Rätselhafter Don Ottavio

  • Vor Jahren habe ich in Darmstadt mal eine gute Inszenierung gesehen, in der Don Ottavio nach Giovannis Höllenfahrt mit zwei Ordnungshütern auftaucht, um den Wüstling und Verführer der weltlichen (Straf-)Ordnung zuzuführen. Allerdings kam ihm hier das himmlische (oder höllische?) Strafgericht zuvor.
    Ebenfalls in Darmstadt (ein paar Jahre später, wahrscheinlich unter John Dew) sah man einen Don Ottavio, der einem Kranz unter der Statue des Komturs einen wütenden Tritt versetzte. Auch glaube ich mich zu erinnern, dass der Komtur nicht von Don Giovannis Degen getötet wurde, sondern rückwärts in ein Messer oder einen Degen von Anna oder Ottavio stürzte und durch diesen Unfall starb. Interessante Ideen, die aber auch nicht weiter vertieft wurden.

    Das mit den Ordnungshütern ergibt Sinn, denn Ottavio holt ja als letzte Amtshandlung bevor Giovanni zur Hölle fährt die "weltliche Gerichtsbarkeit" zur Hilfe.
    Warum Ottavio aber der Statue des Komturs einen Tritt versetzen sollte, verstehe ich nicht so recht.
    Und dass der Komtur in Annas oder Ottavios Messer bzw. Degen fallen sollte, finde ich total abwegig!
    Ottavio fällt sowieso weg, denn der kommt ja ( wie üblich!) zu spät. ;(
    Und das Anna da praktisch versehentlich ihren Vater von hinten ersticht ( sie ist laut Regieanweisung in diesem Moment eh nicht auf der Bühne, da sie Ottavio zu Hilfe holt), ist ja eine ganz schön gewagte Interpretation!
    Damit wäre der Tod des Komturs ja im Grunde nur ein bedauerlicher Unfall, an dem Anna auch noch mehr oder weniger schuld ist- was schlussendlich aus Giovanni "nur" einen Sittenstrolch macht...
    Mal ganz abgesehen davon, Hosenrolle 1, hast Du natürlich insofern recht, dass das Duell im Orchester sehr deutlich geschildert wird- auch für diejenigen unter uns, die sich mit Mozarts Musiksprache nicht so gut beschäftigt haben wie Du...
    Was mich zu meiner nächsten Frage bringt: Wir hatte ja schon sehr ausführlich über Annas Schilderung von Giovannis nächtlichen Überfall gesprochen, aber Ottavio dabei im Grunde außen vor gelassen.
    Vielleicht findest Du ja da noch etwas heraus? Daran, wie er auf Annas Schilderung reagiert? Da lässt sich ja vielleicht noch etwas über seinen Charakter herausfinden...


    Liebe Grüße von der Dritten Dame

  • Vielleicht findest Du ja da noch etwas heraus? Daran, wie er auf Annas Schilderung reagiert? Da lässt sich ja vielleicht noch etwas über seinen Charakter herausfinden...


    Da bin ich leider doch der Falsche, weil ich die Oper zu wenig kenne. Ich kann mir zwar vielleicht einzelne Motive raussuchen, oder die Modulationen ansehen, jedoch wird es dann schwer mit der Interpretation, weil ich keine Zusammenhänge kenne, und weil ich noch nicht mal eine wörtliche dt. Übersetzung habe. Bei den Modulationen in den Gräfin-Susanna-Cherubino-Szenen war das einfacher: Cherubino erzählt von dem Band, und die Tonarten springen wie verrückt herum. Hier wusste ich aber schon einiges von der Handlung, wusste, dass Cherubino das Band vorher geklaut hat.


