgabe. :)


    Schöne Grüße
    Holger


    Kissin kann alles, auch musikalisch. Ich vermute, dass er vielleicht manchmal schlecht beraten wird oder dass irgend etwas in seinem Umfeld, das wir als Außenstehende nicht einsehen können, ihm nicht hilft. Früher gab es dafür Produzenten. Aber können sich das Labels noch leisten? Der frühe Ruhm mag auch dazu geführt haben, dass Kritik in seinem Umfeld ausblieb. Aber das ist Spekulation. Teilweise finde ich sein Spiel in seiner völlig freien Behandlung der Tempi überragend, teilweise fehlt ihm dann wieder die Strenge. Die B-Dur Sonate von Schubert ist missglückt, das hätte nicht veröffentlicht werden dürfen - ein guter Produzent hätte ihm davon abgeraten. Toll sind die Schumann- (Carnaval!) und Brahms-Aufnahmen (Sonate op. 5). Nach dem doch recht kurzen Intermezzo bei der EMI kann man nur hoffen, dass er bei der DG die richtige Umgebung findet. Die Ankündigung der neuen CD ist jedenfalls ein Statement, da will es einer wissen. Das gefällt mir!


    Viele Grüße
    Christian

  • Das müssen wir dann leider verschieben, lieber Christian, denn dann bin ich schon mitten in meinem Langzeiturlaub auf Teneriffa. Ich kann höchstens schauen, ob er zu der Zeit vielleicht in dieser wunderschönen Konzerthalle in Santa Cruz:

    dem "Auditorio de Tenerife" mit diesem Porgramm auftritt, ich glaube aber eher nicht. :D


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Hallo


    eine wirklich sensationelle Nachricht! Die letzte Kissin-Aufnahme bei EMI, die ich habe, sind Mozarts Klavierkonzerte Nr.24 und 27 mit der Kremerata Baltica. In jeder Hinsicht ein Genuss. Ich bin sehr gespannt auf die Beethoven-CDs.


    LG Siamak

  • Toll sind die Schumann- (Carnaval!) und Brahms-Aufnahmen (Sonate op. 5).


    Die Brahms-Sonate gefällt mir auch sehr gut, lieber Christian. Den "Carnaval" von ihm kenne ich nicht. Auch sehr gut finde ich seine sehr gut durchdachte Interpretation von Scriabins Sonate Nr. 3. Ein wirklich Hammer ist "Die Lerche" von Glinka/Balakirev. Das hat er auch Open Air in Orange gespielt, aber davon gibt es offenbar leider keine DVD. :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

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  • Ich habe von ihm folgende Klavierwerke von Schumann:
    - Abegg-Variationen op. 1
    - Arabeske C-dur op. 18
    - Sonate Nr. 1 fis-moll op. 11
    - Carneval op. 9
    - Symphonische Etuden op. 13
    - Kreisleriana, op. 16
    - Phantasie C-dur op. 17


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Evgeny Kissin hat mit seiner neuen CD meines Erachtens eine der besten Beethoven-Aufnahmen der letzten Jahre vorgelegt: Energetisch, kontrastreich, lebendig und mit großem Gespür für die innere Dramatik. Diese Musik liegt ihm und er reiht sich damit in die erste Liga zeitgenössischer Beethoven-Interpreten ein. Selten habe ich das Finale der Mondscheinsonate derart aufwühlend gehört. Die c-Moll Variationen sind aufgrund ihres Kontrastreichtums ja ein dankbares Werk, aber so erregt wie Kissin weden sie gleichwohl selten gespielt. Die harmonischen Reibungen in op. 81a sind eine große Freude, die Klangentladungen in der Appassionata gewaltig, gleichwohl ist op. 57 vielleicht die schwächste Aufnahme, im Finale fehlt mir etwas von der kompromisslosen Strenge eines Berman. Ein ganz großer Wurf ist aber op. 111: Der erste Satz packend und treibend, in den Arietta-Variationen hingegen nimmt sich Kissin viel Zeit und geht völlig eigene Wege. Wunderbar ausgesungen und erfülltes Klavierspiel! Eine der aufregendsten Beethoven-Aufnahme der letzten Jahre wenn nicht Jahrzehnte! Bin auf eure Meinung gespannt.


