Johannes Brahms. Seine Lieder, gehört und betrachtet im Bemühen, ihr Wesen zu erfassen

  • Erfreut sehe ich, dass ich gleich zwei hochgeschätzten Tamino-Freunden, zweiterbass und Rheingold, antworten kann, und das mache ich natürlich gerne. En bloc, wenn´s gestattet ist, damit ich mich kurz fassen kann.
    Also, zunächst einmal: Ich stimme euch Beiden in der Hochschätzung der Interpretation des Liedes durch Elly Ameling völlig zu. In der verhaltenen Innigkeit mit der sie, bei gleichzeitiger Binnendifferenzierung, die melodische Linie vorträgt, wird sie deren struktureller Einfachheit und Schlichtheit als Volkslied auf faszinierende Weise gerecht. Im Vergleich dazu verfährt Elisabeth Schwarzkopf geradezu deklamatorisch hochexpressiv, - in der bei Youtube zu sehenden Fassung dabei sogar da und dort an die Grenzen des Angebrachten gehend. An der Stelle „und a bissele Falsschheit“ lässt sie sich von ihrer theatralischen Gestik und Mimik geradezu hinreißen.


    Und doch! Elly Ameling rührt mich mit ihrem Gesang, - mädchenhaft-innig und seelenvoll, wie er mir entgegentritt. Elisabeth Schwarzkopf aber vermag mich zu treffen, um das große Wort „erschüttern“ zu vermeiden. Als ich sie mit diesem Lied zum ersten Mal hörte, es war in der (von Rheingold erwähnten) Gesamtaufnahme der Volkslieder, die als Schallplatten-Kassete bei EMI erschien, sind mir bei den Schlussworten „und i wünsch, daß dirs anderswo besser mag gehn“ beinahe die Tränen gekommen. Schwarzkopf berücksichtigt bei ihrer Interpretation die Tatsache, dass das Mädchen in den vier Strophen ja aus einer unterschiedlichen Grundhaltung spricht und dabei eine verschiedenartige Aussage-Absicht verfolgt. Also interpretiert sie die Melodik der Strophen – und setzt sich dabei über ihre strukturelle Identität hinweg – in einer ausgeprägt differenzierten Weise. Bei der letzten Strophe ringt sich das Mädchen aus Liebe zu einem tief anrührenden Akt der Selbstlosigkeit und Selbstüberwindung durch: Sie wünscht dem Geliebten, dass es ihm bei einer anderen Frau besser gehen möge. Brahms hat vor der letzten kleinen Melodiezeile auf den Worten „besser mag gehn“ die Zweiachtel-Pause der ersten beiden Strophen um ein weiteres Achtel verlängert, - bewusst, um deren musikalische Aussage zu steigern. Elisabeth Schwarzkopf nutzt das voll aus: Sie hält die Pause auffällig lang und lässt danach ihre Stimme beim Vortrag des Sextfalls der melodischen Linie auf den Worten „i halt“ fast brechen.


    Und damit bin ich bei dem Einwand von Dir, lieber zweiterbass: „ihr Vortrag ist für mich sowas von daneben - es ist ein Volkslied - und sie macht ein Kunstlied daraus“. Ich würde Dir in Deinem Urteil ja gerne beipflichten, - wenn ich die Begründung akzeptieren könnte. Das aber kann ich nicht, und dies aus sachlichen Gründen. Brahms hat mit der Beigabe eines Klaviersatzes aus der – unverändert übernommenen – Volksliedmelodie de facto ein Kunstlied gemacht. Mit den harmonischen Ausdrucksmitteln des Vorhalts und der tongeschlechtlichen Modulation und einem fast viertaktigen Zwischenspiel hat er in tiefgreifender Weise die emotional-seelische Dimension der Melodik und des ihr zugrundliegenden Textes ausgelotet. Die Anmutung von Schmerzlichkeit und Wehmut, die der Liedmusik als Anmutung innewohnt, ist ganz wesentlich dem Klaviersatz und dem Zwischenspiel mit seiner Sexten- und Terzenbetonheit zu verdanken.
    Du kannst es ja an der von mir gerade erwähnten Schluss-Melodiezeile vernehmen und erkennen: Die Harmonik beschreibt hier eine Rückung vom vorangehenden cis-Moll nach fis-Moll (bei dem melodischen Sextfall), wobei das Klavier im Diskant eine Fallbewegung von Terzen erklingen lässt. Danach geht sie über die Dominante H-Dur zur Grundtonart E-Dur über und das verleiht dem Wort „gehen“ eine schicksalhafte Endgültigkeit.


    Damit will ich natürlich nicht sagen, dass die Interpretation von Elisabeth Schwarzkopf der von Elly Ameling vorzuziehen sei, weil sie der Liedmusik in ihrer Aussage näher komme. So ist das ja nicht: Beide Interpretationen lassen auf ihre je eigene Weise die Schönheit und die tief berührende musikalische Aussage dieses Liedes vernehmen. Mir geht es nur darum, unter Bezugnahme auf die Faktur des Liedes zu zeigen, dass es – aus meiner Sicht - keine sachlichen Gründe gibt, es so zu interpretieren, wie Elisabeth Schwarzkopf dies tut.

  • Es ist ja wirklich amüsant, nein, es rührt mich sogar, dass ich, genauso wie ich Deine Reaktion auf die Schwarzkopf-Interpretation vorausgesehen habe, lieber zweiterbass, so nun auch ahnte, dass Du mir mit dieser - unterschwellig provokativen - Frage kommen würdest:
    „Ob sich da Brahms mit der Einordnung/Klassifizierung des Liedes vertan hat oder war das der Verleger?“
    Hier verkehren zwei alte Tamino-Gesellen miteinander, die einander sehr gut kennen. Und das ist etwas sehr Schönes!
    Also hier meine Antwort auf Deine Frage.


    Das Lied „Da unten im Tale“ ist Bestandteil der Publikation, die 1894 bei N. Simrock, Berlin, unter dem Titel „Deutsche Volkslieder. Mit Clavier-Begleitung“ erschienen ist. Der Titel stammt von Brahms selbst, und er war sich natürlich bewusst, warum er ihn in dieser sprachlichen Gestalt dem Verleger präsentiert hat. Er reagierte damit auf die Publikation des „Deutschen Liederhorsts“ durch Erich Böhme, die er für eine dem Volkslied abträgliche Sache hielt.