    In dem Buch steht leider recht wenig über Don Ottavio, die Analysen widmen sich in erster Linie Donna Anna. Über Don Ottavio meint der Autor, dass er für Donna Anna nicht mehr sein kann als der verlängerte Arm für ihre Rache. Als sie meint "Führe nicht in Versuchung die Standhaftigkeit meines empfindsamen Herzens: Genug für dich spricht die Liebe in mir", soll Mozarts Musik offenbar ausdrücken, wie der Komponist den Satz auslegt:


    Zitat

    "Annas gedrückte Stimmung findet nicht aus dem engen Bereich der nahe verwandten B-Tonarten g, B, F und d heraus. Der Gedanke an das, "was ihre Herzen schon lange ersehnen", kann sie nicht aufheitern. Aus B-Dur (die ersten beiden Takte) wird sie durch ihr "sensibile core" sogleich wieder nach g-moll zurückgeholt."


    Außerdem gibt der Autor den Hinweis, dass jede Übersetzung dieses Satzes anders lautet, und am weitesten in die falsche Richtung die Übersetzung von Georg Schünemann in Soldans verbreitetem Klavierauszug (Peters-Verlag) geht, wenn aus "Genug für dich spricht die Liebe in mir" ein "Denn auf ewig bleib ich dir nur ergeben." wird. Also eine ordentliche wörtliche Übersetzung gehört auf jeden Fall zur Grundausstattung!




    Liebe Grüße,
    Hosenrolle1

  • Außerdem gibt der Autor den Hinweis, dass jede Übersetzung dieses Satzes anders lautet, und am weitesten in die falsche Richtung die Übersetzung von Georg Schünemann in Soldans verbreitetem Klavierauszug (Peters-Verlag) geht, wenn aus "Genug für dich spricht die Liebe in mir" ein "Denn auf ewig bleib ich dir nur ergeben." wird. Also eine ordentliche wörtliche Übersetzung gehört auf jeden Fall zur Grundausstattung!

    Au warte, stimmt, der Satz hat ja mit dem Original wirklich gar nichts mehr zu tun!
    Aber das ist auch eine andere Szene- in der Ottavio Verhalten allerdings auch nicht wirklich für ihn spricht. Er drängt da erneut auf Heirat, und sie bittet ihn, noch zu warten, weil ja gerade erst ihr Vater ermordet wurde ( Kann ich irgendwie verstehen..).
    Er allerdings nicht! Er wirft ihr daraufhin knallhart vor "durch neues Verzögern mein Leid zu mehren" und setzt noch einen drauf, indem er sie "Grausame" nennt. Spricht nicht unbedingt für emotionalen Tiefgang...




    Liebe Grüße, die Dritte Dame


    P.S. @ Hosenrolle 1: Du hattest doch mal in einem anderen Thread diese komplette Aufnahme des Don Giovanni in HIP gepostet.
    Vielleicht magst Du die hier ja noch einmal einstellen, damit andere auch mal 'reinhören, ich war total begeistert davon!
    Und ich suche auch gerne die Zeit heraus, wo sich Don Ottavios erste Arie befindet, damit's zum Thema des Threads passt...







  • Au warte, stimmt, der Satz hat ja mit dem Original wirklich gar nichts mehr zu tun!


    Soviel zum Thema "Deutsche Übersetzungen helfen beim Verständnis der Oper" *gg*


    Aber das ist auch eine andere Szene- in der Ottavio Verhalten allerdings auch nicht wirklich für ihn spricht. Er drängt da erneut auf Heirat, und sie bittet ihn, noch zu warten, weil ja gerade erst ihr Vater ermordet wurde ( Kann ich irgendwie verstehen..).
    Er allerdings nicht! Er wirft ihr daraufhin knallhart vor "durch neues Verzögern mein Leid zu mehren" und setzt noch einen drauf, indem er sie "Grausame" nennt. Spricht nicht unbedingt für emotionalen Tiefgang...


    Klingt auch wirklich unsympathisch, da hast du Recht. Wer da herumjammert und meint, dass er "leidet", weil er keinen Ring am Finger hat, ist sowieso lächerlich in meinen Augen. Kein Wundert, dass Don Giovanni da interessanter wirkt, weil der nicht so am altmodischen Heiraten interessiert ist ;)


    P.S. @ Hosenrolle 1: Du hattest doch mal in einem anderen Thread diese komplette Aufnahme des Don Giovanni in HIP gepostet.
    Vielleicht magst Du die hier ja noch einmal einstellen, damit andere auch mal 'reinhören, ich war total begeistert davon!