    Beste Grüße
    Christian

  • Lieber Christian,


    herzlichen Dank für Deine rasche erste Hörbeschreibung der neuen Beethoven Doppel-CD Kissing bei der DG. Für mich ist es seit der Bekanntmachung dieser neuen Einspielung Kissins ein 'must have'. Ich werde mir diese Aufnahmen spätestens bis Dezember zulegen.


    LG Siamak

  • Sein Solokonzert in London 1997 in der Royal Albert Hall habe ich immer noch in den Ohren und im optischen Gedächtnis.


    Es war schon eine Leistung, gefühlte 20 x die vielen Stufen rauf und wieder runter zu laufen und dann noch das Publikum zu Begeisterungsstürmen hinzureißen, wieder und immer wieder. Er war ja damals noch sehr jung (ich glaube etwa 26 Jahre), hat mörderisch geschwitzt (es war wohl sehr warm, auch das Publikum hatte Schweiß auf der Stirn, nicht nur von der Hitze, auch vom Applaus), aber gespielt wie ein Gott. Unvergeßlich, auch für mich, bei dem Klaviermusik Solo nicht an erster Stelle steht. Aber bei so einem Konzert kann man zum Fan werden.


    Herzlichst La Roche

    Ich streite für die Schönheit und den edlen Anstand des Theaters. Mit dieser Parole im Herzen leb' ich mein Leben für das Theater, und ich werde weiterleben in den Annalen seiner Geschichte!

    Zitat des Theaterdirektors La Roche aus Capriccio von Richard Strauss.

  • Evgeny Kissin hat mit seiner neuen CD meines Erachtens eine der besten Beethoven-Aufnahmen der letzten Jahre vorgelegt:

    ... die Aufnahmen sind aus den letzten 10 Jahren wie ich gelesen habe, lieber Christian, ich bekomme die CD wohl am Dienstag! ;)


    Herzlich grüßend
    Holger

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  • Die Idee ist nicht schlecht, das Plattenlabel einmal wieder zu wechseln und zur DGG zurückzukehren. Da bekommt man Aufmerksamkeit. Dazu noch verspricht die Platte die Darstellung der Entwicklung von Kissins Beethoven-Aneignung.


    Begonnen habe ich mit den 10 Jahre alten Aufnahmen von 2006/7 der Sonate op. 2 Nr. 3 und den 32 Variationen c-moll WoO 80. Bei beiden Mitschnitten muss ich sagen springt bei mir der Funke nicht über. Woran es bei Kissin hapert, zeigt sich schon bei der ersten Variation WoO 80. Kissin betrachtet diesen Beethoven primär als Virtuosenstück und zieht gleich das Tempo an, um seine technischen Fähigkeiten zu demonstrieren. Dadurch geht der bei der allerersten Variation so wichtige „logische“ Anschluss verloren: Statt einem Thema und seiner Variation hat man eine reine Assoziation eines thematischen Teils und mit einem kontrastierenden schnellen Stück. Wie klug macht das doch Vladimir Horowitz in seiner EMI-Aufnahme von 1936, indem er eben ein gemächliches Tempo der ersten Variation wählt! So wächst man als Hörer in die Variationskette gewissermaßen herein, folgt einer musikalischen Entwicklung. Bei Kissin dagegen wird man von einem abrupt einsetzenden virtuosen Feuerwerk überfallen und der Faden ist gerissen. Kissin orientiert sich bei seiner Tempowahl an der Aufnahme von Sergei Rachmaninow, aber im Unterschied zu Kissin arbeitet Rachmanow sehr luzide den thematischen Anschluss heraus. Was zu Beginn schief geht, wiederholt sich dann in der Folge. Bei den Tempowechseln trifft Kissin eigentlich nie das Richtige: Die lyrischen Passagen wirken oft langatmig und leblos und die virtuos-schnellen forciert, knallig und undifferenziert. Mich lässt dieser Kissin-Beethoven zudem einfach kalt. Da entsteht keine lyrische Intimität, die einen berührt, sondern alles wirkt ein bisschen unpersönlich.