    Alle seine brieflichen Äußerungen dazu lassen erkennen, dass er diese „Volkslieder“ sehr wohl als ein eigenes „Werk“ im Sinne einer Bearbeitung der Fassungen verstand, die er in der von ihm bevorzugten und von Anton Wilhelm von Zuccalmaglio und August Kretzschmer herausgegeben Sammlung „Deutsche Volkslieder mit ihren Original-Weisen“ (zwei Bände, erschienen 1840) vorfand. In einem Brief an Hermann Deiters (29.6.1894) kommentiert er seine „Volkslieder“ mit den Worten „Es ist wohl das erstemal, daß ich dem, was von mir ausgeht, mit Zärtlichkeit nachsehe“. Und Simrock gegenüber meinte er, es sei „das einzige Werk, dessen Herausgabe mir Spaß macht.“
    Viel bedeutsamer scheint mir aber noch die Tatsache zu sein, dass Brahms diese „Volkslieder“ in den Kontext seines ganzen liedkompositorischen Schaffens gestellt hat. An Simrock schrieb er am 17.9. 1894:
    „Ist Ihnen übrigens aufgefallen, daß ich als Komponist deutlich Adieu gesagt habe? Das letzte der Volkslieder und dasselbe in meinem op.1 stellen die Schlange vor, die sich in den Schwanz beißt, sagen also hübsch symbolisch – daß die Geschichte aus ist.“


    Worauf will ich hinaus?
    Dir, lieber zweiterbass, anhand dieser Quellenzeugnisse bewusst machen, dass die sogenannten „Volkslieder“ für Brahms sehr wohl eigene kompositorische Werke waren, - also „Kunstlieder“ gemäß der Definition dieses Begriffs. Freilich eine besondere Version davon in dem Sinn, dass sie gleichsam einen Volkslied-Kern aufweisen.

  • dass Du mir mit dieser - unterschwellig provokativen - Frage kommen würdest:


    das war von mir weder unterschwellig noch provokativ gemeint, ich hatte einfach nicht die Zeit, mich über den Verleger zu informieren, Deine spezifischen Kenntnisse habe ich sowieso nicht; ich habe auch ein ganz anderes Berufsleben hinter mir im Vergleich zu Dir.


    Im übrigen habe ich in einem verwandten Thread auch gepostet - u. U. nachlesen, wenn Du willst.

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Ach, das war doch nicht als Kritik an Dir gemeint, lieber zweiterbass, - diese Passage, die Du zitierst. Hast Du den Kontext überlesen, in dem sie steht?
    Wenn Du wüsstest, wie sehr ich mich gefreut habe, dass Du in diesem Thread gepostet hast, und wie gern ich Dir geantwortet habe!


    Es tut mir leid, dass ich mich mit dieser Formulierung "unterschwellig provokativ" offensichtlich ungeschickt ausgedrückt habe. Ich habe Deine Frage so verstanden, dass du mich mit dem Sachverhalt konfrontieren wolltest, dass Brahms diese Lieder selbst als "Volkslieder" tituliert und verstanden hat, so dass es doch eigentlich problematisch ist, ihnen einen Kunstliedstatus zuzusprechen, wie ich das im Fall des Liedes "Da unten im Tale" getan habe. Das Wort "provokativ" habe ich verwendet, weil ich mich durch Deine Frage aufgefordert fühlte, über diese Frage nachzudenken.
    Und das habe ich ja dann auch getan. Sehr gerne!

  • Im Nachtrag zu diesem Thread sollen einzelne Lieder aus dem 1894 bei Simrock publizierten Band „Deutsche Volkslieder“ vorgestellt werden. Das kann natürlich nur eine Auswahl sein, denn diese Publikation, der Brahms keine Opus-Ziffer verliehen hat, enthält insgesamt 42 Kompositionen, bei denen es sich um Bearbeitungen originaler Volkslieder handelt, deren Melodik Brahms übernahm und mit einem eigenen Klaviersatz versah. Das war für ihn mehr als eine beiläufig betriebene Angelegenheit. Für ihn war – und das wurde in diesem Thread ja bereits ausführlich dargestellt – das Volkslied gleichsam das „Ideal“, das seine gesamte Liedkomposition in maßgeblicher Weise prägte, wie er, mit Blick auf die zeitgenössische Liedkomposition, Clara Schumann gegenüber mit den Worten bekannte: „Das Ideal segelt jetzt so falschen Kurs, daß man sich ein Ideal nicht fest genug einprägen kann. Und das ist mir das Volkslied.“


    Wenn nun einzelne Lieder hier vorgestellt und kurz besprochen werden, so soll damit nicht nur ein Einblick in dieses Werk von Brahms gegeben werden - denn um ein solches handelt es sich, auch wenn dessen musikalische Substanz zu einem wesentlichen Teil aus Volksliedmelodik besteht - es soll darüber hinaus auch der Frage nachgegangen werden, was es wohl war, das Brahms am Volkslied so sehr fasziniert hat, dass er nicht nur seine Liedmusik in ihrer spezifischen Faktur maßgeblich ausrichtete, sondern sich auch musikwissenschaftlich mit dem Volkslied befasste und sich in den Jahren 1854 bis 1877 eine über zweihundert Exemplare umfassende Sammlung zulegte.
    Es soll also in dieser Weiterführung des Threads nicht nur um die liedanalytische ausgerichtete Besprechung ausgewählter Volkslieder in der Bearbeitung durch Brahms gehen, daneben ist – angeregt durch den gerade parallel laufenden, sich auf die Präsentation von Volksliedern und Volksmusik beschränkenden Thread – auch ein Nachdenken über das klangliche Wesen des Volksliedes beabsichtigt.
    Denn es stellt sich ja doch die Frage: Was ist es eigentlich, was die in diesem Thread von den daran Beteiligten bekundete Faszination und Begeisterung am Volkslied auslösen, bedingen und ausmachen könnte?


