Sinn und Unsinn von Hosenrollen

  • Problematisch wird es dann, wenn der Graf sympathisch-lächerlich ist, statt widerlich-lächerlich. Lies einmal, was Adelige zur Mozartzeit mit ihren Leibeigenen für Dinge angestellt haben ...


    Aber ich schweife vom Thema Hosenrollen ab. Wärst du denn dafür, Cherubino mit einem Jungen zu besetzen?




    LG,
    Hosenrolle1

  • Aber ich schweife vom Thema Hosenrollen ab. Wärst du denn dafür, Cherubino mit einem Jungen zu besetzen?




    LG,
    Hosenrolle1

    Ich wäre nicht dafür, es AUSSCHLIEßLICH so zu machen, wüsste aber auch nicht,was dagegen spräche! Nur, dass es Mozart/da Ponte so nicht vorgesehen hatten? Letztendlich ist ja auch nicht mehr nachvollziehbar, weswegen Cherubino von einer Sängerin dargestellt werden sollte. Vielleicht lag es tatsächlich am Mangel an anderen Möglichkeiten oder die Herren Autoren wollten ihre Geschlechtsgenossen im Publikum wirklich mit einem Blick auf Frauen eine on Hosen erfreuen...? Cherubino mit einem Jungen zu besetzen fände ich in jedem Fall eine interessante Idee, deren Umsetzung auf der Bühne ich mir gerne ansehen würde!

  • Übrigens würde ich mir durchaus auch einen Tenor in der Rolle des Cherubino anschauen! Ich wäre schön neugierig,wie das wirkt... Bei einem Countertenor hingegen würde ich passen! Die haben schon beinahe etwas Gruseliges. Vergleichbar damit, wenn eine Frau den Mund aufmachen und eine Bassstimme herauskommen würde...

  • Man sollte sich dabei immer nach der Partitur, den Regieanweisungen, aber auch nach dem Text richten, nie nach Inszenierungen!

    Voll erwischt, da hast Du natürlich recht...Gut, die Regieanweisungen sind da wirklich etwas dürftig, um nicht zu sagen langweilig...
    Aber ich muss da mal nachhaken: Hast Du denn den Eindruck, dass Cherubino zuwenig "geliebt" wird, bzw. sich zuwenig geliebt fühlen könnte? Dass er also tatsächlich von den Bewohnern der "Figaro- Welt" nur benutzt oder gar abgelehnt wird?

  • Ich bin ja generell kein Freund von Verfälschungen, sei es bei der Wahl der Instrumente, sei es durch Kürzungen, Textänderungen oder ähnliches; daher ist mir auch wichtig, dass die vom Komponisten (warum auch immer) gewünschte Besetzung eingehalten wird.


    An anderer Stelle habe ich aus einem Figaro-Opernführer zitiert, wo es hieß:


    Zitat

    Zu Mozarts Lebzeiten kam es trotz aller Bemühungen nicht mehr zu einer szenischen Aufführung. Erst 1806 wurde auf Betreiben Georg Friedrich Treitschkes, des Intendanten am Theater am Kärntner Tor, eine Neuproduktion des Werkes angesetzt, in deutscher Sprache und gegenüber dem Original stark verändert. So wurde das Werk z.B. mit dem Chor „Godiam la pace“ eröffnet. (...) Allerdings ging die offensichtliche Vorliebe für die Darstellung von Jünglingsrollen durch Sängerinnen so weit, dass bald auch ursprünglich für Tenor vorgesehene Rollen wie die des Tamino in der Zauberflöte von der singenden Damenwelt übernommen wurden. Primadonnen wie Anna Milder-Hauptmann, Beethovens erste Leonore, und die Altistin Marconi-Schönberger glänzten in Rollen des Belmonte, Titus und Tamino.


    Also an der Begeisterung an Hosenrollen wird schon etwas dran sein, zumal es ja damals tatsächlich unüblich war, dass man Frauen so sieht. Heute ist eine Frau in Hosen ja nichts Besonderes mehr. Nur finde ich solche Änderungen, die lediglich einen momentanen Publikumsgeschmack bedienen, auch nicht gut. Mozart wollte garantiert keinen weiblichen Tamino - ihn dennoch mit einer Sängerin zu besetzen ist für mich eine Bearbeitung, genauso wie wenn man eine Hosenrolle mit einem Mann besetzt.


    1690 schon schrieb Thomas Southerne im Epilog eines seiner Werke über die damals berühmte Hosenrollen-Darstellerin Susanna Mountford:


    Zitat

    You'l' hear with Patience a dull Scene, to see,
    In a contented lazy waggery,
    The Female Mountford bare above the knee.

    (zitiert im engl. Wiki)


    Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass Mozart auch, wie du sagst, ein bisschen die Vorliebe des Publikums für diese Rollen bedienen wollte. Aber sicher nicht nur das, auch musikalische Gründe wie die Stimmlage, schauspielerische Gründe (nach dem Motto "Besser eine erwachsene, erfahrene Darstellerin als einen echten Jungen, der vllt. eine Szene schmeißt"), oder eben künstlerische Gründe (die Hosenrolle als unwirkliches Wesen, ein "engelhafter" Cherubino der sich anmutig bewegt, etc.) könnten m.E. ausschlaggebend gewesen sein.



    Eine Oper ist natürlich etwas anderes als ein Theaterstück, aber Beaumarchais hat auch dazu in seinem ausführlichen Personenverzeichnis etwas geschrieben:


    Zitat

    Diese Rolle kann nur von einer jungen, sehr hübschen Frau gespielt werden, da wir an unseren Theatern keine wirklich jungen Männer haben, die ihre Feinheiten spüren. Äußerst schüchtern vor der Gräfin, ist er überall sonst ein charmanter Schlingel; der Grundzug seines Wesens ist ein unbestimmtes, unruhiges Sehnen. Er stürzt sich planlos, kenntnislos in die Männlichkeit und gibt sich voll jedem Erlebnis hin; er ist so, wie jede Mutter im Grunde ihres Herzens sich vielleicht ihren Sohn wünscht, obwohl sie dabei sehr leiden würde. Im ersten und zweiten Akt trägt er die silberbestickte Kleidung eines spanischen Hofpagen; um die Schultern einen leichten blauen Mantel, sein Hut ist mit Federn verziert. Im vierten Akt erscheint er mit Korsett, Rock und Kopfputz der jungen Bauernmädchen, die ihn mitbringen. Im fünften Akt eine Offiziersuniform mit Kokarde und Degen.




    LG,
    Hosenrolle1

  • Voll erwischt, da hast Du natürlich recht...Gut, die Regieanweisungen sind da wirklich etwas dürftig, um nicht zu sagen langweilig...


    Ich habe dir einmal die Arie "Venite, inginocchiatevi" in der Neuen Mozart Ausgabe verlinkt; wenn du drauf klickst, landest du direkt am Anfang der Arie und kannst hinunterscrollen: http://dme.mozarteum.at/DME/nm…05&gen=edition&l=1&p1=185


    Die Partitur enthält alle Regieanweisungen (im Gegensatz zu vielen anderen Versionen, die ich gesehen habe), allerdings nur auf italienisch. Ideal war für mich die deutsche Übersetzung (inkl. aller Regieanweisungen!) von Reclam.



    Aber ich muss da mal nachhaken: Hast Du denn den Eindruck, dass Cherubino zuwenig "geliebt" wird, bzw. sich zuwenig geliebt fühlen könnte? Dass er also tatsächlich von den Bewohnern der "Figaro- Welt" nur benutzt oder gar abgelehnt wird?


    Und das nicht zu knapp!