    Auch die Sonate op. 2 Nr. 3 kann mich nicht begeistern. Die Virtuosität hat Kissin natürlich. Aber ihr fehlt jeglicher ästhetische Reiz eines schönen Tons, eines leichten Anschlags. Das ist bei Kissin hohe und höchste Virtuosität, aber ohne jegliche Aura. Kissin fehlt einfach die Feinheit, in den perlenden Läufen die Rundungen von melodischen Bögen herauszuarbeiten und auch die Dialektik des Frage-Antwortspiels ist unterbelichtet. Der langsame Satz ist bemüht, aber wirkt doch alles in allem unpersönlich. Man spürt einfach keine innere Identifikation mit dieser Musik. Das Scherzo beginnt forsch und der Mittelteil erscheint etwas lieblos heruntergespielt. Allein das Finale lässt aufhorchen mit seiner jugendlichen Frechheit, dem gewissen Ungestüm. Insgesamt ist das für mich eher enttäuschend. Ich hoffe, dass Kissins Entwicklung in Sachen Beethoven doch weiter gegangen ist. Ich werde es hören!


    Schöne Grüße
    Holger


  • Gehört habe ich es nun – das Kissin-Appassionata-Ereignis aus dem Amsterdamer Concertgebouw von 1916. Was ist nur mit Kissin in diesen 10 Jahren passiert? Da spielt ein anderer Pianist, meint man. Ein Jahrzehnt zuvor scheint es so, als pendele Kissin hin und her zwischen einem „Respekt“ vor Beethoven einerseits, der keine wirkliche Liebe ist, und virtuoser Selbstdarstellung andererseits. Hier nun glaubt man von Anfang an, aus Kissin spreche Beethoven selbst: der Furor des wütenden Subjekts. Da wird Rhetorik, die Fähigkeit, Musik zur „Klangrede und Tonsprache“ werden zu lassen, zum subjektiven Selbstbekenntnis, zur Bekenntnismusik. Dabei stürmt Kissin durch die Appassionata keineswegs nur klischeehaft wie ein Sturm-und Drang-Gewitter einfach eindimensional durch. Nein, da hört man Beethoven als den „Willens“- Musiker, als den man ihn oft gedeutet hat: zögernd, zaudernd, dann wieder unbeherrscht und forsch. Hat der erste Satz schon eine wahrlich genialische Dämonie, so meldet sich im Variationssatz und dann im Finale das „Schicksal“. Diese Wellenbewegungen, diese Immer-wieder-Anrennen und Abebben hat fast schon mythische Züge, die an Sisyphos, den Helden des Absurden, erinnern, der den Stein immer wieder den Berg raufrollen muss, obwohl er ganz genau weiß, dass er wieder runterrollt. Und bei all dem spielt Kissin musikalisch-logisch schlüssig bis ins kleinste Detail. Da geschieht nichts unüberlegt und unbedacht, alles entwickelt sich organisch-natürlich. Hat Kissin also mit 46 Jahren Beethovens Subjektivität in sich aufnehmend zu sich selbst gefunden? Jedenfalls ist das für mich vielleicht die beste Aufnahme, die das einstige Moskauer Wunderkind in seinem bisherigen Pianisten-Leben gemacht hat: ein absolut unvergleichlicher, interpretationsgeschichtlicher Meilenstein. :) :) :) :hail:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Lieber Holger,


    lieben Dank für die sehr detaillierte Beschreibung. Den anderen Kissin meinte ich schon in der Mozart-Konzerte CD der EMI mit der Kremerata Baltica gehört zu haben.