    Auf das Lied „Da unten im Tale“ wurde ja bereits kurz eingegangen. Daran soll sich nun nachfolgend dieses in Gestalt einer etwas detaillierteren Betrachtung und Reflexion anschließen:


    Erlaube mir, fein´s Mädchen, in den Garten zu gehen,
    Daß ich dort mag schauen, wie die Rosen so schön.
    Erlaube sie zu brechen, es ist die höchste Zeit;
    Ihre Schönheit, ihr´ Jugend hat mir mein Herz erfreut.


    O Mädchen, o Mädchen, du einsames Kind,
    Wer hat den Gedanken ins Herz dir gezinnt,
    Daß ich soll den Garten, die Rosen nicht sehn?
    Du gefällst meinen Augen, das muß ich gestehn.


    Es ist die geradezu klassische Metapher vom „Rosenbrechen“, die Gegenstand dieses Volkliedes ist. Bemerkenswert ist aber, in welcher Sprache sie sich artikuliert: Es ist eine höchst behutsame, das Thema umkreisende, geradezu umspielende. Das Mädchen wird mit der höflichen Anrede „erlaube mir“ angesprochen, es wird gefragt, wer ihm die ablehnende Haltung „ins Herz gezinnt“ habe, und es wird schließlich eine direkte Beziehung zwischen der Schönheit der Rosen und der des Mädchens hergestellt, verbunden mit dem subtilen Bekenntnis, dass es nicht einfach nur ihm, dem Werbenden, sondern „seinen Augen“ gefalle.


    So zart Sprache und Metaphorik den eigentlichen Gegenstand, das schlichte Begehren sinnlicher Liebe also, umspielen, so tut das auch die Liedmusik. Es handelt sich um ein einfaches Strophenlied, und einfach und schlicht stellt es sich auch dem unmittelbaren Höreindruck dar. Das liegt vor allem an dem für das Volkslied typischen Prinzip der Wiederholung melodischer Figuren – das Brahms für seine Kunstliedkomposition übernommen, allerdings mit der Technik der Variation angereichert hat – und der im wesentlichen zwischen Tonika G-Dur, Dominante und Subdominante modulierenden Harmonik. Damit ist aber der Zauber noch nicht erklärt, den diese Liedmusik auf ihre Hörer auszuüben vermag, - besonders in der Bearbeitung, die sie in Gestalt des der Volkliedmelodik beigegebenen Klaviersatzes gefunden hat.


    Hört man genau hin, dann bemerkt man rasch, dass sich die melodische Linie aus zwei Figuren konstituiert, und dass beide etwas gemeinsam haben: Die Achtel-Sprung- oder Fallbewegung mit nachfolgender Vierteldehnung, zu vernehmen erstmals auf den Worten „erlaube mir“ und „feins Mädchen“. Dieser Achtelsprung- oder -fall kehrt permanent wieder, so dass man die ganze Melodik wie eine Fort- und Ausführung dieser melodischen Grundfiguren empfindet. Und das ist höchst bedeutsam, denn sie prägen mit ihrem Charakter dadurch das ganze Lied. Und dieser Charakter ist in dem deklamatorischen Gestus, der ihnen zugrunde liegt, der einer zarten Anrede, die behutsam und nachdrücklich zugleich ist. Da die Melodik des Liedes nach dem Schema A-A-B-A aufgebaut ist, geht aus diesen Figuren der zentrale musikalische Gehalt des Liedes des ganzen Liedes hervor.


    Nun erschöpft sich die Liedmusik aber nicht in dieser Melodiezeile, denn es gibt da, gleichsam in der Mitte des Liedes, noch die B-Melodik. Und hier wird´s nun interessant, - nicht nur von der Struktur der melodischen Linie her, sondern auch vom Brahmsschen Klaviersatz. Im Grunde stellt die melodische Figur, die nun auf den Worten „erlaube mir“ liegt, die Umkehr der ersten dar: Nun kein Terzsprung, sondern ein aus einer Tonrepetition in höherer Lage hervorgehender Terzfall. Auch auf dem Wort „brechen“ liegt nun ein Fall über eine Quarte, verbunden mit einer harmonischen Rückung in die Dominante. Diese Variation der melodischen Linie mutet an, als würde das Ich sein Anliegen zwar deutlich, aber doch im Bemühen u Behutsamkeit vorbringen wollen Und dieser Eindruck verstärkt sich, denn auf den Worten „es ist die höchste Zeit“ geht die melodische Linie zu einer in die höchste Lage des Liedes ausgreifenden Bogenbewegung über, die in ihren Fall am Ende auch noch leicht gedehnt ist, was der Aussage Nachdrücklichkeit verleiht. Und dazu trägt auch die Harmonik bei. Denn hier ereignet sich eine von dem üblichen Volksliedschema abweichende Rückung in die Doppeldominante A-Dur.


    Diese B-Zeile weist also, obgleich sie aus dem gleichen melodischen Material aufgebaut ist, eine stärkere Binnendifferenzierung auf. Und Brahms berücksichtigt das. Hat er die melodische Linie bei der A-Zeile mit schlichten Terzsprüngen im Diskant begleiten lassen, so werden nun bei der B-Zeile daraus dreischrittige, den zugrundliegenden Dreivierteltakt akzentuierende Folgen von Sexten und Oktaven, die am Ende, bei der Rückung in die Doppeldominante, sogar zu einem dreistimmigen Akkord werden, dem zwei Quarten nachfolgen. Aber weil diese B-Zeile in ihrer das Ich in einer anderen Haltung zeigenden Liedmusik in die den musikalischen Kern des Liedes bildenden A-Zeilen eingebettet ist, beschreibt der Klaviersatz im Diskant während der Viertelpause für die Singstimme eine Fallbewegung von Vierteln im Diskant, der gegenläufig, und um ihre Expressivität zu steigern, ein synchroner Viertel-Anstieg im Bass zugeordnet ist, - Überleitung zum Neuansatz der melodischen Linie im Gestus der A-Zeile.


    Und Brahms tut ein Übriges, um die innere musikalische Einheit des Liedes zu intensivieren: Er fügt ein dreitaktiges akkordisches Zwischenspiel ein, das in höchst reizvoller, weil mit einem dreistimmigen Sechzehntel-Vorschlag versehener Weise zwischen dem Dominant-Septakkord und der Subdominante changiert, - Ausdruck der Haltung des werbenden Ichs gleichsam in klanglich verdichteter Kurzform.