    Es fängt mit "Non piu andrai" an: kurz vor der Arie sagt Figaro zum zum Militär abkommandierten Cherubino, dass er ihn noch reden möchte, bevor er abfährt. Dann folgt die Spottarie, die Cherubino natürlich Angst macht. (Sogar in einem Opernführer habe ich gelesen: "An seiner pubertären Seelennot vergreift sich taktlos und martialisch Figaro, wenn er ihm künftige Ruhemstaten auf dem Feld der Ehre ausmalt statt galanter Schäferstündchen auf dem Lager der Liebe. In Wort und Ton ähnelt Figaro hier abermals fatal Almaviva und benimmt sich keinen Deut besser als sein Herr.")


    Im zweiten Akt, als der Page ins Zimmer der beiden Frauen kommt, nennt Susanna ihn "Soldat" oder so, und Cherubino sagt "Bitte nenn mich nicht so", woran Susanna sich aber nicht hält.


    Zitat

    SUSANNA: Herein, Herr Offizier.


    CHERUBINO: Oh, ruf mich nicht bei diesem verwünschten Namen! (...)


    Und kurz darauf:


    Zitat

    SUSANNA: Schnell zu uns, schöner Soldat: Figaro sagte Euch ...


    Hier merkt man schon, wie desinteressiert Susanna an dem Pagen und seinem Schicksal ist. Kommt seiner Bitte, ihn nicht so zu nennen, nicht nach, und redet dann sofort über ihre eigenen Pläne


    Ihr (und Figaro und der Gräfin) ist egal, ob Cherubino zum Militär muss, sie brauchen ihn nur momentan noch für ihre Zwecke ("Wir reden noch, bevor du abfährst"). Sie wollen ihn, im Gegensatz zu Barbarina, nicht verkleiden, damit er weiter im Schloss bleiben kann, sondern nur für ihre eigenen Pläne; was danach aus ihm wird ist dann egal.


    Bezeichnend ist auch diese Stelle nach Nr. 13:




    Hier kommt das Thema kurz auf das Patent und Cherubinos Zukunft zu sprechen - wird aber sofort desinteressiert beiseite geschoben, um die eigenen Interessen ("Hier die Haube" - "Beeil dich: ausgezeichnet") weiter zu verfolgen.


    Ein bisschen dumm verhält sich der Junge meiner Meinung nach aber auch; er hätte eher sagen sollen "Warum soll ICH euch helfen, damit IHR etwas davon habt, wenn euch völlig egal ist, was aus mir wird?". Er hätte merken müssen, dass er benutzt wird. Stattdessen macht er den ganzen Unsinn auch noch mit und lässt sich das gefallen.


    Und ich kann es nicht oft genug zitieren, Beaumarchais schrieb über seine Intention, den Figaro zu schreiben:


    Zitat

    „Laster, Missbrauch und Willkür ändern sich nicht, sondern verstecken sich unter tausend Formen hinter der Maske der herrschenden Sitten: diese Maske herunterzureißen ist die edle Aufgabe dessen, der sich dem Theater verschreibt. Ob er nun lachend oder weinend moralisiert (…) Man kann die Menschen nur verändern, indem man sie zeigt, wie sie sind."


    Da wundert es mich nicht, dass den beiden Frauen egal ist, was mit dem Pagen passiert. Ist ja nur ein kleiner Bediensteter, wen juckt das?


    Liebe gibt es für mich in diesem Schloss nicht, es wird nur geplant, intrigiert, berechnet und bedroht. Vielleicht lieben sich Figaro und Susanna, aber Cherubino liebt dort keiner. Ist ja nur ein wertloser Leibeigener.




    LG,
    Hosenrolle1

  • aber Cherubino liebt dort keiner. Ist ja nur ein wertloser Leibeigener.


    Lieber HR1, hier möchte ich ein wenig korrigieren. Ein Page war kein wertloser Leibeigener, sondern stammte meistens aus einem befreundeten Adelshaus. Deshalb wird er ja auch Offizier. Einen Leibeigenen hätte der Graf vermutlich verprügeln und dann aus dem Schloss werfen lassen.

    Gott achtet mich, wenn ich arbeite, aber er liebt mich, wenn ich singe (Tagore)

  • Lieber HR1, hier möchte ich ein wenig korrigieren. Ein Page war kein wertloser Leibeigener, sondern stammte meistens aus einem befreundeten Adelshaus. Deshalb wird er ja auch Offizier. Einen Leibeigenen hätte der Graf vermutlich verprügeln und dann aus dem Schloss werfen lassen.


    Da hast du natürlich Recht, das habe ich unwissentlich falsch dargestellt. Danke für den Hinweis!




    LG,
    Hosenrolle1

  • Du gehst ja ganz schön hart ins Gericht mit der ganzen Figaro- Familie...
    Ich sehe das schon ein bisschen anders, was sicher auch darin begründet sein mag, dass ich das Originalstück von Beaumarchais nicht kenne. Würde sich vergleichsweise sicher einmal zu lesen lohnen!
    Zu Cherubino wollte ich ursprünglich auch loswerden, dass es sich bei ihm keineswegs um "Fußvolk" handelt- aber da wurde mir ja zuvorgekommen....
    Dass er adliger Herkunft ist, geht allerdings leicht bei ihm unter. Einfach deswegen, weil er sich so ungezwungen inmitten der "Unterschicht" bewegt, vor der Gräfin "gar zu viel Ehrfurcht" und vor dem Schlossherrn eine- wahrlich nicht unbegründete- Angst besitzt.
    Dass eine militärische Laufbahn eine der gängigen Optionen für den Werdegang eines Schlosspagen war, mag auch ein Stück weit erklären, weswegen es alle so hinnehmen, dass der Graf eben diese Maßnahme benutzt, um sich des lästigen Mitwissers zu entledigen. Gut, er dürfte schon noch ein wenig jung sein...Aber völlig absurd ist es nicht!
    Im Fechten wurden die Jungs seines Standes ja damals schon früh unterrichtet, auch wenn sie noch keinen Degen tragen durften. Den gab es erst später, ich glaube mit 17? Darauf will ich mich nicht festlegen, leider habe ich es mit Zahlen nicht so... ?(
    Octavian (der ist siebzehn) trägt einen, aber offensichtlich noch nicht lange- sonst würde er ihn wohl nicht so nachlässig neben dem Bett der Geliebten vergessen (wofür er ja auch einen ordentlichen Rüffel ihrerseits kassiert...).
    Nun wende ich mich dann einmal Cherubinos "Unbeliebtheit" zu!
    Das dauert vermutlich einen Moment ;)

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  • Ach ja, das hätte ich jetzt beinahe vergessen! Auf die "Gartenszene" im vierten Akt würde ich später auch gerne noch einmal zurückkommen. Da beabsichtigt Cherubino ja ganz offensichtlich, seine "höhere Position" Susanna gegenüber auf ganz miese Weise auszunutzen! Gibt's diese Szene auch im Original von Beaumarchais? Es würde mich außerordentlich interessieren, weswegen dem bis dato so sympathischen Jungen von den Autoren des Stückes auf einmal ein dermaßen widerwärtiges Verhalten angedichtet wird...