    LG Siamak


  • „Les Adieux“ bedeutet – 2006 aus dem Wiener Musikvereinssaal – wieder einen Zeitsprung 10 Jahre zurück. Hier zeigt Kissin, dass er Beethovens Subjektivität versteht. Doch ist dies der „alte“ Kissin, der Rhetoriker. So beeindruckend das auch gespielt ist, Beethovens Empfindsamkeit wird hier doch etwas sentimentalisch dramatisiert. Die Trauer des Abschieds, der Überschwang des Wiedersehens, er zeigt beim „mittleren“ Beethoven die Schlichtheit und Ehrlichkeit der Empfindsamkeit. Dass Kissin hier letztlich nicht an das heranreicht, was er 10 Jahre später mit der Appassionata erreicht, den vollkommenen Einklang mit der Musik in der Durchdringung von Beethovens Subjektivität, liegt daran, dass er diese schlichte Beseeltheit nicht trifft, statt klassische Ausgewogenheit in der Gefühlsextase herzustellen die Musik existenzialistisch sozusagen aufkratzt.


    Bei Beethovens letzter Klaviersonate op. 111 stellt sich die Frage: Was bedeutet dieses „Letzte“ – oder „Späteste“, wenn man es nicht allzu metaphysisch sehen will. Eine schwer zu beantwortende Frage. Man kann sie letztlich nur anhand der wirklich „großen“ Interpretationen beantworten. Und da sind die beiden so extrem unterschiedlichen Aufnahmen von Arturo Benedetti Michelangeli ein Maßstab. Es wäre zu einfach, wollte man dieses letzte Wort Beethovens in Sachen Klaviersonate einfach nur als „Synthese“ bezeichnen. Sicher ist sie das auch: Da gibt es die klassische Schlichtheit und Schönheit der frühen Sonaten, die formale Konstruktivität. Zugleich verbindet sie sich mit der subjektiven Ausdruckstiefe der mittleren Sonaten. Aber dazu kommt eben Beethovens Idealismus, eine Purifizierung, welche eine integrale, versöhnende Sicht verhindert. Die Purifizierung macht aus der geschlossenen Form letztlich eine offene, in diesem Sinne die formale Synthese zugleich zur Quelle ihrer Auflösung und Selbstauflösung von innen her. In Michelangelis Deutung aus den 60igern zeigt sich dies in der Arietta, die scheinbar so einfach und schlicht Musik ihrer Materialität in einer euphorischer Steigerung beraubt, indem eine Variationskette zur Auflösung von klassisch-sinnhaftem Musizieren, von „Musikalisch-Thematischem“ wird, indem sich das musikalische Geschehen in das Elementare von Bewegung und Licht auflöst. In seiner letzten Aufführung aus London 1990 dagegen zeigt sich bei ABM die „negative Dialektik“ des Klassisch-Schönen. Die Synthese bricht auf, die klassische Fassade zerbröckelt, zeigt hinter dem Bestreben nach Klarheit und Vollkommenheit das Gequälte und Erzwungene, Gewollte. Die Subjektivität des mittleren Beethoven wird so zum Pfahl im Fleische des musikalischen Idealismus. In dieser seiner letzten Aufführung rhythmisiert ABM die Arietta in einer fast schon orgiastischen Weise. Während die früheren Aufnahmen die Musik sich selbst überlassen gelassen ausschwingen lassen, ist es mit der Gelassenheit bei ABM 1990 vorbei: Metaphysische Ruhe hat sich mit einer Unruhe vergesellschaftet, einem Leiden, welche sich als Quelle der Bewegungs-Teleologie enthüllt. Ist das etwa der Schopenhauersche Wille, der sich selber aushängt, ein sich selbst zum Stillstand bringender unstillbarer Lebensdrang? Die musikalische Auflösung von Bewegung in Energie wird so zur Dialektik von Leben und Tod – zum Tod, der sich durch das Leben selber vollzieht. ABM war zu dieser Zeit ein vom Tode gezeichneter und um diesen seinen nahen Tod wissender Mann.