    Und das ist es ja wohl, was den klanglichen Reiz dieser Volksliedmusik ausmacht und so sehr in Bann zu schlagen vermag: Sie weist in ihrem wesenhaft schlichten Sich-Entfalten aus zwei melodischen Grundmotiven eine vollkommene innere Geschlossenheit auf und vermag darin doch die menschliche Grundhaltung, um die es hier geht, in ihrer Ambivalenz zwischen liebevoll-zarter Zuwendung und sinnlichem Begehren auf zutiefst anrührende Weise zum Ausdruck zu bringen.

  • Gar lieblich hat sich gesellet
    Mein Herz in kurzer Frist,
    Zu einer, die mir gefället,
    Gott weiß wohl, wer sie ist;
    Sie liebet mich ganz inniglich,
    Die Allerliebste mein,
    Mit Treuen ich sie mein.


    Wohl für des Maien Blüte
    Hab ich sie mir erkorn,
    Sie erfreut mir mein Gemüte
    Mein'n Dienst hab ich ihr g'schworn,
    Den will ich halten stetiglich,
    Sein ganz ihr untertan,
    Dieweil ichs Leben han.


    Ich gleich´ sie einem Engel,
    Die Herzallerliebste mein,
    Ihr Härlein kraus als ein Sprengel,
    Ihr Mündlein rot als Rubein,
    Zwei blanke Ärmlein, die sind schmal,
    Dazu ein roter Mund,
    Der lacht zu aller Stund´.


    Mit Venus´ Pfeil´n durchschossen
    Das junge Herze mein;
    Schöns Lieb, sei unverdrossen,
    Setz deinen Willen drein.
    Gesegn´ dich Gott, mein schönes Lieb,
    Ich soll und muß von dir,
    Du siehst mich wieder schier.


    Das ist das dritte Lied in dieser Sammlung. Es steht in G-Dur als Grundtonart, ein Zweivierteltakt liegt ihm zugrunde, und es soll „Anmutig“ vorgetragen werden. Beim Hören dieses Liedes wird einem bewusst, dass die Faszination, die vom Volkslied ausgehen kann – und bei Brahms tatsächlich auch ausging – nicht nur in der Melodik und ihrer Harmonisierung gründet, sondern auch im zugrundeliegenden Text. In seiner Art, den Gegenstand in einfacher Sprachlichkeit direkt, unverblümt und doch zugleich plastisch-bildhaft an- und auszusprechen, meint man das Sich-Artikulieren eines ungebrochenen, mit sich selbst und seiner Lebenswelt zutiefst im Reinen seienden Lebensgefühls zu vernehmen, in das noch nicht all die tiefgreifenden existenziellen Verstörungen eingebrochen sind, wie sie die Moderne für den Menschen mit sich gebracht hat.


    Dieser Mensch hier bekundet seine Liebe zu seinem Mädchen in einer Fülle von überaus seelenvollen, aus wahrhaftiger Empfindung kommenden Bildern, denen jeglicher Anflug von verlogener Sentimentalität abgeht. Die Echtheit seiner Empfindungen bekundet sich im sprachlichen Gestus der bildhaften Feststellung, - etwa wenn er das Außerordentliche und letztlich Unbegreifliche des Ereignisses seiner Liebe nicht anders in Worte zu fassen vermag, als davon zu sprechen, dass sich „gar lieblich“ sein Herz „gesellet“ habe zu einer, die ihm „gefällt“, von der aber nur Gott weiß, wer sie ist, auf dass sie ihm so sehr gefallen kann.


    Einfach, sich selbst direkt und unverblümt, ohne falsche Töne also aussprechend tritt auch die Liedmusik auf diese Verse auf. Und das Erstaunliche und Faszinierende ist, dass sie, obgleich sie in ihrer Melodik aus nur zwei einfach aufgebauten, sich in hohem Grad aus Tonrepetitionen generierenden und im ersten Fall sich gar noch wiederholenden Melodiezeilen besteht, die in ihrer Harmonisierung schlicht zwischen der Tonika G-Dur und ihrer Dominante, bzw. Subdominante hin und her pendeln, die Fülle der lyrischen Aussagen, wie sie die vier Strophen aufweist, ungeachtet ihrer strophenliedartigen Wiederkehr wiederzugeben vermag.


    Aber nein, das ist falsch. Sie gibt sie ja nicht wirklich wieder, diese Fülle, wie das ein Kunstlied des neunzehnten Jahrhunderts machen würde, - unter Inkaufnahme einer liedmusikalischen Komplexität, die sich dann, gegen Ende des Jahrhunderts und in den Anfängen des nachfolgend zwanzigsten so weit steigert, dass die Musik ihrer Liedhaftigkeit verlustig geht, - wie diejenigen, die freundlicherweise den Ausführungen im Thread zum liedkompositorischen Werk Paul Hindemiths folgen, auf eindringliche Weise erleben können.


    Nein, diese Liedmusik gibt die lyrische Aussage in ihrer Vielgestalt und semantischen Komplexität nicht wieder, sie reflektiert sie also nicht, sondern sie repräsentiert sie gleichsam auf ihrer klanglich-medialen Ebene. Und das ist es wohl, dieser Verzicht auf das Sich-Einlassen auf die sprachliche Struktur des Textes, seine Semantik und seine Metaphorik zugunsten einer adäquaten Repräsentation seines Aussage-Kerns, was letztendlich die Faszination der Volkslied-Musik ausmachen dürfte.


    Dieses Lied lässt das auf beeindruckende Weise vernehmlich werden: Die erste Melodiezeile repräsentiert mit ihrem Aufstieg aus unterer in obere Mittellage, ihrem repetierenden Verharren dort und dem nachfolgen Nicht-Absteigen, vielmehr einen neuerlichen kleinen Aufstieg nehmenden Gestus das Hochgefühl und die Beglückung, die das Ich zum Ausdruck bringt. Und dass sie wiederholt wird, hat von daher einen tiefen Sinn. Die zweite Melodiezeile wirkt in Verharren in permanenter Tonrepetition in mittlerer tonaler Lage und ihrer alsbaldigen Rückkehr dahin nach dem kurzen Aufstieg zu der tonalen Ebene, die die erste schon einmal erreicht hat, um dort auch bleiben zu wollen, hingegen in ihrer Expressivität verhaltener, seelenerfüller, und sie repräsentiert darin die emotionale und gedanklich-reflexive Ebene, die der lyrische Text ja auch aufweist.