    Das freut mich, dass es dir gefallen hat. Die alten Instrumente, besonders das Blech, sind dann doch interessanter, oder? Was mich bei Jacob´s Aufnahmen zum Figaro und zur Entführung stört sind die übertrieben häufigen Verzierungen und die SängerInnen, da bin ich ganz offen. Hoffentlich ist das beim Don Giovanni nicht so arg.


    Hier der Don Giovanni unter Jacobs:



    Und hier noch eine Live-Aufnahme, ebenfalls unter Jacobs und dem Freiburger Barockorchester. Leider nur in lächerlichen 360p.



    (Auf Spotify gibt´s noch einen anderen Don Giovanni on period instruments, unter Currentzis: https://open.spotify.com/album/7BMtI9WtHL5vtBGhDEbhPA)




    Liebe Grüße,
    Hosenrolle1

  • Guten Morgen, dankeschön fürs Einstellen!


    Das "Dalla sua pace" befindet sich auf 56:25, das Rezitativ beginnt ab 55:56.


    Danke auch für die Live- Aufnahme, da war ich selbstverständlich auch gleich unterwegs, da beginnt das Rezitativ bei 56:55 und die Arie bei 57:24.


    Ich mag ja das "Il mio tesoro" ( von mir so abfällig als "Geht schon mal vor, ich komme dann nach..." bezeichnet...) Rein musikalisch lieber, aber das ist leider nicht dabei, zumindest nicht bei der ersten Aufnahme, bei der zweiten schaue ich gleich nochmal!


    Mit den Verzierungen hält sich glücklicherweise in Grenzen, da bin ich auch echt empfindlich. Die bei Angelika Kirchschlagers Cherubino beispielsweise .waren mir wirklich zuviel des Guten...


    Liebe Grüße, die Dritte Dame

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  • Okay, habe gerade nachgesehen, das "Il mio tesoro" ist auch bei der Live- Aufnahme nicht dabei.
    Aber ich glaube, mich zu erinnern, dass das auch so ein Stück ist, das Mozart im Nachhinein erst komponiert hat...


    Ach ja, dafür gibt's in beiden Versionen das Duett zwischen Zerlina und Leporello, das Mozart für die Wiener Premiere damals nachkomponiert hat und das in der Regel immer weggelassen wird!


    Liebe Grüße, die Dritte Dame

  • Okay, habe gerade nachgesehen, das "Il mio tesoro" ist auch bei der Live- Aufnahme nicht dabei.
    Aber ich glaube, mich zu erinnern, dass das auch so ein Stück ist, das Mozart im Nachhinein erst komponiert hat...


    In der NMA habe ich dazu folgendes im Vorwort gefunden:



    Zitat

    Es gibt, streng genommen, nur eine einzige Fassung des Don Giovanni, die unbedingten Anspruch auf Authentizität erheben darf: Das ist die Oper, wie sie für Prag komponiert und dort am 29. Oktober 1787 mit beispiellosem Erfolg aufgeführt worden war. Zugleich ist dies auch die einzige Fassung, die sich genau definieren lässt. Denn die sogenannte „Wiener Fassung“ ist nach all dem, was aus dem bis jetzt vorliegenden Quellenmaterial geschlossen werden darf, nichts weniger als eindeutig zu nennen; vielmehr hat sie den Charakter des Variablen, des Experimentierens, des Nicht-Endgültigen – bis hin zu der letzten Aufführung, die zu Mozarts Lebzeiten in Wien stattgefunden hat (15. Dezember 1788). Weit davon entfernt, eine Fassung „letzter Hand“ zu sein, lässt sie noch nicht einmal Mozarts künstlerische Absichten hinreichend klar erkennen. Wenn sich darum – entsprechend den Grundsätzen einer kritischen Ausgabe – die vorliegende Edition in ihrem Hauptteil auf die Wiedergabe der Prager Originalfassung beschränkt und die für Wien vorgenommenen Zusätze und Änderungen in den Anhang verweist, so sind sich die Bandbearbeiter nur zu sehr dessen bewusst, dass sie damit in erklärtem Widerspruch zur traditionellen Bühnenpraxis stehen: Der Don Giovanni der heutigen wie auch der früheren Bühnen ist ein weder logisch noch ästhetisch noch gar historisch befriedigendes Sowohl-als-auch, das keineswegs dem entspricht, was Mozart gewollt und beabsichtigt hat.
    Es ist ratsam, im Folgenden zwischen sicheren Fakten und offenen Problemen der „Wiener Fassung“ zu unterscheiden, wobei an dieser Stelle nur die wichtigsten Einzelheiten erörtert werden können.