  • Nun dazu, dass Cherubino angeblich keiner mag: Man betrachte gleich einmal seinen ersten Auftritt:
    Er platzt ganz selbstverständlich in Susannas Zimmer, um sich bei ihr über sein "Missgeschick" am Vorabend zu beklagen und sie um Hilfe zu bitten. Was er sicherlich nicht zum ersten Mal macht...
    Er nennt sie sehr vertraulich "mein Susannchen" und sie zieht ihn mit seiner Schwärmerei für die Gräfin auf! Ganz offensichtlich hat er sich ihr dahingehend anvertraut, denn er würde das sicherlich nicht an die große Glocke hängen. Das käme bei der Eifersucht des Schloßherrn wohl auch beinahe einem Suizidversuch gleich.
    Und zu dem Band, dass er ihr wegnimmt. Er hätte wahrscheinlich sogar das Recht, es ihr einfach zu entwenden. Immerhin besitzt er eindeutig die höhere Position , was auch klar daraus hervorgeht, dass sie ihn siezt, während er sie mit Du anredet. Nachdem sie es aufgegeben hat, ihn durchs Zimmer zu verfolgen und ihn dann wegen seiner "Unverschämtheit" tadelt (was ihr im Grunde sicher auch nicht zukommt!), bittet er sie freundlich "Ach, lass es mir doch!" Und sie lässt ihn gewähren.
    Als "Gegenleistung" erhält sie dann seine Kanzonette. Sicher nicht ohne Eigennutz seinerseits, denn sie soll sie ja "allen Frauen im Palast" vorlesen. Alerdings steckt in dem Liedchen ja wirklich ganz schön viel Herzblut, gelinde gesagt! So etwas würde man, gerade als Junge, wohl nicht leichtfertig jedem in die Hand drücken! Er vertraut also darauf, dass sie es wirklich nur für "seine Zwecke" benutzt (es eben allen Frauen vorzulesen) und es nicht gegen ihn verwendet, oder sich gar darüber lustig macht.
    Die Szene endet dann mit seiner ersten Arie- die ja wiederum sehr private Gedanken enthält! Man hätte sie ihn auch problemlos für sich allein auf der Bühne singen lassen können, was ja in einer Oper auch nicht unüblich wäre. Aber er singt sie Susanna vor! Warum sollte er das tun, wenn er nicht ein freundschaftliches Verhältnis zu ihr hätte?
    Ach ja, ein kleines Bonbon am Rande: Im italienischen Original redet er Susanna in dieser Szene zwischendurch mit "Schwester" an. Und auch das hat etwas äußerst Liebevolles, finde ich...

  • Und die Soldatenarie... Die ist zweifelsohne richtig gemein! Aber ich würde sie auch nicht dahingehend interpretieren, dass Figaro Cherubino nicht leiden kann. Da ist der Kerl (wie so oft in dieser Oper) einfach zur falschen Zeit am falschen Ort! Figaro ist, auf Deutsch gesagt, gerade richtig angefressen. Der erste Teil seines Ach so genialen Planes, den Grafen zu überlisten ist eben mit Pauken und Trompeten in die Binsen gegangen... Dem Grafen kann er nichts! Dafür kriegt Cherubino halt den ganzen Frust ab (ähnlich, wie Octavian am Ende des ersten Aktes vom "Rosenkavalier" die volle Breitseite des gesammelten Mänerhasses der guten Frau Marschall in ungebremst- und völlig unverdient- übergeknüppelt bekommt... Einfach, weil er so dumm war, sich noch von ihr verabschieden zu wollen, während sie gerade ihren Moralischen hat...)
    Es ist sicher kein besonders netter Zug von Figaro. Aber er ist halt auch nur ein Mensch...
    Und im übrigen hat er sich zuvor, gemeinsam mit Susanna für Cherubino eingesetzt, damit er im Schloss bleiben kann!
    Als der Graf sich aber nicht erweichen lässt, bitten beide "Wenigstens bis morgen!"
    Warum? Ich denke nicht, dass Figaro hier schon den Gedanken hatte, Cherubino als Handlanger für seine Pläne einzusetzen! Und Susanna schon gar nicht, denn die weiß zu diesem Zeitpunkt noch gar nichts davon.
    Er soll also zumindest noch bei der Hochzeit dabei sein!
    Warum sollte es aber beiden wichtig sein, dass der Junge bei diesem für die beiden so bedeutungsvollen Ereignis dabei ist, wenn sie ihn nicht leiden könnten bzw er ihnen gleichgültig wäre?

  • Du gehst ja ganz schön hart ins Gericht mit der ganzen Figaro- Familie...


    Das tat schon Beaumarchais in seinem Stück (s. Zitat).
    Das Stück ist WESENTLICH kritischer und politischer (und politisch brisanter) als die Oper, das stimmt schon.


    Da sagt Figaro etwa „Wir sind schließlich keine Soldaten, die für unbekannte Interessen töten und sich töten lassen“.
    Antonio sagt zur Gräfin, die ihn wegen seines Alkoholkonsums tadelt: "Ohne Durst trinken und jederzeit mit ´ner Frau ins Bett, das allein unterscheidet uns vom Tier, Madame.“


    Und bekannt ist natürlich auch der große Monolog des Figaro, der gegen den Adel schimpft. Alles das wurde in Mozarts Oper zensurbedingt weggelassen, war vielleicht vom Komponisten nicht mal erwünscht. Das weiß ich nicht.


    Aber natürlich gibt es viele Berichte, die zeigen, was damals für Scheußlichkeiten passiert sind, was sich der Adel da geleistet hat. Joseph II. reiste nach einem Bauernaufstand 1775 nach Böhmen und Mähren und machte sich selbst ein Bild von den Zuständen. Er schreibt:


    Zitat

    Da die Robotdienste ganz willkürlich verteilt werden, leben die Bauern ein wirkliches Sklavendasein … Sie sind rachitisch, mager und in Lumpen gekleidet … In den baufälligen Hütten schlafen die Eltern auf Stroh, die nackten Kinder auf den breiten Rändern der Lehmerde. Sie waschen sich nie, was die Ausbreitung von Epidemien fördert. Es gibt keinen Arzt, der sich um sie kümmert … Nicht einmal ihr persönliches Eigentum ist vor der Gier der großen Herren sicher. (…) An vielen Orten müssen die Leibeigenen ihrem Herrn seine kranken Hammel zu einem willkürlich festgesetzten Preis abkaufen. Auf jedem Dorfplatz oder vor jedem Schloß stehen Folterwerkzeuge. Widerspenstige Bauern werden ans Eisen geschlossen, man setzt sie dabei auf einen zugespitzten Pflock, der tief ins Fleisch einschneidet. An die Beine bindet man ihnen große Steinblöcke. Für die geringste Kleinigkeit bekommen sie fünfzehn Stockschläge. Der Leibeigene, der zur Arbeit zu spät kommt, sei es auch nur um eine halbe Stunnde, wird halb zu Tode geprügelt“


    80.000 Menschen sollen 1770 in Böhmen verhungert sein, 150.000 im benachbarten Sachsen (zitiert bei G. Born).


    Aus einem Figaro-Opernführer habe ich folgendes Zitat, wo es um das jus primae noctis geht, dessen Existenz nicht vollständig geklärt ist:


    Zitat

    „Als Madame de Pompadour bemerkte, dass ihr Herr und Gebieter das Interesse an ihr verlor, suchte sie eine Möglichkeit, sich unentbehrlich zu machen. Sie war es auch, die dem alternden Ludwig immer jüngere Kinder ins Bett legte, da nur noch ganz knackiges Fleisch seine Lust aufzustacheln vermochte. Rechtlich abgesichert war dieser ungeheure Kinderschacher nicht, aber die königliche Autorität brachte kritische Zungen schnell in der Bastille oder in einem anderen Gefängnis zum Schweigen. Angesichts solcher Zustände ist es nicht verwunderlich, dass sich die Franzosen stets für das jus primae noctis interessierten und auch an die Existenz des Rechts in alten Zeiten glaubten (…)“


    Auch finden sich noch weitere Geschichten in entsprechender Sekundärliteratur, die von unterschiedlichen Herrschern, über Vergewaltigungen berichten, über Adelige, die den Ehemännern die Möglichkeit boten, „eine Summe Geldes oder eine Anzahl von Kühen gemäß dem Wert der jungen Frau zu erstatten“.