    Und Brahms berücksichtigt das natürlich und akzentuiert es mit seinem Klaviersatz. Während dieser bei der ersten Melodiezeile im Diskant aus einer Figur besteht, bei der Sechzehntel einen Fall aus einem bitonalen Sechzehntel-Akkord beschreiben, während sich im Bass ein schlichtes Auf und Ab von Einzelton und Terz ereignet, ist er bei der zweiten Melodiezeile deutlich komplexer. Hier setzt sich der Fall von Sechzehnteln zum Bass hin fort und fügt sich dort in eine Figur ein, die aus einer Oktave mit nachfolgenden Sechzehntel-Sprüngen besteht.

  • Eine Art Schlüsselerlebnis hatte ich gerade, eines, das mich ziemlich getroffen hat.
    Ich las im Feuilleton der FAZ vom 2. August die Kritik von Jan Brachmann, betreffend einen Liederabend, den Christian Gerhaher bei den Salzburger Festspielen am 1. August gab. Überschrift: „Streng und schön“. Gerhaher konfrontierte dort Liedmusik von Purcell und Britten mit solcher von Brahms und Mussorgski. Dabei trug er auch dieses Lied von Johannes Brahms auf einen Text aus „Des Knaben Wunderhorn“ vor:

    „Der Überläufer“, op.48, Nr.2

    In den Garten wollen wir gehen,
    Wo die schönen Rosen stehen,
    Da stehn der Rosen gar zu viel,
    Brech' ich mir eine, wo ich will.

    Wir haben gar öfters beisammen gesessen,
    Wie ist mir mein Schatz so treu gewesen?
    Das hätt' ich mir nicht gebildet ein,
    Daß mein Schatz so falsch könnt' sein.

    Hört ihr nicht den Jäger blasen
    In dem Wald auf grünem Rasen,
    Den Jäger mit dem grünen Hut,
    Der meinen Schatz verführen tut.

    Hört ihr nicht den Trompeter blasen,
    In der Stadt auf der Parade?
    Den Trompeter mit dem Federbusch,
    Der meinen Schatz verführen tut.

    Hier ein Link zu einer Aufnahme davon:



    Hätte ich dieses Lied in diesem Thread vorgestellt und besprochen, so wäre daraus – wie das vorangehend immer wieder der Fall war – ein ellenlanger Beitrag geworden, in dem ich mich ausführlich auf die Melodik, ihre spezifische Struktur und ihre Harmonisierung, den Klaviersatz und das Zusammenspiel zwischen beiden eingelassen hätte, dabei auf jedes noch so kleine Detail eingehend, von dem ich dächte, dass es von Bedeutung sein könnte.

    Jan Brachmann braucht für die Beschreibung des Wesens dieses Liedes nur vier Sätze:

    „Das Klavier arbeitet an der Prosodie von Sprache mit. Die harmonischen Kadenzen, die es setzt, haben die Funktion von Satzzeichen. Am Ende der letzten beiden Strophen kommt die Singstimme jeweils zum Schluss, bevor das Klavier den Punkt setzt. Die prosodische Verzögerung des Satzendes schafft eine Irritation, um die es im Text geht: Die Erkenntnis, >dass mein Schatz so falsch könnt´ sein“, wird nicht als Affekt, sondern mit den Ordnungsparametern von Sprache bewusst gemacht.“

    Als ich das gelesen hatte, wurde mir schlagartig bewusst und drängte in dem Ausruf aus mir heraus: „Ich kann´s nicht!“
    Meine Liedbesprechungen sind ein einziges deskriptives Sich-Verzetteln in den Details der Faktur, aber den Wesenskern der Liedmusik erfassen sie nicht. Das kann man, wie Jan Brachmann es hier gezeigt hat, mit wenigen, die Sache treffenden Sätzen schaffen.
    Wenn man ihn denn erkannt hat.

    (Ich bitte um Entschuldigung für diese sehr persönlichen Äußerungen. Aber das musste gesagt werden!)

  • Zum heutigen Gedenken an Friedrich Hölderlin


    Hyperions Schicksalslied

    Ihr wandelt droben im Licht
    Auf weichem Boden, selige Genien!
    Glanzende Götterlüfte
    Rühren euch leicht,
    Wie die Finger der Künstlerin
    Heilige Saiten.

    Schicksallos, wie der schlafende
    Säugling, atmen die Himmlischen;
    Keusch bewahrt
    In bescheidener Knospe,
    Blühet ewig
    Ihnen der Geist,
    Und die seligen Augen
    Blicken in stiller
    Ewiger Klarheit.

    Doch uns ist gegeben,
    Auf keiner Stätte zu ruhn,
    Es schwinden, es fallen
    Die leidenden Menschen
    Blindlings von einer
    Stunde zur andern,
    Wie Wasser Voll Klippe
    Zu Klippe geworfen,
    Jahr lang ins Ungewisse hinab.


    Mit einem harten „doch“ setzt Hölderlin in diesem Gedicht die Lebenswelt des Menschen von der der „Götter“ ab. Sie „wandeln droben im Licht“, sind wesenhaft „schicksallos", und die Zeitlosigkeit ihrer Existenz drückt sich in dem die zweite Strophe beschließenden lyrischen Bild von den „seligen, in stiller ewiger Klarheit blickenden Augen“ aus. Die dritte Strophe mutet wie der überaus treffende lyrische Entwurf von der „Geworfenheit in Zeit“ an, wie die Existenzphilosophie das Wesen des menschlichen Seins verstanden hat. Heidegger hat eben dieses auf unübertreffliche und exakt den Kern treffende Weise in Worte gefasst: Die menschliche Existenz ist eine, die wesenhaft "offen steht in der Offenheit des Seins, in der sie steht, indem es sie aussteht". Und darin ist sie eine genuin zeitliche, ein „Sein zum Tode“.

