Zitat von Sixtus:
"Als erste fallen mir da die Herren Idamante, Sesto und Tancredi ein - und, nicht zu vergessen: Glucks Orfeo (in der Wiener Fassung ein Kastrat, dann lange ein Monopol der Altistinnen, heute in Konkurrenz mit Falsettisten. Wobei sich ganz nebenbei die Frage aufwirft, welche Option der Intention des Komponisten am ehesten entspricht. "
Da es im 18. Jahrhudert vielfach üblich war, Rollen in entsprechenden Stimmlagen - je nach Verfügbarkeit - mit Frauen, Männern oder Kindern zu besetzten, scheint der Begriff "Hosenrolle" für die Oper dieser Zeit anachronistisch. Die Besetzung konnte sich nicht nur zwischen den Aufführungsserien ändern, unterschiedliche Präferenzen gab es auch in den verschiedenen europäischen Ländern. Eine "jugendliche" Rolle in einer internationalen Erfolgsoper wäre in Spanien von einer Frau gesungen worden, in England von einem Knaben, in Italien von einem Kastraten (und in Frankreich, sofern man sich auf "Ausländisches" eingelassen hätte, wäre die Rolle transponiert und einem Tenor überlassen worden...). Glucks Orfeo wurde von einem Kastraten kreiert, Cherubino von einem Sopran, die 3 Zauberflöten-Knaben von Kindern (die später aber über einen langen Zeitraum hinweg stets durch Sängerinnen ersetzt wurden). Was davon sind Hosenrollen?
Zitat von Hosenrolle1
"Mozart hat diese Partie [Cherubino] für eine Sängerin geschrieben."
Wissen wir dies so genau? Die Quellenlage ist problematisch, Teile des Autographen sind verschollen, Mozarts Briefe aus diesen Jahren ebenso. Die Uraufführung in Wien wurde zweifellos von einer Frau bestritten, doch war Mozart dies bereits klar, als er mit dem Verfassen der Partitur begann? Es wäre ja durchaus naheliegend, den pubertierenden Jüngling Cherubino, dessen Hauptcharakteristikum darin besteht, ein pubertierender Jüngling zu sein, mit einem ebensolchen zu besetzen. Nur waren Wiens bestausgebildete junge Sänger entweder in der Hofkapelle oder dem Domchor versammelt, und beide sakralen Institutionen untersagten ihren Mitgliedern die Beteiligung an Opernaufführungen (daher waren weder Haydn noch Schubert in der Lage, eine dauerhaft repertoirefähige Oper zu schreiben...). So mag Mozart, ganz im Geist seiner Epoche, eine pragmatische Entscheidung getroffen haben, die bei einer Uraufführung in London vielleicht anders ausgefallen wäre (welches gesangstechnische Niveau von den tatsächlich zur Verfügung stehenden Kindern zu erwarten war, zeigen die Partien der Zauberflöte).
Da Ponte wie Mozart werden gerne als letzte Exponenten des "erotischen Zeitalters in der Musik" apostrophiert - damit auch jener Zeit, in der es noch keine Rollentypologien gab, welche die Etablierung von expliziten "Hosenrollen" erst ermöglichte. Beethoven empfand die "Cosí" bereits als obszön, und der hier zitierte Kierkegaard steht natürlich in der Tradition des romantischen Musikschriftstellertums eines E.TA. Hoffmann, mit dem die Mythologisierung nicht nur der Werke, sondern auch der diesen entspringenden Figuren einsetzt. Da ist Cherubino dann eigentlich kein vom ersten Testosteronschub überrollter Teenager, der jedem Rock hinterherzusteigen trachtet, sondern "selbstverständlich" nur die Inkarnation begierdefreier Sinnlichkeit - immerhin lässt sich selbst im puritanischen 19. Jahrhundert der Charakter der beiden Cherubino-Arien nicht ganz überhören.
Zitat von Sixtus:
"Beim Cherubino ist über den philosophischen Spekulationen Kierkegaards wohl die ganz nüchterne Überlegung von Da Ponte und Mozart aus dem Focus geraten, dass mit diesem chaotischen, aber zugleich charmanten Knaben und seiner wild wuchernden Erotik ein dramaturgischer Katalysator das Geschehen der Komödie immer wieder beflügelt. "
Wundersamerweise stimme ich einmal mit Sixtus überein: Cherubino findet zwar keine Entsprechung in den klassischen Commedia-Figuren des 17. Jahrhunderts, doch durchaus im 18., wo das ursprüngliche Figurenensemble durch eine unorthodoxe, handlungsauslösende Rolle ergänzt wird. Freilich - wenn Hofmann und Kierkegaard schon aus den da-Ponte-Werken selbst tragische Opern machen, darf auch Cherubino keine komödiantische Figur sein. Dabei entspricht sie dem Typus, auch weil sie in ihrer Überforderung durchaus Mitgefühl evozieren kann und zugleich in ihrer Triebhaftigkeit problematische Seiten offenbart, die für die lebenszugewandten Autoren der Oper selbstverständlich sind, die Kirkegaard aber übergeht. Hingegen antizipiert Mozarts Musik gewissermassen, dass Cherubino Vater des unehelichen Kindes der Comtessa sein wird.