    Shakespeare schreibt in seinem „Henry VI.“


    Zitat

    „Der stolzeste Peer im Reich soll nicht den Kopf auf den Schultern tragen, wenn er mir nicht Tribut entrichtet. Dieser Tribut soll darin bestehen, dass eine Jungfrau nicht heirathen soll, wenn sie mir nicht ihr Magdthum preisgiebt, bevor sie (die peers) es haben.“ (Zweiter Teil, Siebte Szene)


    Das ist natürlich Fiktion, und kein Tatsachenbericht, und ist auch kein definitiver Beweis darüber, ob es das jus primae noctis tatsächlich gab. Aber es zeigt einmal mehr, was für Zustände damals herrschten, denn Shakespeare wird sich so etwas ja nicht ausgedacht haben, weil die damaligen Adeligen und Herrscher so human und sozial waren …


    Abschließend noch einmal das Zitat von Beaumarchais:


    Zitat

    „Laster, Missbrauch und Willkür ändern sich nicht, sondern verstecken sich unter tausend Formen hinter der Maske der herrschenden Sitten: diese Maske herunterzureißen ist die edle Aufgabe dessen, der sich dem Theater verschreibt. Ob er nun lachend oder weinend moralisiert (…) Man kann die Menschen nur verändern, indem man sie zeigt, wie sie sind."


    In seinem Theaterstück kommt die Kritik an den damaligen Zuständen natürlich viel stärker heraus (weswegen in Wien auch die Aufführung, wenn auch kurioserweise nicht der Druck des Werkes) verboten war.


    In Mozarts Oper sind, wie gesagt, diese vielen kritischen Züge stark abgemildert worden, vieles findet sich überhaupt nur in der Musik, um durch die Zensur zu kommen.


    Aber natürlich gehe ich mit diesen Figuren hart ins Gericht, zum einen weil diese echten Berichte von damals zeigen, was da alles schiefgelaufen ist, zum anderen weil ich weiß, was die Intention hinter dem Stück war. Wenn du als Erwachsener oder gar als Kind im Dreck leben musst und von den Schergen der Herrscher geprügelt und gefoltert wirst, oder wenn du damals so ein Leben hattest, dann war so ein aufrührerisches Stück, wo eben diese Missstände angeprangert wurden, etwas Großartiges. Nach dem Motto „Endlich sagt einer was dazu, endlich zeigt einer, wie diese hohen Leute wirklich sind!“.


    Das geht aber heute natürlich verloren, weil wir nicht mehr diese Zustände von damals haben – da fällt es uns leicht, in der Oper oder sogar im Stück eine harmlose, lustige Komödie zu sehen, mit hübschen Kostümen und vielen Schnörkeln. Da sind uns dann plötzlich Figuren sympathisch, die gar nicht sympathisch gemeint sind, sondern angeprangert werden. Wir wollen hauptsächlich hübsche Bühnenbilder sehen, die Intentionen dahinter, die sozialkritischen Dinge interessieren uns schon weniger bis gar nicht - ist ja alles eh so lange her.


    Übrigens, kennst du Edgar Allan Poes Kurzgeschichte "The Mask of the Red Death" (Die Maske des roten Todes)?
    Die handelt davon, dass in einem Königreich die Pest wütet, ständig krepieren Menschen, aber ein selbstherrlicher König kümmert sich nicht darum und lässt sein Schloss abschotten und gibt ein riesiges, opulentes Fest; ausführlich wird geschildert, wie kunstvoll jedes einzelne Zimmer hergerichtet wird, mit kleinen Effekten und Farbspielereien, um die geladenen feinen Gäste zu erfreuen.
    Die Geschichte endet damit, dass ein seltsamer Gast plötzlich erscheint - der personifizierte rote Tod, und die ganze Gesellschaft ebenfalls stirbt.


    Ein bisschen ist das auch beim Figaro so: Wir haben es hier gut, was kümmern uns die da draußen?



    Ich sehe das schon ein bisschen anders, was sicher auch darin begründet sein mag, dass ich das Originalstück von Beaumarchais nicht kenne. Würde sich vergleichsweise sicher einmal zu lesen lohnen!


    Auf jeden Fall, allerdings möchte ich unbedingt von dieser fürchterlichen Übersetzung abraten, die ich kürzlich fand. Leider weiß ich den Namen des Übersetzers nicht mehr, sie stammt noch aus dem 19. Jahrhundert und ist völlig verfälschend; Text wird gekürzt oder hinzugedichtet, usw. Ich suche immer noch nach einer texttreuen Übersetzung!



    Dass eine militärische Laufbahn eine der gängigen Optionen für den Werdegang eines Schlosspagen war, mag auch ein Stück weit erklären, weswegen es alle so hinnehmen, dass der Graf eben diese Maßnahme benutzt, um sich des lästigen Mitwissers zu entledigen. Gut, er dürfte schon noch ein wenig jung sein...Aber völlig absurd ist es nicht!


    Ich finde den Gedanken an einen 12 jährigen Offizier schon ziemlich absurd, noch absurder aber den Grund, wieso er abkommandiert wird: ein erwachsener Mann will an eine 12 jährige rankommen, und wird durch Cherubino dabei gestört, und ist ansonsten selbst rasend eifersüchtig.
    Susanna selbst meint zu Beginn der Oper noch, dass der Graf müde ist, außerhalb des Schlosses zu "jagen" - ich will mir gar nicht vorstellen, was er da alles - seine Macht ausnutzend - getan hat, wenn man bedenkt, dass er sich sogar innerhalb des Schlosses schon an Kinder ranmacht.


    Nein, den Figuren ist nur ihr eigenes Anliegen wichtig, und dazu wird intrigiert, gelogen und betrogen, und halbe Kinder werden benutzt, bevor sie als Kanonenfutter weggeschickt werden.





    LG,
    Hosenrolle1

  • Dass der Graf ein absoluter Mistkerl ist, daran lässt sich tatsächlich nichts beschönigen! Es ist mir auch absolut unbegreiflich, weswegen die Gräfin an dieser Ehe überhaupt festhält! Was sie alles treibt, um "den Geliebten zurückzugewinnen"! Mir würde bei jeder Berührung schon speiübel werden bei dem Gedanken, wo er zuvor überall gewesen sein mag!
    Aber es ging ja jetzt um Cherubino und darum, ob er dort im Schloss lediglich der Spielball der Launen anderer ist und tatsächlich niemandem etwas an ihm liegt!

  • Da beabsichtigt Cherubino ja ganz offensichtlich, seine "höhere Position" Susanna gegenüber auf ganz miese Weise auszunutzen!


    Ich glaube nicht, dass er hier eine höhere Position ausnutzen möchte, er sagt ja nicht sowas wie "Wenn du das nicht machst, dann ..." oder "Ich bin auch adelig, du nicht, also gehorche mir". Vielmehr denke ich, dass er einfach nur frech und übermütig ist, ohne dabei an seinen Stand zu denken.



    Gibt's diese Szene auch im Original von Beaumarchais? Es würde mich außerordentlich interessieren, weswegen dem bis dato so sympathischen Jungen von den Autoren des Stückes auf einmal ein dermaßen widerwärtiges Verhalten angedichtet wird...


    Ich habe das Stück nicht vollständig gelesen, weil ich mich über die miserable dt. Übersetzung so aufgeregt habe. Ich weiß leider nicht, was da an dieser Stelle passiert :(
    Sein Verhalten kann ich mir, wie gesagt, auch nicht wirklich erklären. Vielleicht wird gezeigt, was für einen schlechten Einfluss diese Umgebung auf Cherubino hat, vielleicht wollte man die Hosenrolle auf der Bühne "männlicher", aggressiver zeigen, nach dem Motto "Eine Frau baggert eine andere an, das kommt sicher gut".
    Eine Möglichkeit, die mir einfiele, ist, dass das bewusst gemacht wurde im Wissen, dass eine Hosenrolle auf der Bühne selbst bei so einem Verhalten irgendwie "passiv" wirkt, niemals bedrohlich.