    Hölderlin hat sich in seiner Lyrik, vor allem in der späten der freien Hymnen, immer wieder mit dieser Frage des Wesens der menschlichen Existenz auseinandergesetzt, und er hat, wie das in diesem Gedicht, das von ihm ganz bewusst in seinem Titel mit dem Wort „Schicksal“ überschrieben wurde, das in schonungsloser, ja radikaler Offenheit getan. Darin liegt die Größe seiner Lyrik, die ihr auch bis heute größte Relevanz verleiht.

    Und gerade höre ich die einzige große Vertonung, die ihr (neben der von Friedrich Theodor Fröhlich und Wilhelm Heinrich Riehl) im neunzehnten Jahrhundert zuteil geworden ist: Das „Schicksalslied“ von Johannes Brahms.



    Und ich stelle fest:

    So überaus klangschön und tief beeindruckend diese Komposition ist, - sie verweigert sich der Radikalität der Aussage dieses Gedichts. Zwar setzt sie diesen Gegensatz von Götter- und Menschenwelt auf markante Weise in Musik um, sie reflektiert aber nicht die lyrische Aussage, dass es, wie Hölderlin das hier sieht, keine wirkliche Überwindung der Kluft zwischen göttlicher und menschlicher Existenz gibt. Brahms lässt sie in einer Wiederkehr des orchestralen Vorspiels enden. Aber während sie in Es-Dur einsetzt, steht dieses nach einem Zwischenspiel in c-Moll in C-Dur.

    Er will damit, so hat er selbst bekundet, damit etwas sagen, „was der Dichter nicht sagt“. Und was ist das? Es ist eine Wendung der an der Antike ausgerichteten lyrischen Gedankenwelt Hölderlins ins Christliche, dies auf dem Hintergrund des Glaubens an die Menschwerdung Gottes, und damit der Versöhnung von Diesseits und Jenseits. Radikal schicksalhafte und darin unauflösliche Geworfenheit des Menschen war seine Sache als Mensch und Komponist zu keinem Zeitpunkt seines Lebens. Seine Liedkomposition spricht, wie ich darzustellen versucht habe, diesbezüglich eine deutliche Sprache.

    Jan Brachmann meint freilich (FAZ, 20.März 2020):
    „Und doch hat Brahms´ versöhnender Schluss etwas Kühnes: Er hört über die Zeit der Gottesferne, wie Hölderlin sie erfuhr, weit hinaus".
    In der Tat: So kann man sein „Schicksalslied“ hören.


  • Auf dieser neuen CD des französischen Baritons Stéphane Degout findet sich auch die Ballade "Edward" von Johannes Brahms. Sie beruht auf einem Text aus Schottland, den Johann Gottfried Herder für seine Volkslieder-Sammlung ins Deutsche übersetzt hat. Musikalisch hatte das Thema den Komponisten schon im der ersten seiner vier Klavier-Balladen op. 10 beschäftigt. Textlich griff er es in den Balladen und Romanzen für zwei Singstimmen und Klavier op. 75 wieder auf. Auch Carl Loewe hat diese Ballade vertont. Im Gegensatz zu ihn lässt Brahms mit verteilten Rollen singen. Dadurch wird die Interpretation eindeutiger. Bei Loewe hatte ich immer den Eindruck, als fühle sich der Sohn von der Stimme der Mutter, die er in seinem Innern hört, zum Mord am Vater angestiftet. Das ist en ein wenig wie bei Shakespeare.



    Kurz um. Auf der aktuellen CD singt die inzwischen fünfundsiebzigjährige Felicity Palmer die Mutter. Durch sie wird aus dieser Ballade fast schon eine Opernszene. Das hat große Wirkung, dürfte aber nicht so im Interesse von Brahms gelegen haben. Brigitte Fassbaender und Peter Schreier sind da in ihrer Einspielung für die Deutsche Grammophon viel dezenter. Insgesamt finde ich die Neuerscheinung höchst ambitioniert. Sie enthält vergleichend auch die Loewe-Version.



    Und hier noch die Textvorlage:


    Dein Schwert, wie ist's von Blut so rot?
    Edward, Edward!
    Dein Schwert, wie ist's von Blut so rot?
    Und gehst so traurig da? O!

    Ich hab geschlagen meinen Geier tot,
    Mutter, Mutter!
    Ich hab geschlagen meinen Geier tot,
    Und das, das geht mir nah. O!

    Deines Geiers Blut ist nicht so rot,
    Edward, Edward!
    Deines Geiers Blut ist nicht so rot,
    Mein Sohn, bekenn mir frei. O!

    Ich hab geschlagen mein Rotroß tot,
    Mutter, Mutter!
    Ich hab geschlagen mein Rotroß tot,
    Und's war so stolz und treu. O!

    Dein Roß war alt und hast's nicht not,
    Edward, Edward!
    Dein Roß war alt und hast's nicht not,
    Dich drückt ein andrer Schmerz. O!

    Ich hab geschlagen meinen Vater tot!
    Mutter, Mutter!
    Ich hab geschlagen meinen Vater tot,
    Und das, das quält mein Herz! O!

    Und was wirst du nun an dir tun,
    Edward, Edward?
    Und was wirst du nun an dir tun,
    Mein Sohn, das sage mir! O!

    Auf Erden soll mein Fuß nicht ruhn!
    Mutter, Mutter!
    Auf Erden soll mein Fuß nicht ruhn!
    Will wandern übers Meer! O!

    Und was soll werden dein Hof und Hall,
    Edward, Edward?
    Und was soll werden dein Hof und Hall,
    So herrlich sonst, so schön? O!

    Ach immer steh's und sink und fall!
    Mutter, Mutter!
    Ach immer steh's und sink und fall,
    Ich werd es nimmer sehn! O!

    Und was soll werden aus Weib und Kind,
    Edward, Edward?
    Und was soll werden aus Weib und Kind,
    Wann du gehst übers Meer? O!

    Die Welt ist groß, laß sie betteln drin,
    Mutter, Mutter!
    Die Welt ist groß, laß sie betteln drin,
    Ich seh sie nimmermehr! O!

    Und was soll deine Mutter tun,
    Edward, Edward?
    Und was soll deine Mutter tun,
    Mein Sohn, das sage mir? O!