    Gesichertes:


    1. Francesco Morella, der Wiener Don Ottavio, scheint die Koloraturen der Arie No. 21 „Il mio tesoro intando“ gefürchtet zu haben, so dass sich Mozart entschloss, die Nummer ersatzlos zu streichen und eine dem Gesangsstil Morellas besser entsprechende neue Arie zu komponieren (KV 540a), die – dramaturgisch unverständlich – nach dem Rezitativ „Come mai creder deggio“ aus der Scena XIV des ersten Aktes eingeschoben wurde. Mozart trägt sie am 24. April 1788 in sein eigenhändiges Werkverzeichnis mit folgenden Worten ein: Eine Aria zur Oper: Don Giovanni in g dur. Für M:r Morella. Dalla sua pace etc: / 2 Violini, Viole, 1 flauto, 2 oboe, 2 Corni, 2 fagotti, e Bassi.
    Diese neue Ottavio-Arie ist in Mozarts Handschrift überliefert.




    Liebe Grüße,
    Hosenrolle1

  • Kannst du Noten lesen?


    Lieber Hosenrolle1, nein, deshalb finde ich Erläuterungen, wie Du sie in den verlinkten Beiträgen gegeben hast, so hilfreich. Wenn ich laienhaft annehmen darf, daß gewissen musikalischen Mustern bestimmte Bedeutungen zugeordnet werden können, ist es für mich Laien beispielsweise einsichtig, daß die Modulation der Tonarten bei Donna Annas Bericht darauf hindeutet, daß sie etwas zu verbergen hat und daß ihre verbale Aussage musikalisch konterkariert wird.
    Ähnlich, wenn ich lerne, daß der unmittelbare Wechsel von gis- zu e-Moll im Tarnhelmmotiv auf den instantanen Ortswechsel deutet, zu dem der Helm befähigt.
    Beiträge, die solche Muster erklären, lese ich mit großem Interesse. Nicht in jedem Fall äußert man sich dann direkt im Thread, weil dieser sonst wohl zerfasern würde.
    Es grüßt und dankt Hans.

    ..., eine spe*ifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifi*ierbar.
    -- Aydan Ö*oğu*

  • Lieber Hosenrolle1, nein, deshalb finde ich Erläuterungen, wie Du sie in den verlinkten Beiträgen gegeben hast, so hilfreich.


    Es lohnt sich auf jeden Fall, Noten zu lernen und sich zumindest musiktheoretische Grundkenntnisse anzueignen, etwa die Namen der Intervalle (Prim, Sekund, Terz, Quart, Quint, etc.), natürlich die Namen der Noten (Tonhöhe und Notenwert), und solche Sachen wie Dur-Tonarten und ihre dazugehörigen Moll-Tonarten sowie die Dominante, Subdominante etc.


    Wenn man diese Dinge kennt, dann wird man schon viele Dinge entdecken, die man vorher nur vom Zuhören nicht erkannt hat.


    Nicht in jedem Fall äußert man sich dann direkt im Thread, weil dieser sonst wohl zerfasern würde.


