Ich sehe in der Tat eine Entwicklungslinie vom Cherubino zum Don Giovanni,
Dazu zitiere ich Kaiser:
ZitatCherubinos besinnungslose (er bringt sich selbst in Gefahr) und rücksichtslose (aber auch andere) Schürzenjägerei hat den Vergleich mit Don Juan herausgefordert, dessen pubertäre Vorform er darstelle, oder mit dem Grafen Almaviva, der ja auch kaum ein weibliches Wesen, abgesehen vielleicht von der Gattin, in Ruhe lasse. Solche Vergleiche kränken Cherubino. Dieser junge Mensch liebt weder aus Langeweile noch aus Vergnügungssucht, weder aus purer Jägerslust am Überwältigen noch aus erotischem Männlichkeitswahn. Cherubino geht es beim Lieben immer auch um die andere Person, um die Sehnsucht. Er ist hingerissen vom weiblichen Geschlecht, das ihn lockt, verwirrt, unglücklich und glücklich macht. Cherubino kalkuliert nicht, er spielt sich beim Lieben nicht stolz oder protzig auf. Er folgt einem Trieb, als dessen verwirrtes Objekt er sich erfährt.
Dabei kann er aller Welt ganz hübsch auf die Nerven gehen. Aber Mozarts Musik steigert die Gestalt. Dieser Cherubino d´amore rührt alle Frauen und auch alle menschlich gebliebenen Männer, die ihre Pubertät noch nicht völlig verdrängt haben. Die Eindeutigkeit, die hitzige Bedinungslosigkeit seines Liebenmüssens sind für Cherubino weder bloß rauschendes Vergnügen, lustige Lust, erotische Diesseitigkeit, noch das düstere Gegenteil von alledem, also wahnsinnige Passion, höllisches Feuer, unendliches Transzendierenmüssen. Cherubino lebt erotische Ambivalenz. Die süße Not. Hitze und Kälte. Spielen und Weinen. Frechheit und Scham. Flottes Selbstbewußtsein und völligen Selbstverlust. In ihm äußert sich der Eros, aber kein clever-vergnügungssüchtiger Wille. Einem höchst gegensätzlichen Trieb unterworfen und doch reinste Einheit sein - das ist das Wunder Cherubino.
Und: Cherubino ist eine Hosenrolle, Don Giovanni nicht! Mozart hat hier eigentlich ein unwirkliches Wesen auf die Bühne gestellt, während Don Giovanni ein "echter" Mensch ist. Klar wird das auch damit zu tun haben, dass Cherubino noch ein Kind ist, aber Octavian ist kein Kind mehr, und dennoch eine Hosenrolle. Und einige erwachsene männliche Figuren in anderen Opern (vermutlich auch bei Mozart) sind ebenfalls Hosenrollen. Und wie gesagt, er ist später (bei Beaumarchais) immer noch an der Gräfin interessiert, und zeigt offenbar kein "Don Giovanni Verhalten" als Erwachsener. Auch wenn man natürlich einwenden muss, dass er im dritten Teil nicht mehr persönlich auftritt, aber dennoch, der Abschiedsbrief ist da. Ich glaube nicht, dass Don Giovanni, der noch dem steinernen Gast trotzen will, Abschiedsbriefe an Frauen schreiben würde, oder an EINE bestimmte Frau. Dafür ist er zu selbstverliebt, zu eitel, dafür sind Frauen für ihn zu uninteressant.
Das Argument mit der "drängenden" Musik ist schwierig, weil man sich gerade bei Mozart nicht auf das eigene Gefühl beim Hören der Musik verlassen sollte. Wichtiger wäre, was die Musik "sagt", im Sinne von rhetorischen Figuren. Ich bin sicher, dass es da Unterschiede gibt, aber das müsste man ziemlich aufwändig und detailliert auseinander nehmen, wenn man wirklich daran interessiert ist.
LG,
Hosenrolle1