Hallo Paul,
ich stimme Dir zu: Es ist ein unlösbares Dilemma.
es hat immer eine "fehlgeleitete" Wagner-Tradition gegeben, von Bayreuth und Wahnfried selbst ausgehend, die in den Nazis gipfelte. Hitler ist gerade durch Rienzi, Lohengrin und Götterdämmerung sehr geprägt worden. Usw. usw. Allerdings macht diese Rezeption in einem Punkt genau das nicht, was man von ihr erwartet: Es gibt meines Wissens keinen Anhaltspunkt dafür, dass in den offiziellen Nazi-Inszenierungen Figuren wie Mime oder Beckmesser antisemitisch karikiert worden wären. Vielleicht nur, weil diese Ebene zu subtil für die Nazis war.
Es gibt auch Interpretationslinien, die Wagner für "die Linke" in Anspruch nahmen, mit durchaus guten Gründen, von George Bernard Shaw (der den "Ring" als Parabel des Sozialismus deutete) bis hin zu jüdischen Philosophen wie Ernst Bloch.
Gerade Wagners Musikdramen sind "offene Kunstwerke", die viele Lesarten zulassen. Das macht auch ihre Qualität aus. Viele wählen den Ausweg, Wagners Texte zu verdammen und allein die Musik zu schätzen. Das ist m.E. falsch. Der Germanist Borchmeyer hat nicht zu Unrecht behauptet, dass Wagner als Dichter der wichtigste Beitrag der deutschen Literatur zur Weltliteratur zwischen Heinrich Heine und Thomas Mann gewesen ist - nachweisbar an der regen Rezeption in anderen Nationalliteraturen (Baudelaire, Joyce, Eliot...).
Ich verstehe jeden, der Wagner ablehnt und mit seinen Werken nichts zu tun haben will. Ich selbst habe mich nach einer Phase jugendlicher Wagner-Schwärmerei zwischen meinem 15. und 17. Lebensjahr für diese Leidenschaft plötzlich geschämt, als ich von Wagners Antisemitismus erfahren habe. Damals habe ich meine drei LP-Alben mit Wagner-Aufnahmen (Solti-Walküre und -Siegfried, Sawallisch-Holländer) so hingestellt, dass man die Aufschriften nicht gesehen hat...

Weggeschmissen habe ich sie zum Glück nicht, vielleicht weil ich zu feige war, oder zu geizig, oder vielleicht doch schon zu einsichtig...

Mit 24 Jahren habe ich Wagner aber über den "Tristan" neu entdeckt (zuviele große Persönlichkeiten, auch Linke, auch Juden waren Wagnerfans) und seitdem hat mich nichts mehr davon abbringen können...
Viele Grüße
Bernd