    Der Fluch der Hölle soll auf euch ruhn,
    Mutter, Mutter!
    Der Fluch der Hölle soll auf euch ruhn,
    Denn ihr, ihr rietet's mir! O!

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

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  • … die inzwischen fünfundsiebzigjährige Felicity Palmer die Mutter. Durch sie wird aus dieser Ballade fast schon eine Opernszene. Das hat große Wirkung, dürfte aber nicht so im Interesse von Brahms gelegen haben. Brigitte Fassbaender und Peter Schreier sind da in ihrer Einspielung für die Deutsche Grammophon viel dezenter.


    Da liegst Du wohl richtig, lieber Rheingold, - mit Deiner Vermutung, dass dies keine Interpretation im Sinne von Johannes Brahms sein dürfte. Die ohnehin von ihm durch das Duett-Konzept auf hochgradig expressive Dramatik angelegte Ballade erfährt hier darin eine Steigerung, die das gute Maß überschreitet und die Schwäche dieser Komposition bloßlegt.

    Was wohl in Brahms gefahren war, es nach Loewe noch einmal mit dieser Ballade zu versuchen? Er kannte doch dessen Vertonung, orientiert sich ja sogar an ihr, und sollte eigentlich hinterher erkannt haben, dass er mit seiner Vertonung nicht an sie heranreicht. Das wundert mich bei ihm, war er doch als Komponist selbstkritisch wie kaum ein anderer.


    Irgendwie muss er von diesem Balladentext gefesselt gewesen sein. In einem Brief an Otto Dessoff (Juli 1877) bekennt er: "Ich brauche nicht viel zu sagen, wie einem das schöne Gedicht gar nie aus dem Sinn geht, wie man es einmal in gewissem Sinne loswerden muß."


    "Loswerden" musste er diese Ballade. Das war wohl der Grund, dass er sich ihr kompositorisch zuwandte. Er hatte sogar noch vor, eine Komposition für Chor und Orchester daraus machen. Gut, dass er - auf den Rat von Dessoff hin - davon abgelassen hat!


    Übrigens, - Du hast recht: Die Interpretation von Brigitte Fassbaender und Peter Schreier ist, weil beide sich im Ausdruck dramatischer Expressivität deutlich stärker zurückhalten und die Melodik in sorgfältig kontrollierter Weise vortragen, die mit deutlichem Abstand bessere.

    Für Interessierte hier die Möglichkeit zum Vergleich:


  • Lieber Helmut, herzlich danke ich Dir für Deine Reaktion auf meinen Beitrag. Sie ist erhellend. Ich habe dazu gelernt, denn ich wusste um dieses "Loswerden" nicht. Es ist auch sinvoll, die Aufnahme der Grammophon nachzuschieben. Ich wusste, dass man die bei YouTub findet, wollte meinen eigenen Beitrag aber nicht damit auch noch anreichern. Er war ja lang genug. Ich habe sogar die Sammlung auf CD in meinem Bestand.

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  • Zu Brahms: …wie man „das schöne Gedicht“ … „einmal in gewissem Sinne loswerden muß“

    Diese Äußerung von Brahms ist durchaus vielsagend, was die Genese der Liedkomposition bei ihm anbelangt. Ganz offensichtlich ist sie durch eine spezifische Form der Rezeption von Lyrik bedingt.
    Es scheint so zu sein, dass erst einmal eine intensive Begegnung mit dem lyrischen Text stattgefunden haben muss, dergestalt, dass er sich mit dessen Aussage, mit den Gedanken und Empfindungen, die dieser in ihm auslöst, intensiv beschäftigt und auseinandersetzt. Und als Ergebnis scheint sich dann erst der Wille einzustellen, aussagen zu wollen, was aus dieser Beschäftigung im emotionalen und kognitiven Bereich bei ihm hervorgegangen ist, - auszusagen in seiner Sprache, der liedmusikalischen eben.
    Das würde auch deren spezifische Eigenart erklären, die sich ja, wie oben in all den besprochenen Liedern aufzuzeigen versucht wurde, durch ein hohes affektiv-evokatives Potential auszeichnet.

    Es gibt sogar einen schönen Beleg dafür, dass diese Genese der Liedkomposition bei Brahms tatsächlich so verlief. Er hat ja sein Leben lang, wie man von Max Kalbeck weiß, in kleinen Notizbüchern Gedichte festgehalten, von denen er sich besonders angesprochen fühlte und die er möglicherweise später in Liedmusik setzen wollte. In einem dieser Büchlein findet sich dieser Text von Adelbert von Chamisso:

    Was mir im Busen schwoll, mir unbewußt,
    Ich konnt´ es nicht verhindern, ward Gesang.
    Zum Liede ward mir jede süße Lust,
    Zum Liede jeder Schmerz, mit dem ich rang.

  • Es scheint so zu sein, dass erst einmal eine intensive Begegnung mit dem lyrischen Text stattgefunden haben muss, dergestalt, dass er sich mit dessen Aussage, mit den Gedanken und Empfindungen, die dieser in ihm auslöst, intensiv beschäftigt und auseinandersetzt.

    Davon bin auch ich ausgegangen, lieber Helmut. Wernn es denn stimmt, dass sich Brahms bereits als Mitzwanziger in op. 10 mit der Ballade "Edward" auseinanderhgesetzt hat ...

    Musikalisch hatte das Thema den Komponisten schon im der ersten seiner vier Klavier-Balladen op. 10 beschäftigt.

    ... dauerte es bis zur vokalen Umsetzung nachmal zwanzig Jahre.

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  • Wenn es denn stimmt, dass sich Brahms bereits als Mitzwanziger in op. 10 mit der Ballade "Edward" auseinanderhgesetzt hat ...

    Es stimmt. Die erste Ballade des Opus 10 weist als einzige im Erstdruck eine vorangestellte Anmerkung auf, lautend:

    "Nach der schottischen Ballade: >Edward< (in: Herder´s >Stimmen der Völker<)"

    Brahms wurde durch Julius Allgeyer auf diese Herder-Sammlung aufmerksam gemacht.

    In der Musikwissenschaft wird die Auffassung vertreten, dass der spezifische, aus der Begegnung mit "Edward" sich ergebende balladeske Grundton sich auch auf die drei nachfolgenden Balladen ausgewirkt hat. Das Opus entstand im Sommer 1854.