Der von Caruso41 angeführte Massenet ist in der Tat exemplarisch für die Hosenrollen des 19. Jahrhundert, die zwingend mit einer Frau zu besetzten sind. Freilich gibt es auch hier Beispiele für Entscheidungen, die offenbar den Umständen geschuldet sind. In der russischen Literatur finden sich etwa Rollen des Typus "junger Sohn", wie Wanja in "Ruslan" oder Fjodor in "Boris". Angesichts von Mussorgskys Realismus-Anspruch erschiene im letzten Fall eine Besetzung durch einen Knaben sinnvoll, zumal hier weder aparte Klangmischungen noch erotische Verwirrspiele relevant sind. Aus naheliegenden Gründen mangelte es in Russland jedoch an ausgebildeten Sängern im fraglichen Alter, so dass anspruchsvollere Rollen an Frauen vergeben wurden.
Während für das Publikum des 18. Jahrhunderts im süddeutschen Sprachraum die Besetzung einer Jünglingsrolle durch eine Frau nur knapp oberhalb der Wahrnehmungsgrenze gelegen haben dürfte, lieferte Strauss im Octavian seinem puristisch geprägten Publikum jene obligatorischen, pikanten Sensatiönchen, die er - in Varianten - schon in Salome und Elekta probiert hatte. Da lagen nicht nur ein junger Mann und eine ältere Dame unverehelichterweise gemeinsam im Bett, sondern zugleich zwei Frauen. Zudem ist Cherubino noch weit vom heiratsfähigen Alter entfernt, denn am Ende der Oper finden die drei "richtigen" Paare zusammen, Susanna/Figaro und Marzellina/Bartolo gehen die Ehe ein, doch wird Cherubino nicht mit Barbarina zusammengeführt. Cherubino ist offenkundig gerade erst von der Geschlechtsreife überfallen worden und weiss zunächst gar nicht so recht, wie er mit dieser neuen Errungenschaft umgehen soll. Somit hat er auch den Stimmbruch noch vor sich. Octavian hingegen wird uns bereits als erfahrener Liebhaber dargestellt (der erreicht hat, wovon Cherubino nur träumen kann), und scheint schliesslich eine "feste Beziehung" mit Sophie aufzunehmen. Strauss arbeitet also dezidiert mit mehrfacher Verfremdung, zumal Octavians hypothetische "natürliche" (Sprech-)Stimme die eines jungen Mannes wäre, während Cherubino quasi naturgemäss ein Sopran ist.
Zitat von Hosenrolle1
"[Cherubino] unterscheidet sich von den anderen Figuren, und vielleicht soll u.a. auch dieser Aspekt dadurch ausgedrückt werden, dass er nicht "konventionell" von einem echten Mann besetzt wird. In dem Stück sind alle Männer echte Männer, und alle Frauen echte Frauen. Nur Cherubino nicht."
Diese Bedingung erfüllt jedoch nicht nur eine Frau, sondern auch ein Knabe, wobei dann nicht nur die Rolle "weder Mann noch Frau" ist, sondern auch der Darsteller. Nach meiner Erfahrung neigen die Damen oft dazu, die - technisch nur mässig anspruchsvolle - Rolle des "männlichen Teenagers" entweder zu überzeichnen, was entsprechend karikierend wirkt, oder so feminin zu bleiben, dass der zumindest "anteilige" Jüngling gar nicht erst evoziert wird. Die Publikumsresonanz war jedenfalls sehr positiv, als ein alternierender Kollege und ich diese Rolle im "passenden" Alter verkörperten. Der „naive“, unmittelbare Zugriff auf die Rolle kam der Gestaltung wahrscheinlich entgegen. Auch da wurde wiederholt die Frage aufgeworfen, warum diese eigentlich naheliegende Alternativbesetzung derartig selten gewählt wird. Vielleicht können wir ja nachträglich zur Beantwortung der Frage beitragen?