    Naja, wenn es zum Threadthema gehört, sehe ich das nicht so schwierig - in diesem Fall geht es ja darum, Don Ottavio besser zu verstehen, bzw. generell um seine Figur, und wenn man sich da nur auf die reinen Worte verlässt, oder darauf, wie die Musik (womöglich auch noch auf modernen Instrumenten gespielt, die sie zusätzlich verfälschen und unkenntlich machen) vom Gefühl her klingt, dann ist das einfach zu wenig. In der barocken Musik gab es fixe musikalische Figuren, die eine fixe Bedeutung hatten. In Büchern wie der musikalischen Figurenlehre werden Beispiele dafür gezeigt. Und auch Mozarts Musik ist noch rhetorisch; manche Figuren sind noch von den barocken Figuren beeinflusst, viele andere hat er sich praktisch selbst ausgedacht und konsequent in seinen Werken verwendet.
    Leopold Mozart schrieb seinem Sohn noch:


    Zitat

    Ich empfehle dir Bey deiner Arbeit nicht einzig und allein für das musikalische, sondern auch für das ohnmusikalische Publikum zu denken, - du weist es sind 100 Ohnwissende gegen 10 wahre Kenner



    Harnoncourt hat in seinem Werk "Musik als Klangrede" auch noch etwas zum Thema "Gefühlsmusik" geschrieben, das ich gerne zitieren möchte, wobei ich die wichtigsten Passagen fett markiert habe:



    Zitat

    Es gibt in dieser Entwicklung einige interessante Bruchstellen, die das Verhältnis von Meister und Lehrling in Frage stellen und verändern. Eine dieser Bruchstellen ist die Französische Revolution. In der großen Wende, die durch sie bewirkt wurde, kann man erkennen, wie die gesamte Musikausbildung und auch das Musikleben eine grundsätzlich neue Funktion bekamen. Das Verhältnis Meister-Lehrling wurde nun durch ein System, eine Institution ersetzt: das Conservatoire. Das System dieses Conservatoire könnte man als eine politische Musikerziehung bezeichnen. Die Französische Revolution hatte fast alle Musiker auf ihrer Seite, und man war sich bewusst, dass mit Hilfe der Kunst, und ganz besonders der Musik, die nicht mit Worten arbeitet, sondern mit geheimnisvoll wirkenden „Giften“, Menschen beeinflusst werden können. Die politische Nutzung der Kunst zur offensichtlichen oder unmerklichen Indoktrinierung der Staatsbürger oder der Untertanten war natürlich von alters her bekannt; sie wurde nur in der Musik nie vorher so planmäßig eingesetzt.
    Bei der französischen Methode, eine bis in die letzten Einzelheiten durch konstruierte Vereinheitlichung des musikalischen Stils zu erzielen, ging es darum, die Musik in das politische Gesamtkonzept zu integrieren. Das theoretische Prinzip: die Musik muss so einfach sein, dass sie von jedem verstanden werden kann (wobei das Wort „verstanden“ eigentlich nicht mehr zutrifft), sie muss jeden rühren, aufputschen, einschläfern … ob er nun gebildet ist oder nicht; sie muss eine „Sprache“ sein, die jeder versteht, ohne sie lernen zu müssen.
    Diese Forderungen waren nur nötig und möglich, weil die Musik der Zeit davor sich primär an die „Gebildeten“ wendet, also an Menschen, die die musikalische Sprache gelernt haben. Die Musikerziehung hat im Abendland von jeher zu den wesentlichen Teilen der Erziehung gehört. Wenn nun die traditionelle Musikerziehung eingestellt wird, hört die elitäre Gemeinschaft von Musikern und gebildeten Hörern auf. Wenn jedermann angesprochen werden soll, ja der Hörer gar nichts mehr von Musik zu verstehen braucht, muss alles Sprechende – das Verstehen erfordert – aus der Musik eliminiert werden; der Komponist muss Musik schreiben, die auf einfachste und eingängigste Weise direkt das Gefühl anspricht. (Philosophen sagen in diesem Zusammenhang: Wenn die Kunst nur noch gefällt, ist sie auch nur für Ignoranten gut.)