    Was ereignet sich nun bei Kissin 2013? Auch bei Kissin gibt es den Versuch, eine letzte Aussage bei Beethoven zu suchen. Bei ihm ist es ein Rückblick und Ausblick im Sinne der Romantisierung. Im ersten Satz meint man, den mittleren Beethoven in einer Reminiszenz vor sich zu haben. Kissin purifiziert nicht, seine Pianistik wirkt im Detail schon fast skizzenhaft. Es geht ihm offenbar um das Erzeugen einer Gesamtwirkung, einer Stimmung. Mir geht hier dann doch etwas die logische Schlüssigkeit verloren, die Musik wird bei ihm etwas kirmeshaft „bunt“, zu einer eher losen Art Kette von verschiedenen Empfindungen, wie es ja Erinnerungsbilder auch sein können. Die Arietta nimmt Kissin irdisch schlicht und sieht das Variations-Geschehen dann als eine Art romantische Verklärung. So wird es bei der Steigerung, deren Höhepunkt die unendlichen Triller sind, bei ihm mystisch geheimnisvoll im reduzierten Tempo. Kissin will wohl sagen: Zuletzt ist Beethoven zum sinnierenden, weltentrückten Romantiker geworden! Was so allerdings verschwindet, ist die negative Dialektik einer Form, die in Bewegung geratend sich selber auflöst. Bei Kissin ist die Subjektivität anders als bei ABM nicht die negativ-dialektische Brechung von klassischer Formalität, sondern gewissermaßen absolut. Für mich ist das eine ganz großartige Aufnahme. Aber ob das auch wirklich „großer“ letzter Beethoven ist? :) :) :)


    Schöne Grüße
    Holger

  • Lieber Holger,


    ich hatte bis jetzt nur die 1990er Aufnahme von ABM und werde sie nachher noch einmal durchhören. Dei 1962er Aufnahme (auf DVD) habe ich eben in einer günstigen Aufnahme erworben und werde jetzt in Ruhe auf ihr Eintreffen warten. Zeit genug habe ich ja, da ich für mich beschlossen habe, schon eigentlich am Beginn der Reise durch Beethovens Sonatenkosmos, dass ich die Schlusstrias am Ende und damit op. 111 als Letzte besprechen will, und ich hoffe, dass meine Gesundheit mitspielt. Von mir aus werde ich alles dafür tun.
    Übrigens ist es mit meinem Vorhaben, Kissin im nächsten Jahr am 17. Juni im Concertgebouw mit der Hammerklaviersonate zu erleben, wieder schlechter bestellt, denn bei meiner Rückkehr aus Celle stand dieses Konzert schon nicht mehr auf dem Terminplan in Amsterdam, warum auch immer. Zu den drei Konzerten in Deutschland im März nächsten Jahres bin ich allerdings auf Langzeiturlaub auf Tenriffa, und auch Kissin kann mich nicht davon abhalten, das umzuwerfen.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

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  • Lieber Willi,


    von ABM gebt es folgende Aufnahmen von op. 111 (bei Youtube sicher noch einige mehr):


    London 22.4.1961
    London 17.5.1961
    Decca (Rom 4. März 1965)
    New York 21.1.1966
    Bonn 11.10.1970
    Bregenz, 15.1.1988
    London 10.5.1990


    Bis 1988 hatte er den Interpretationsansatz aus den 60igern, dann, nach seinem Zusammenbruch und Herzoperation in Bordeaux, kommt die Wende!


    Herzlich grüßend
    Holger

  • Alfred_Schmidt

    Hat den Titel des Themas von „Jewgeni Kissin - eine Jahrhundertbegabung“ zu „Jewgeni KISSIN - eine Jahrhundertbegabung“ geändert.