    Ein Beispiel dafür habe ich hier gefunden:



    Geh bitte mal auf 1:45. Das ist die Szene kurz vor der Arie "Non so piu". In dieser Inszenierung ist der Cherubino schon ziemlich zudringlich, an einer Stelle reißt er Susanna sogar das Papier in der Hand weg um sich ihr noch mehr zu nähern. Wäre das ein echter Mann, würde die Szene garantiert anders wirken; weil es aber eine Frau ist, wirkt es zumindest auf mich irgendwie nicht bedrohlich oder ungut.



    So etwas würde man, gerade als Junge, wohl nicht leichtfertig jedem in die Hand drücken!


    Cherubino aber schon - der springt ja sogar leichtfertig und spontan aus dem Fenster, und überlegt auch sonst nicht viel, was seine Handlungen für Konsequenzen haben könnten. :)
    Und er MÖCHTE ja, dass dieses Lied allen Frauen im Schloss vorgelesen wird.



    Ach ja, ein kleines Bonbon am Rande: Im italienischen Original redet er Susanna in dieser Szene zwischendurch mit "Schwester" an.


    Vielleicht auch ein kleiner, witzig gemeinter Hinweis der Autoren auf das wahre Geschlecht von Cherubino?



    Und im übrigen hat er sich zuvor, gemeinsam mit Susanna für Cherubino eingesetzt, damit er im Schloss bleiben kann!
    Als der Graf sich aber nicht erweichen lässt, bitten beide "Wenigstens bis morgen!"
    Warum? Ich denke nicht, dass Figaro hier schon den Gedanken hatte, Cherubino als Handlanger für seine Pläne einzusetzen!


    Ich glaube schon, denn warum "wenigstens bis morgen"? Was ist morgen anders als heute?
    Ich denke, dass er damit meint "Wenigstens bis morgen, damit wir ihn noch für unsere Pläne einsetzen können".




    LG,
    Hosenrolle1

  • Aber es ging ja jetzt um Cherubino und darum, ob er dort im Schloss lediglich der Spielball der Launen anderer ist und tatsächlich niemandem etwas an ihm liegt!


    Mit diesen Dingen wollte ich nachvollziehbar machen, wieso ich (und Beaumarchais) mit diesen Figuren hart ins Gericht gehe. Solche Figuren haben kein Interesse an einem jungen Pagen und was aus ihm wird, dafür werden sie als zu sehr mit sich selbst beschäftigt dargestellt.


    Vergiss die Szene nicht, wo Susanna fragt, worum es geht, die Gräfin sagt "Das ist das Patent", und Susanna meint nur "Das ging aber schnell.", um sich dann sofort wieder um ihr eigenes Anliegen zu kümmern.




    LG,
    Hosenrolle1

  • Ich kenne die von dir erwähnte Inszenierung, ich besitze sie auf DVD und liebe sie!!!Gerade, weil Harnoncourt hier so differenziert die Beziehungen zwischen Cherubino und "seinen" Frauen herausarbeit. Ich gehe davon aus, dass du sie nicht komplett kennst, denn du hast sie bereits zuvor einmal erwähnt, und soweit ich mich erinnere war davon die Rede, dass du nur zufällig 'reingeschaltet hast...
    Zur Erklärung also:
    Bei Susanna ist von Anfang an klar: Die beiden haben ein überaus inniges, aber in keinster Weise erotisches Verhältnis! Die genannte Szene hat im Kontext betrachtet überhaupt nichts Bedrohliches, und Cherubino ist auch nicht aggressiv! Das Blatt in Susannas Hand ist die Kanzonette, die er ihr gegeben hat. Sie knalt ihm das Papier mehr oder weniger ins Gesicht, beim Versuch, es zu lesen, daher schlägt er ihre Hand herunter. Er ist zweifellos sehr aufdringlich, drängt sich n sie und schnurrt sie mit lasziv- verführerischer Stimme an sie solle die Kanzonette "allen Frauen im Schloss"usw...
    Das Ganze wirkt aber nur tapsig ungeschickt, und es ist klar, dass Cherubino hier versucht, Susanna mit den "Waffen eines Mannes" zu beeindrucken, was aber gnadenlos daneben geht. Sie ignoriert sein Machogehabe ja auch komplett und bleibt völlig ungerührt.
    Im übrigen ist dies auch das erste und einzige Mal, dass Cherubino so etwas an Susanna austestet. Ansonsten betüddelt sie ihn wie einen kleinen Jungen, und er geht bereitwillig darauf ein (außer später vor der Gräfin, da ist ihm das offensichtlich peinlich!). Sie beobachtet ihn beim "Non so piu" die ganze Zeit mit liebevollen Lächeln (Andere Susannas gehen an dieser Stelle an ihre Arbeit zurück, schütteln den Kopf, amüsieren sich usw.) Als er geendet hat, beginnt er zu lachen, legt den Kopf in ihren Schoß und sie wuschelt ihm durch die Haare, kitzelt ihn an der Nase usw.
    Als er in ihrem Zimmer entdeckt wird und der Graf immer weiter auf Susanna eindringt, nähert sie sich Cherubino, greift nach seiner Hand und sie nehmen sich in die Arme! Sie beschützen sich da also gegenseitig!
    Die ganze Inszenierung ist voll solcher Gesten sobald Susanna und Cherubino gemeinsam auftreten.
    Worauf ich hinaus will?
    Noch einmal auf die ominöse Gartenszene! Denn da immer wieder die Rede davon war, dass Cherubino als "echter Mann" bedrohlicher wirken würde, muss ich hier tatsächlich sagen, dass ich sie bisher in keiner anderen Inszenierung als so bedrohlich empfunden habe! Und Liliana Nikiteanu ist vielleicht nicht gerade zierlich, aber ja doch Recht klein und vom Aussehen sehr jungenhaft. Eva Mei ist ein ganzes Stück größer und etwas korpulent, und trotzdem wirkt es glaubhaft, dass sie sich gegen den aufdringlichen Jungen tatsächlich nicht zur Wehr setzen kann. Er drängt sie am Ende sogar zu Boden, und der hinzukommende Graf zieht ihn quasi von ihr herunter und schubst ihn weg.
    Der Bruch zwischen dem vorher demonstrierten Verhalten Cherubinos Susanna gegenüber und dieser überaus aggressiven Zu dringlichkeit war so prägnant, dass ich ungelogen erst einmal fassungslos vor dem Fernseher saß und mich fragte, was der Regisseur damit beabsichtigt hat!
    Fazit: Es ist gar nicht zwangsläufig ein erwachsener Mann nötig, um ein Gefühl von Bedrohung hervorzurufen...

  • Ach, noch dazu, dass Cherubino hier nicht seine höhere Position ausnutzen will. Er sagt eindeutig: "Warum darf ich nicht tun, was der Graf wohl jederzeit macht?"
    Das ist natürlich generell eine bodenlose Unverschämtheit. Aber hier scheint es mir schon so zu sein, dass er tatsächlich sagen will: "Wenn du vor dem Grafen dahingehend parierst, warum nicht auch vor mir? Was macht mich denn schlechter?" Also schon eine Anspielung auf den gesellschaftlichen Stand!

  • Bei Susanna ist von Anfang an klar: Die beiden haben ein überaus inniges, aber in keinster Weise erotisches Verhältnis! Die genannte Szene hat im Kontext betrachtet überhaupt nichts Bedrohliches, und Cherubino ist auch nicht aggressiv!