    Unter dieser Voraussetzung also hat Cherubini das alte Meister-Lehrling Verhältnis im Conservatoire aufgehoben. Er ließ von den größten Autoritäten der Zeit Schulwerke schreiben, die das neue Ideal der Egalité (der Gleichmäßigkeit) in der Musik verwirklichen sollten. In diesem Sinne hat Baillot seine Violinschule, hat Kreutzer seine Etüden geschrieben. Die bedeutendsten Musikpädagogen Frankreichs mussten die neuen Ideen der Musik in einem festen System niederlegen. Technisch ging es darum, das Sprechende durch das Malende zu ersetzen. (…) Diese Revolution in der Musikerausbildung hat man derart radikal durchgeführt, dass innerhalb weniger Jahrzehnte überall in Europa die Musiker nach dem Conservatoire-System ausgebildet werden. Geradezu grotesk aber erscheint mir, dass dieses System heute noch die Basis unserer Musikerziehung ist! Alles, was vorher wichtig war, wurde dadurch ausgelöscht!
    Es ist interessant, dass einer der ersten großen Bewunderer der neuen Art, Musik zu machen, Richard Wagner war. Er dirigierte das Orchester des Conservatoire und war begeistert, wie nahtlos Auf- und Abstrich der Geigen ineinander übergingen, wie großflächig ihre Melodien waren, dass nunmehr mit der Musik gemalt werden könnte. Er erklärte später immer wieder, er habe ein derartiges Legato mit deutschen Orchestern nie wieder erreicht. Ich bin der Meinung, dass diese Methode optimal ist für die Musik Wagners, aber dass sie geradezu tödlich ist für die Musik von Mozart. Genaugenommen erhält der heutige Musiker eine Ausbildung, deren Methode sein Lehrer so wenig durchschaut wie er selbst. Er lernt die Systeme von Baillot und Kreutzer, die für die Musiker von deren Zeitgenossen konstruiert wurden, und wendet sie auf die Musik völlig anderer Zeiten und Stile an. Offensichtlich ohne sie neu durchzudenken, werden sämtliche theoretischen Grundlagen, die vor hundertachtzig Jahren sehr sinnvoll waren, noch immer in die heutige Musikerausbildung übernommen, aber nicht mehr verstanden. (…) Brahms sagte einmal, man müsse ebensoviel Zeit dafür aufwenden, zu lesen wie Klavier zu üben, um ein guter Musiker zu werden. Damit ist eigentlich auch für heute alles gesagt. Da wir nun einmal Musik aus etwa vier Jahrhunderten aufführen, müssen wir, anders als die Musiker früherer Zeiten, die optimalen Aufführungsbedingungen jeder Art von Musik studieren. Ein Geiger mit der perfektesten Kreutzer/Paganini-Technik möge nicht glauben, damit das Rüstzeug für Bach oder Mozart erworben zu haben. Dafür müsste er die technischen Voraussetzungen und den Sinn der „sprechenden“ Musik des 18. Jahrhunderts wieder zu verstehen und zu erlernen trachten.
    Es handelt sich hier nur um die eine Seite des Problems, denn auch der Hörer müsste zu einem viel umfassenderen Verständnis herangeführt werden. Derzeit leidet er noch immer unter der Entmündigung in der Folge der Französischen Revolution, ohne es zu wissen. Schönheit und Gefühl sind bei ihm, wie bei den meisten Musikern, die einzigen Komponenten, auf die das Musikerleben und –verstehen reduziert ist. (…)