  • Liebe Freunde,


    ich nehme dies zum freudigen Anlaß, auf Brahms´ "Schicksalslied" zu sprechen zu kommen. Ich möchte dazu ein wenig weiter ausholen. Einfach nur aus Freude an meiner Aufnahme des Stücks, unter Robin Ticciati mit den Bambergern und dem Chor des Bayerischen Rundfunks. Seit ewigen Zeiten schon begleitet mich Haitinks (Chor und SO des BR) Einspielung der Altrhapsodie, mit der unübertrefflichen Alfreda Hodgson, und der ganz wundervollen Nänie nach Schiller. Die neuere Ticciati-SACD ließ mich im Stillen zu dem Schluß kommen, daß das Münchner Chorensemble weltweit das beste ist für dieses spezielle Repertoire.


    Da ich bei weitem kein Hölderlin-Experte bin, erlaube ich mir, an die gewisse Nähe des Schicksalslieds zu der Engelmetaphorik in Rilkes reifer Lyrik zu rühren. Daß der Engel als Motiv der christlichen Weltanschauung zugehört, unterscheidet die beiden dichterischen Konzepte nicht so grundsätzlich, wie man meinen könnte. Es gibt ein Hölderlin gewidmetes hymnenartiges Gedicht aus Rilkes Spätzeit, das die Motivik des Schicksalsliedes durchaus aufgreift.


    Zuvor möchte ich auf die von Helmut referierte Erlösungsperspektive bei Brahms eingehen. Soweit ich mich erinnere, übersandte er das Manuskript der "Nänie" nach dessen Tod an die Mutter Anselm Feuerbachs, um ihr so zu kondolieren. "Auch das Schöne muß sterben" - "Auch ein Klaglied zu sein im Mund der Geliebten ist herrlich".


    Brahms überläßt, anders als Schiller, nicht dem Gemeinen das Schlußwort, das klanglos zum Orkus hinabgeht. Er funktioniert vielmehr das der Nänie den Titel gebende "Klaglied", zu dem sich im Fazit die Tränen der um ihre Toten Weinenden verdichten, zu einer Wesensbestimmung und damit Rechtfertigung aller, und deshalb auch: seiner Musik um. Ich fand das immer überwältigend. Schon die Lichtheit der ersten Chortakte, "Auch das Schöne muß sterben" hat etwas Jenseitiges, Klagloses. Aber in der für das letzte Verspaar aufgesparten Reprise enthüllt sich erst der Kern dieser Musik, die quasi das Tor zu einer anderen Welt aufstößt.


    Der Antikenkontext der Komposition ist demnach hybrid - wenn man etwa die Bedeutung Schillers für die Brahms-Zeitgenossen bedenkt oder sich, was nicht das Gleiche ist, Feuerbachs klassizistischen Malstil ins Gedächtnis ruft. Die "Nänie" bringt in gebildeter und etwas kataloghafter Form vieles zusammen, was zu musikalischen Kontrasten einlädt und aus den Skizzen von Adonis´ oder Achilles´ Tod zunächst die Apotheose der Thetis erwachsen läßt, gewiß eine stellvertretende Mater dolorosa in griechischem Gewande. Aber auch eine ergreifende Suggestion fern aller Bekenntnisse.


    Schillers Text entstand um 1800, fern der Zeitenwende, der Brahms sich näherte, als er 1881 die Komposition beendete. Aber auch die zehn Jahre zuvor erfolgte Vertonung des Hölderlingedichts greift weit zurück, und die Aneignung ist wie dort sehr persönlich.


    Um die oben behauptete Nähe Hölderlins zu Rilke zu belegen, möchte ich der behaupteten Starrheit der Entgegensetzung von Götter- und Menschenwelt entgegenhalten, daß die gedankliche Klammer des Textes wie folgt lautet:


    Ihr wandelt droben im Licht usw.

    ...

    Doch uns ist gegeben, auf keiner Stätte zu ruhn usw.


    Die Apostrophe zum Eingang und die durchgehaltene Perspektive "von unten" fügen sich, wie ich meine, bruchloser zusammen, als es andere meinen. Was sich hier durchhält, ist freilich nicht eine ungebrochene Kontinuität von irdischer uns göttlicher Welt, sondern die Kontinuität unserer menschlichen Existenz, die in die Welt geworfen wird, sterblich ist und doch hinausgreift über sich in eine höhere Welt.


    Wenn Rilke, im "Ange du Méridien" (und den Derivaten, etwa dem "Einsamen"), eine Existenzform entwirft, so muß man an die Unheimlickeit des "Leiermanns" der Winterreise zurückdenken, es ist auch ein Liebäugeln mit dem Abgrund. Hölderlins "Schicksalslied" vermeidet derartige Signale. Selbst die wie eingeschobene Mittelstrophe erinnert den einen oder anderen von uns vielleicht an Rungesche Tageszeiten, an den Morgen mit allen Attributen vom offenäugig schlafenden Säugling, knospender Flur und lichten Höhen, befremdlich in seiner seraphischen Sphärenmusik.


    Nicht erst das Adjektiv "keusch" weist dieses paradiesische Jenseits als verloren aus. Aber ich bin nicht berufen, Hölderlins Text angemessen auszulegen. Für mich interessant ist vor allem, wie inspiriert Brahms für diese unanschauliche, unbetretbare Welt bezwingende Töne findet. Wiederum ist der Textvorwurf vor allem Subtext einer Selbstrechtfertigung der Musik schlechthin.


    "Glänzende Götterlüfte/ rühren euch leicht

    Wie die Finger der Künstlerin/ heilige Saiten"


    Das menschliche Ohr ist demnach ein empfindliches Kontaktfeld zwischen dem Diesseits und dem Jenseits, und die Musik macht das Angewehtsein vom Ewigen menschlich erfahrbar. Die kontrastierend ausgemalte blinde Schicksalsheimat des Menschen wirkt bei Brahms erst recht kalt und routiniert-konventionell; keine Apotheose einer Meeresgöttin hat hier Platz. Aber die Rückkehr zum Verklärungsreich hat auch hier das letzte Wort, und ich habe große Zweifel, daß es ein Wort aus der Bibel ist.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!