    Ich versuche das zu präzisieren: mir ging es vor allem um die Zudringlichkeit von Cherubino in dieser Inszenierung, in dieser Szene. Das Wegschlagen des Blattes ist ja auch ziemlich ruppig und schnell, und auch wie "er" sich mit dem Gesicht ihrem Gesicht nähert. Hier wird er, anders als in manch anderen Inszenierungen, doch irgendwie "erwachsener" dargestellt, weniger kindlich. Zumindest in dieser einen Szene.



    Als er in ihrem Zimmer entdeckt wird und der Graf immer weiter auf Susanna eindringt, nähert sie sich Cherubino, greift nach seiner Hand und sie nehmen sich in die Arme! Sie beschützen sich da also gegenseitig!


    Solche Einfälle finde ich bei diesem Stück ziemlich daneben, weil es die Figuren romantisiert. In einer anderen Inszenierung kam kurz vor "Non piu andrai" Barbarina auf die Bühne und hat Cherubino schützend festgehalten gegen die anderen, erwachsenen Figuren. Das finde ich noch eher glaubhaft.



    Noch einmal auf die ominöse Gartenszene! Denn da immer wieder die Rede davon war, dass Cherubino als "echter Mann" bedrohlicher wirken würde, muss ich hier tatsächlich sagen, dass ich sie bisher in keiner anderen Inszenierung als so bedrohlich empfunden habe!


    Das ist tatsächlich schwer zu erklären ...


    Es spielt - und ich spreche hier natürlich nur von meinen persönlichen Eindrücken! - sicher eine große Rolle, dass man im Hinterkopf hat, dass dieser "Mann" oder diese männliche Figur auf der Bühne in Wirklichkeit das gleiche Geschlecht hat wie die Frau, die da angebaggert wird. Auch auch körperlich ist das ganze natürlich "passiver" als bei einem Mann, ohne da ins Detail gehen zu wollen.
    Dazu spielen die Bewegungen für mich auch eine Rolle, die wirken auf mich bei Hosenrollen selbst bei stürmischen Gesten, selbst beim frechen Nachstellen anderer Frauen, nicht "bedrohlich" oder aggressiv oder "ungut", wenn man so möchte, weil nicht nur das Aussehen der Figur, sondern auch die Bewegungen "anmutiger" sind, unwirklicher, unrealistischer.



    Manche witzige (oder witzig gemeinte) Regieeinfälle werden für meinen Geschmack erst dann witzig, wenn es sich um eine Hosenrolle handelt. Ein Beispiel: ich sah vor längerer Zeit auf YouTube eine Figaro-Inszenierung aus Madrid. Die Kostüme und Kulissen waren altmodisch, also keine Modernisierungen. Während der Arie "Venite, inginocchiatevi" hat Susanna Cherubino verkleidet; gegen Ende der Maskerade hat sie ihm noch eine Art langen Schal, ein langes Tuch oder so um den Hals gelegt, und die beiden Enden in den Rock gesteckt, wobei sie - so war die Inszenierung gedacht - mit der Hand in den Rock hineinfährt, und Cherubino darauf auch reagiert und sich geschwind zurückzieht. Susanna hat das natürlich absichtlich so gemacht in dieser Inszenierung, vermutlich um kurz mal fummeln zu können.
    Auf jeden Fall hätte dieser kleine frivole Gag für mich mit einem echten Mann überhaupt nicht funktioniert, weil Cherubino aber eine Hosenrolle ist, hat es irgendwie witzig und doch harmlos gewirkt.
    Selbst bei Inszenierungen, wo Cherubino schon übertrieben unverschämt ist und er den Damen etwa direkt auf die Brüste fasst, nehme ich natürlichwahr, dass die FIGUR unverschämt ist, und dass dieses Verhalten nicht in Ordnung ist. Aber die reine WIRKUNG ist eine andere als wenn ein echter Mann das tut.





    LG,
    Hosenrolle1

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  • Vergiss die Szene nicht, wo Susanna fragt, worum es geht, die Gräfin sagt "Das ist das Patent", und Susanna meint nur "Das ging aber schnell.", um sich dann sofort wieder um ihr eigenes Anliegen zu kümmern.

    Diese Szene würde ich jetzt nicht überbewerten, denn hier drängt nun einmal die Zeit!
    Außerdem: Chetubinos Arm wird nachher von der Gräfin persönlich (!) verpflastert (was ihn sicherlich überaus freut!), obwohl die Wunde ja wahrscheinlich längst nicht mehr blutet...
    Und die Gräfin schickt Susanna mit den Worten weg: "Wenn Du das Kleid holst, brige auch ein anderes Band mit!" Sicher, es kommt nicht mehr dazu, weil auf einmal der Graf interveniert. Aber die Gräfin hatte offenbar vor, Cherubino ein anderes Band mitzugeben als Ersatz für das andere, welches sie "wegen der Farbe" nicht gerne missen wollte.
    Und im nächsten Moment liegt er dann in ihren Armen und weint herzzerreißend, weil er sie nicht verlassen möchte. Gut, ihr fällt da auch nichts wirklich Tröstendes ein, aber was soll man auch in einer solchen Situation zu einem Dreizehnjährigen mit Todessehnsucht sagen? Und immerhin schiebt sie ihn ja auch nicht weg...
    Ach ja, zu dieser Szene fällt mir noch etwas ein! Kurz bevor Cherubino ins Zimmer kommt, meint die Gräfin: "Warum ist denn der Junge nicht selber zu mir gekommen?"
    Was indiziert, dass es durchaus üblich für ihn ist, so etwas zu tun (Immerhin ist sie auch seine Patin!). Er ist ihr also nicht egal!
    Warum er in diesem speziellen Fall nicht gleich zu ihr gekommen ist?
    Vielleicht, weil er vor der Gräfin doch "schrecklich viel Ehrfurcht" hat und er sich deswegen lieber bei Susanna aussprechen wollte?
    Oder weil er der Gräfin nicht unbedingt auf die Nase binden wollte, dass der Graf ihn bei Barbarinas erwischt hat?
    Wie es auch immer sie, es zeigt doch, dass er Zutrauen zu beiden Frauen hat!

  • Eine kleine Randbemerkung noch hierzu:


    Ich kenne die von dir erwähnte Inszenierung, ich besitze sie auf DVD und liebe sie!!!Gerade, weil Harnoncourt hier so differenziert die Beziehungen zwischen Cherubino und "seinen" Frauen herausarbeit. Ich gehe davon aus, dass du sie nicht komplett kennst


    Das stimmt, ich kenne lediglich diese Nummer, sowie das "Voi che sapete" und die nachfolgende Arie von Susanna mit dem Verkleiden. (Der kleine Gag mit dem Korsett, das er sich auf den Kopf setzen will, fand ich ganz gut)


    Das hat v.a. den Grund, dass ich generell Aufführungen ablehne, die nicht HIP sind. Mozart möchte ich ausschließlich auf period instruments hören. Ich höre mir natürlich einzelne Arien an, wegen dem Gesang, oder wegen der Inszenierung, da blende ich die Musik, die da läuft, auch aus.


    Was mich bei dieser Inszenierung gewundert hat ist, dass auch hier ein bisschen verkleidet wurde, denn Harnoncourt meinte in einem Interview zu einer anderen Inszenierung:


    Zitat

    HARNONCOURT: Die Arie der Susanna „Venite, inginocchiatevi“ ist für mich ein stummes Terzett (Susanna, Gräfin, Cherubino), in dem eigentlich das Orchester die Hauptstimme hat. Es ist ein Beziehungsstück zwischen den dreien, vieles wird da nur im Orchester gesagt – das hat nichts mit dem üblichen Verkleidungsklamauk zu tun, deswegen habe ich den Regisseur angefleht, die Verkleidung vorher zu machen.