    Ich zitiere das deswegen, weil ich zeigen möchte, dass diese Musik keine reine Gefühlsdusche ist, und eben "spricht", und ich bei der Analyse einer Opernfigur auch wissen möchte, was die Musik da sagt.




    LG,
    Hosenrolle1

  • 1. Francesco Morella, der Wiener Don Ottavio, scheint die Koloraturen der Arie No. 21 „Il mio tesoro intando“ gefürchtet zu haben, so dass sich Mozart entschloss, die Nummer ersatzlos zu streichen und eine dem Gesangsstil Morellas besser entsprechende neue Arie zu komponieren (KV 540a), die – dramaturgisch unverständlich – nach dem Rezitativ „Come mai creder deggio“ aus der Scena XIV des ersten Aktes eingeschoben wurde. Mozart trägt sie am 24. April 1788 in sein eigenhändiges Werkverzeichnis mit folgenden Worten ein: Eine Aria zur Oper: Don Giovanni in g dur. Für M:r Morella. Dalla sua pace etc: / 2 Violini, Viole, 1 flauto, 2 oboe, 2 Corni, 2 fagotti, e Bassi.
    Diese neue Ottavio-Arie ist in Mozarts Handschrift überliefert.

    Das ist ja interessant! Also ist die erste Arie die nachkomponierte nicht die zweite, da hatte ich Fehlinformationen!
    Und erklärt, warum die erste im Vergleich eher langweilig ist...
    Aber auch ungewöhnlich, dass hier eine einfacher zu singende Arie "nachgeschoben" wird. Soweit ich weiß, hatte Mozart meist das umgekehrte Problem, eben, dass die Sänger und Sängerinnen viel Wert darauf legten, dass ihre Arien nicht zu einfach waren, eben, weil sie ihr Können zeigen wollten.
    Heute werden ja für gewöhnlich beide gesungen. Merkwürdig, dass die zweite bei der Jacobs- Version fehlt!


    Liebe Grüße, die Dritte Dame

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  • Heute werden ja für gewöhnlich beide gesungen. Merkwürdig, dass die zweite bei der Jacobs- Version fehlt!


    Dazu kann ich natürlich nichts sagen, aber ich werde schauen, dass ich das Booklet von Jacobs´ DG-Einspielung auftreibe, und nachsehen, ob er etwas dazu sagt, warum er welche Sachen spielt oder nicht spielt. Aber vielleicht hat jemand diese Einspielung und kann was dazu sagen?


    Ich habe in Mozarts "Verzeichnüß aller meiner Werke" den Eintrag, von dem die Rede war, gefunden, und einen Screenshot davon gemacht:






    Ach ja, dafür gibt's in beiden Versionen das Duett zwischen Zerlina und Leporello, das Mozart für die Wiener Premiere damals nachkomponiert hat und das in der Regel immer weggelassen wird!


    Dazu schreibt die NMA auch etwas:



    Zitat

    Leporellos Arie „Ah pietà, signori miei“ (No. 20) wurde durch das neukomponierte Rezitativ “Ah pietà … compassion“ ersetzt (…): Mozart komponierte dann für Zerlina/Leporello das Duett „Per queste tue manine“ KV 540b, das zwar im Autograph nicht erhalten ist, jedoch im eigenhändigen Werkverzeichnis Aufnahme fand: Den 28: detto 1788 / Ein Duetto zur Oper: Don Giovanni, für Mad:me Mombelli und Sig. Benucci / in C Dur. – Per quelle [!]
    Tue Manine etc: / 2 Violini, viole, 2 flauti, 2 oboe, 2 fagotti, 2 Clarini, e Bassi.


    Zusammen mit dem ebenfalls nachkomponierten Rezitativ “Restati qua” wurde das Duett im zweiten Akt nach dem Rezitativ der Scena X eingeschaltet.



    Was ich überhaupt nicht verstehe (mangels Kenntnis der Oper), für Don Giovanni-Freunde aber sicher besser verständlich ist, ist das hier:


    Zitat

    In den musikalischen Quellen erscheint die Scena X unverändert in der „Prager Fassung“, mit dem Unterschied natürlich, dass die Arie des Ottavio (No. 21) wegfällt. Im Wiener Libretto erfährt sie jedoch eine leichte Umarbeitung, indem Zerlina und Masetto vorzeitig abgehen (Don Ottavio also dann nur noch Donna Elvira anspricht), wodurch der Wiederauftritt Zerlinas mit Leporello in Szene X a besser motiviert wird. Es bleibt dramaturgisch unverständlich, warum die musikalischen Quellen diese Version nicht übernehmen. – Mag nun Scena X inhaltlich ihren Sinn haben – Don Ottavio muss ja doch spätestens jetzt sagen, dass auch er nunmehr von der Schuld Don Giovannis überzeugt sei -, so wirkt sie in der Wiener Szenenfolge zumindest musikalisch um so unwahrscheinlicher: Mozart hat den Beginn der Scena X a (Auftritt Zerlinas, die Leporello an den Haaren hinter sich herzieht) doch offensichtlich so komponiert, als solle er sich unmittelbar oder nach nur kurzer Pause an Scene IX (Leporello flieht) anschließen.
    In der Handlungsfolge also etwa zu denken: Flucht: Zerlina (die am nächsten steht) hinter Leporello her; Verwirrung: alle übrigen ab. Pause, bis die Szene leer ist, dann nimmt der Continuo das vorhin jäh abgebrochene „schaukelnde“ Dreiklang-Ostinato wieder auf, und Zerlina zerrt Leporello auf die bühne zurück usw. Dieser logische (und äußerst witzig komponierte) Szenenzusammenhang wird durch die „dazwischengesetzte“ Scena X sehr empfindlich gestört.




