Gegenfrage: Für wen hat der Komponist seine Werke geschrieben? In erster Linie für sein Einkommen selbst, dann für sein Publikum, manchmal für einen von ihm bevorzugten Interpreten. Sein finanzieller Verdienst ist aber abhängig vom Publikumsinteresse. Wenn ein Komponist fleißig komponiert und keiner geht hin, dann bleibt er ein armes Schwein.
Ich antworte, lieber La Roche, darauf einmal mit einem Zitat. Es stammt aus dem 19. Jhd. und von dem großen Opernkenner Eduard Hanslick. Er stellt Wagners Behauptung, an der Nicht-Aufführungen seiner Meistersinger in Wien seien "die Juden" schuld, wie folgt richtig:
"Was die Wiener Hofoper betrifft, so bin ich in der Lage, Herrn Wagner des Gegenteils zu versichern. Man beharrte nur auf dem Begehren, die notwendigsten Kürzungen vornehmen zu dürfen, und mit Recht, denn kein verständiger Direktor wird sein Publikum mit einer Oper von so abenteuerlicher, einschläfernder Länge heimsuchen. Wagner tut sich aber etwas darauf zugute, daß er jetzt >bisher noch nie für nötig gehaltene Bedingungen an seine Einwilligung zur Aufführung eines neuen Werkes stelle.<"
Hanslick sagt also: Was bildest du, Wagner, Dir eigentlich ein, dass du glaubst, dir wird als Komponist eine Extrawurst gebraten, nur weil du Wagner heißt und dich für ach so bedeutender hältst als andere Komponisten? Der Operndirektor entscheidet mit Blick auf das zahlende Publikum, wie eine Oper aufgeführt wird, und nicht dein Libretto! Das ist die gängige Aufführungspraxis. Was also für einen Operndirektor Recht war zu Lebzeiten des Komponisten, warum soll das nicht für einen Regisseur von heute billig sein? Wenn man der Meinung ist, dass das Publikumsinteresse das Entscheidende ist, dann lässt sich so gerade eine "werktreue" Inszenierung nicht zwingend begründen. Denn das Werk, so wie es im Libretto und der Partitur geschrieben steht, muss dem Publikum überhaupt nicht gefallen: dies kann es als langweilig, nichtssagend etc. empfinden. Witzig ist in dieser Hinsicht die Anekdote mit Ravel und Toscanini. Ravel beschwerte sich nach einem Konzert, dem er beiwohnte, bei Toscanini, dass er seinen "Bolero" ruiniere, weil er ihn in Rekordgeschwindigkeit (in sage und schreibe 9 Minuten) runtergespielt hätte. (Die Anekdote erzählt Artur Rubinstein, der dabei war.) Darauf Toscanini unwirsch: Sie Ravel, haben ja keine Ahnung vom Publikum und davon, wie ihre Musik auf das Publikum wirkt! Ich verhelfe ihrer Komposition nur dazu, dass sie nicht beim Publikum durchfällt und vergessen wird!
Das sehe ich auch bei den reproduzierenden Künstlern wie Pianisten, Dirigenten und (umstritten) Regisseuren so. Das Ergebnis hängt mit der Erwartungshaltung zusammen. Der eine geht zu Pollini, weil er Chopin hören will, der andere vielleicht, weil er Debussy mag. Der nächst geht ins Konzert, weil er Pollini hören will, egal was er spielt. Und im Anrechtskonzert geht ein Teil hin, weil er Karten hat. Diesem Teil ist es oft egal, wer was spielt. Die Erwartungshaltung hängt stark ab von der musikalischen Vorbildung. Zumindestens im Konzert.
Das heißt aber doch: Wer nur Chopin von Pollini hören will, muss eben auch ertragen können, dass er Debussy, Strawinsky und Prokofieff spielt. Denn Pollini wollte nach dem Gewinn des Chopin-Preises um keinen Preis als "Chopin-Spieler" abgestempelt werden.
Und der Begriff "reproduzierender Künstler" ist einfach hoch problematisch, weil kein Mensch wirklich eindeutig definieren kann, wo die Reproduktion aufhört und die Veränderung anfängt. Selbst bei solchen als besonders "werktreu" geltenden Interpreten nicht. Eine "rein reproduzierende" Interpretation ist eine Chimäre. So etwas gibt es in der Realität nicht. Siehe z.B. aktuell den Thread über "Gaspard de la nuit". Was ABM da macht, ist eine Veränderung. Er spielt die Tremoli einfach nicht ppp. Wozu man sagen muss, dass hier das, was im Notentext steht, schlicht nicht realisierbar ist, wenn man die rhythmische Struktur nicht verwischen will. Der Notentext gibt dem Interpreten da die berühmt berüchtigte Quadratur des Kreises auf. (Dafür gibt es viele Beispiele, z.B. bei Alexander Scriabin mit seinen exzessiven Spielanweisungen.)
In der Oper, wo ich aus Erfahrung von mind. 700-800 Opernbesuchen in ca. 60 Jahren weiß, daß in Repertoirevorstellungen außerhalb der Premieren und besonderer Galavorführungen (Musikfestspiele u.a.)
ein sehr gemischtes Publikum anzutreffen ist, möchte ich nicht ausschließen, daß ein bedeutender Teil die Oper nur zum Zwecke der Unterhaltung besucht. Keinesfalls mit dem Ziel, neue Deutungen zu erleben. Sie haben die Faxen dicke vom Alltagsleben, vom Streß auf Arbeit, von politischer Unzufriedenheit, von den schlechten täglichen Nachrichten usw. Sie wollen Ablenkung.
Das Argument ist für mich nicht überzeugend aus zwei Gründen:
1. Selbst Brecht bestreitet nicht, dass Oper "unterhalten" soll. Er sagt nur: Sie soll aber nicht nur unterhalten, sondern eben auch "belehren". Hier trifft er sich mit dem Klassiker Friedrich Schiller. Kunst ist für Schiller eben nicht nur Unterhaltung, sondern soll - das ist der idealistisch-humanistische Anspruch - der "ästhetischen Erziehung" dienen. Es geht deshalb auf der Bühne darum - so Schiller - eine "moralische Weltregierung" zu errichten. Hat der große Klassiker Schiller also umsonst gelebt? Hat uns der Humanismus der deutschen Klassiker wirklich gar nichts mehr zu sagen?
2. Wenn man Oper auf die Erfüllung nur eines Unterhaltungsbedürfnisses reduziert, dann zieht sie dem Hollywood-Kino und dem Musical gegenüber letztlich den Kürzeren. Denn technisch-perfekt, spektakulär unterhalten können Kino und Musical eindeutig besser. So haben diejenigen finde ich Recht, die sagen, Oper hat nur eine Überlebenschance als Kunstform, wenn sie nicht nur in der Konkurrenz mit anderen Unterhaltungsangeboten gesehen wird - sondern eben mehr ist als nur Unterhaltung.
Damit ist
der Vorgang abgeschlossen. Die Umsetzung des in Text, Musik und Handlung abgeschlossenen Werkes auf der Bühne oder im Konzertsaal war Sache der reproduzierenden Künstler.
Das stimmt schon für die Romantik im 19. Jhd. nicht, die ein work in progress propagierte, eine Werkschöpfung, an dem die Interpreten zukünftiger Generationen mitarbeiten. Siehe dazu meinen Kolumnenartikel über Franz Liszts Klaviersonate h-moll.
Schöne Grüße
Holger