    Solche Aussagen sind leider typisch für ihn: er stellt eine Meinung über die Musik in den Raum, geht aber überhaupt nicht genauer darauf ein. Dabei hätte mich sehr interessiert, wieso er das als "stummes Terzett" sieht. WAS, bitte, wird da im Orchester gesagt? Auch seltsam, dass er nur mit der Musik allein begründet, wieso nicht verkleidet werden soll - das wäre einfacher gegangen, indem er gesagt hätte "In der Partitur steht deutlich, dass nicht verkleidet wird".


    Was mir aber wiederum zumindest an dieser verlinkten Stelle gefallen hat war, dass die Rezitative nicht, wie man es leider öfter hört, möglichst exakt nach den Noten gesungen, sondern sehr lebendig gestaltet wurden, wo eine Melodie auch mal immer langsamer wird, usw. Auch dazu eine Stelle aus dem selben Interview:


    Zitat

    KAISER: Es gibt das Vorurteil, dass Rezitative langweilig seien, weil das Publikum die Texte sowieso nicht versteht, und die Sänger alles im gleichen Tempo singen. Sie haben die Rezitative so angelegt, dass fast jeder Takt ein anderes Tempo hat, und man merkt, dass man dabei etwas über die Seelen der handelnden Personen erfährt.


    HARNONCOURT: Wir folgen ausschließlich dem Sprachrhythmus. Die notierten Notenwerte spielen praktisch keine Rolle. – Und so wurde das zu Mozarts Zeit auch gelehrt.




    LG,
    Hosenrolle1

  • Ich versuche es jetzt einmal ohne Zitieren, denn das klappt übers Smartphone irgendwie nicht richtig.
    Du erwähnst eine Inszenierung, in der Barbarinas vor der Soldatenarie auf die Bühne kommt. Du meinst aber nicht die Verfilmung von Ponelle, oder? Da umarmt sie ihn zwar, aber die beiden knutschen dann ziemlich dreist hinter seinem Hut versteckt herum...So lange, bis der Graf hinzutritt und sie wegschickt, wobei sie dem Grafen beim Abgang noch ein kokettes Lächeln zuwirft.
    Aber ein Einwand: Warum sollte es denn glaubwürdiger sein, wenn Barbarina Cherubino in den Arm nimmt anstelle von Susanna? Und warum ist das nicht "romantisierend"?

  • Diese Szene würde ich jetzt nicht überbewerten, denn hier drängt nun einmal die Zeit!

    Das stimmt, wobei, warum lässt Susanna Cherubino erst sein Lied vorspielen? (Ich glaube, dass das eines dieser typischen Opern-Logiklücken ist. In Mozarts Entführung betäubt Pedrillo Osmin, doch statt dass die Helden nun gemeinsam fliehen, singen sie ewig lang herum, bis Osmin erwacht und ihren Plan vereitelt. Beim ersten Mal hören habe ich mir sofort gedacht "Haut doch ab! Was singt ihr da jetzt ewig herum, Osmin kann jeden Moment aufwachen")


    Und die Gräfin schickt Susanna mit den Worten weg: "Wenn Du das Kleid holst, brige auch ein anderes Band mit!" Sicher, es kommt nicht mehr dazu, weil auf einmal der Graf interveniert. Aber die Gräfin hatte offenbar vor, Cherubino ein anderes Band mitzugeben als Ersatz für das andere, welches sie "wegen der Farbe" nicht gerne missen wollte.

    Da bin ich mir auch nicht sicher. Es stimmt, die Gräfin weist Susanna an, ein neues Band zu holen, aber dennoch bin ich mir unsicher. Es gibt da folgenden Dialog:



    Für mich sieht das eher so aus, als wolle sie ihm nur auf die Schnelle (weil die Zeit ja drängt) den Arm verbinden, und weil sie ihr Band selbst behalten möchte, sagt sie zu Susanna, sie soll schnell eines holen. Sie sagt auch "Dieses ist besser" - ihr geht es m.E. nur um den praktischen Nutzen, und aus dem nachfolgenden Dialog sieht man auch, dass sie nicht weiß, warum Cherubino gerade dieses Band haben möchte.



    Und im nächsten Moment liegt er dann in ihren Armen und weint herzzerreißend, weil er sie nicht verlassen möchte. Gut, ihr fällt da auch nichts wirklich Tröstendes ein, aber was soll man auch in einer solchen Situation zu einem Dreizehnjährigen mit Todessehnsucht sagen? Und immerhin schiebt sie ihn ja auch nicht weg...


    Ich habe mir die Szene in der NMA nochmal angesehen.


    Cherubino liegt nicht in ihren Armen; laut Regieanweisung kniet er vor der Gräfin, die sich ihr Band ansieht, und beobachtet sie aufmerksam. Erst als er weint heißt es, dass sie ihn "con affanno e commozione", etwa "mit Sorge und Rührung" ansieht und ihm die Tränen trocknet. Von Umarmungen oder ähnlichem steht da nichts. Er wird nach wie vor da knien und weinen, und sie trocknet ihm die Tränen und sagt ihm, dass er vernünftig sein soll. Also doch eher distanziert.



    Ach ja, zu dieser Szene fällt mir noch etwas ein! Kurz bevor Cherubino ins Zimmer kommt, meint die Gräfin: "Warum ist denn der Junge nicht selber zu mir gekommen?"

    Wozu? Was hätte sie tun sollen?



    Wie es auch immer sie, es zeigt doch, dass er Zutrauen zu beiden Frauen hat!

    Oder auch zu naiv ist um zu sehen, dass er benutzt wird.




    LG,
    Hosenrolle1

  • Was Harnoncourt damit meint, dass gerade dieses Stück ein "stummes Terzett sei, erschließt sich mir jetzt auch nicht...Bis jetzt habe ich da das Orchester immer nur als "begleitend"empfunden.
    Wobei bei der erwähnten Inszenierung mit Liliana Nikiteanu gerade bei diesem Stück ja wirklich in jeder Sekunde etwas passiert! Cherubino wird gepudert, geschminkt, gestylt, dass ihm Hören und Sehen vegeht,das ganze wirkt bis ins kleinste Detail geplant und passend zur Musik. Da sind Darstellung und Musik wie ich finde gleichwertig!
    Gerade hier fand ich es wunderbar differenziert dargestellt (um noch einmal darauf zurückzukommen) wie Cherubino zu beiden Frauen steht: Er lässt das ganze Geschminkt und Gepudere von Susanna sich ergehen und pariert bei jeder Anweisung, sei es der Kussmund beim Lippenschminken oder das "Sehen Sie mich an!"
    Kaum legt aber die Gräfin Hand an, verändert sich die Atmosphäre. Sie macht nichts weiter, als nochmals den Kragen zu richten und das Dekolletee zu pudern. Aber der Blickwechsel zwischen den beiden signalisierte deutlich, dass da etwas im Gange ist.
    Ich sehe diese Szene immer wieder gerne, weil hier wirklich alles zusammenpasst!

  • Da wir gerade darüber reden, was im Orchester gesagt wird... Nochmals zur Gartenszene: Mich hat es immer irritiert, dass die Musik hier die ganze Zeit über einen verspielten Charakter behält! Gut, die Gräfin ist ja zu keiner Zeit wirklich in Gefahr, da sie ja von allen Seiten observiert wird. Das weiß aber Cherubino nicht! Ob es sein kann, dass Mozart diese Szene tatsächlich nur als witzig empfunden hat (was sie, wie ich finde, überhaupt nicht ist!)?

  • Du erwähnst eine Inszenierung, in der Barbarinas vor der Soldatenarie auf die Bühne kommt. Du meinst aber nicht die Verfilmung von Ponelle, oder? Da umarmt sie ihn zwar, aber die beiden knutschen dann ziemlich dreist hinter seinem Hut versteckt herum...So lange, bis der Graf hinzutritt und sie wegschickt, wobei sie dem Grafen beim Abgang noch ein kokettes Lächeln zuwirft.


    Puh, das weiß ich leider nicht mehr, ist schon eine ganze Zeit her. Ich weiß nur, dass Cherubino auf einem Stuhl saß, und Barbarina kam dann dazu und hat ihn da gehalten, immer noch auf dem Stuhl sitzend. Aber es kann gut sein dass es die Inszenierung war von der du redest.



    Aber ein Einwand: Warum sollte es denn glaubwürdiger sein, wenn Barbarina Cherubino in den Arm nimmt anstelle von Susanna? Und warum ist das nicht "romantisierend"?


    Zur ersten Frage: ich fände es deswegen glaubwürdiger, weil Barbarina Cherubino doch liebt (denke ich mal), und sich auch für ihn einsetzt, indem sie ihn verkleidet. Von Susanna kamen bislang nur spottende Worte, und ihr liegt mehr an ihren eigenen Interessen.


    Zur zweiten Frage: es wäre sicher auch irgendwie romantisierend, aber würde innerhalb des Stücks - wenn man bedenkt, dass Barbarina es ist, die Cherubino helfen möchte, und nicht Susanna - doch glaubhafter sein, wenn Barbarina ihn hält, und nicht Susanna.




    Darf ich übrigens an dieser Stelle anmerken, dass diese Diskussion hier eine der besten ist, die ich bislang geführt habe? Diesen Meinungsaustausch finde ich großartig, unterschiedliche Meinungen, ein freundlicher, sachlicher Umgangston, und ehrliches Interesse auf deiner Seite zu dem Thema, statt nach 2 Postings dicht zu machen. Was will man mehr? :)




    LG,
    Hosenrolle1

  • Bezugnehmend auf folgende beide Zitate:


    Was Harnoncourt damit meint, dass gerade dieses Stück ein "stummes Terzett sei, erschließt sich mir jetzt auch nicht...Bis jetzt habe ich da das Orchester immer nur als "begleitend"empfunden.


    Da wir gerade darüber reden, was im Orchester gesagt wird... Nochmals zur Gartenszene: Mich hat es immer irritiert, dass die Musik hier die ganze Zeit über einen verspielten Charakter behält! Gut, die Gräfin ist ja zu keiner Zeit wirklich in Gefahr, da sie ja von allen Seiten observiert wird. Das weiß aber Cherubino nicht! Ob es sein kann, dass Mozart diese Szene tatsächlich nur als witzig empfunden hat (was sie, wie ich finde, überhaupt nicht ist!)?

    Das ist leider ein sehr schwieriges Thema, zu dem ich einen eigenen Thread eröffnet habe, er heißt Mozarts Musiksprache. (HIER)


    Ich habe dort ausführlicher dazu geschrieben, deswegen hier nur in der allerkürzesten Kurzfassung: Mozarts Musik ist eine "sprechende" Musik. Er "malt" nicht, wie die Romantiker im 19. Jahrhundert, sondern benutzt eine riesige Fülle an Motiven, die bestimmte Bedeutungen haben. "Musik als Klangrede" sozusagen, so hat Harnoncourt auch eines seiner Bücher genannt.
    Das Prinzip ist allerdings nicht neu, schon im Barock gab es viele Figuren mit eigenen Bezeichnungen, die bestimmte Dinge bedeutet haben. Dazu gibt es Bücher wie etwa das "Handbuch der musikalischen Figurenlehre".


    Das Problem ist, dass wir heute diese "Sprache" nicht mehr verstehen, und praktisch nur versuchen, die Musik gefühlsmäßig zu erfassen, was dann aber leider auch zu vielen Irrtümern führt. Es ist dann so, als ob man eine fremde Sprache hört, sie schön findet - aber eben nicht versteht, was sie einem sagen will. Selbst wenn man sich für diese Sprache, die Aussagen in der Musik interessiert, ist es natürlich sehr schwer, sich da einzulesen, das erfordert sehr intensives Partiturstudium, Vergleiche, usw.


    Du sagst schon ganz richtig, dass im Orchester etwas "gesagt" wird - nur leider verstehe ich es nicht, weil mir die Kenntnis der von Mozart verwendeten Motive fehlt.
    Zweifellos bezieht sich Harnoncourt mit seiner Aussage "stummes Terzett" auf diesen Umstand. Vermutlich erkennt er verschiedene Motive in diesem Stück, die bestimmte Aussagen treffen und vielleicht auch bestimmten Personen zuordenbar sind. Aber wie so oft schweigt er sich darüber aus.


    Was die Gartenszene betrifft, da kann ich mit meinem praktisch nicht vorhandenen Wissen über diese Motive leider nichts sagen. Garantiert wird Mozart auch hier das Orchester verschiedene Dinge "sagen" lassen, aber ich verstehe es nicht.


    Was wiederum die Bühnenwirkung der Szene betrifft, da würde ich Mozart schon zutrauen, dass er das witzig fand, wenn eine Frau, eine Hosenrolle, sich so an eine andere Frau ranmacht.




    LG,
    Hosenrolle1

  • Danke, das freut mich, mir geht es genauso! Ich finde es ja das Beste an einer Diskussion, wenn einem dabei immer wieder neue Ideen in den Kopf kommen. Dazu muss man ja auch nicht unbedingt gleicher Meinung sein! Übrigens habe ich auch völlig die Zeit vergessen und eben einmal zufällig einen Blick auf die Uhr geworfen...
    Für heute verabschiede ich mich, denn Dame Nummer eins und zwei kennen keine Gnade, was die Weckzeit angeht.. ;)
    Würde aber demnächst auch gerne noch einmal den guten Octavian mit der Engelsstimme ins Spiel bringen- auch, wenn du den nicht leiden kannst....

  • In einem Buch, wo es in erster Linie um´s Theater geht, wurde auch Cherubino, bzw. das Konzept der Hosenrolle in dieser Oper, kurz angerissen. Da heißt es:


    Zitat

    Zurück zu Chérubin: Die gender-Dopplung, die mit ihm auf die Bühne kommt (eine Frau spielt, sie sei ein Mann), bleibt dem Opernpublikum, das da Pontes/Mozarts Le nozze di Figaro verfolgt, präsenter als dem Theaterpublikum, das dem Tollen Tag zuschaut: Die Singstimme Chérubins, der Sopran einer Frau, lässt den Opernhörer nie im unklaren darüber, was er als Opernzuschauer (und was auch der Theaterzuschauer von Beaumarchais´ Komödie) möglicherweise, wenn die Maskerade, die Mimikry, gut gelungen ist, vergessen kann: dass hinter der Maske des jungen Mannes eine Frau verborgen ist. Die Mozartsche Oper inszeniert also mit noch größerer force als Beaumarchais´ Komödie jene Dopplung als Dopplung und als nicht gänzlich zu tilgende Differenz, die vielleicht als das Prinzip der Theatralität überhaupt gelten kann: ´ist´ die Schauspielerin, der Schauspieler doch nicht die dargestellte Figur, sondern stellt sie vor, setzt sie in Szene, schlüpft in die Maske, in die Rolle. Die medienästhetische Differenz zwischen Oper und Schauspiel lässt das musikalische Medium also mit größerer Insistenz auf Irritationen der geschlechtlichen Matrix verweisen.


    So ich das richtig verstehe, ist gemeint, dass die Hosenrolle hier bewusst auch deswegen eingesetzt wird, um ein bisschen "Anarchie", Irritationen ins Spiel zu bringen, was klar zuordenbare Geschlechterbilder oder Äußerlichkeiten angeht.
    Eigenntlich auch ein interessanter Gedanke: dass man so eine Rolle bewusst einsetzen kann, um irgendeine Aussage zu machen, nicht bloß aus musikalischen oder optischen Gründen.




    LG,
    Hosenrolle1

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