    Liebe Grüße,
    Hosenrolle1

  • Hallo ihr beiden, der Jacobs spielt die Wiener Fassung und als Appendix die in der Wiener Fassung weggelassen Teile der Prager Fassung.
    Ich bin nicht willigt genug mehr dazu zu sagen, weil ich im Moment musikalisch wo ganz anders bin, nähmlich bei der Renaissance und dem Barock, was mir eine unbändige Freude bereitet!
    Was dich lieber H1 freuen wird, nämlich das ich diese Aufnahmen alle nur HIP u. OPI höre! Nichts anderes kommt mehr in den Player! :jubel:


    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • Ich habe jetzt das Booklet, und mir das Interview durchgelesen, sowie angesehen, welche Nummern da als Anhang drangehängt wurden.


    APPENDIX / PRAG-FASSUNG


    Recitativo: Dunque quello sei tu
    (Zerlina, Donna Elvira, Don Ottavio, Masetto)


    No. 20 Aria: Ah pietà, sognori miei
    (Leporello)


    Recitativo: Ferma, perfido, ferma
    (Donna Elvira, Masetto, Zerlina, Don Ottavio)


    No. 21 Arie: Il mio Tesoro intanto
    (Don Ottavio)



    Hier sagt er etwas über Don Ottavio:


    Zitat

    Aber Hoffmanns Sicht auf Donna Anna könnte doch stimmen, ihre heimliche Leidenschaft, ihre Liebe für den Unbekannten, der sie vergewaltigen wollte? Wie
    kann man sich nur einen Moment vorstellen, dass eine starke Frau wie sie einen Schwächling wie Don Ottavio lieben kann?


    In da Pontes Libretto und Mozarts Musik können wir nichts finden, was diese “Ideologie” begründet. Zwischen Donna Anna, Don Ottavio und dem Komtur besteht eine “empfindsame Dreierkonstellation, wie sie uns in zahllosen Dramen des späten 18. Jahrhunderts begegnet” (Borchmeyer). Don Ottavio ist kein Schwächling, aber “der typisch zärtliche Bräutigam, dessen maßvolle, in ihrer Verhüllung von Sinnlichkeit und Leidenschaft den empfindsamen Gefühlscode niemals verletzende Liebe mit der Vater-Tochter-Beziehung vollkommen harmoniert”. Seine beiden Arien sind typische “empfindsame” Arien. Mozart wollte, dass Don Ottavio in beiden Fassungen nur eine einzige Arie singt, sozusagen als bliebe er in Donna Annas Schatten. Beide Arien sind von vollkommener Schönheit, aber ohne Zweifel steht die Wiener Arie (“Dalla sua pace”) an einer sinnvolleren Stelle als die Prager (“Il mio tesoro”), die in der zu weit fortgeschrittenen Handlung wie eingeschoben wirkt: Don Ottavio hat sich, nach langem Zweifel endlich von Don Giovannis Schuld überzeugt, entschieden zu handeln, indem er zur Polizei geht.
    Weit entfernt von Hoffmanns Degradierung Don Ottavios („Ein zierliches, geputztes, gelecktes Männlein“) steht die Sicht mehrerer moderner Kommentatoren wie Friedrich Dieckmann, Stefan Kunze, Dieter Borchmeyer oder Julian Rushton auf ein Don Ottavio als „Mann der Zukunft“ in seiner Verbindung von Empfindsamkeit und Rationalität. So interpretiert ist er der „erotische Antipode Don Giovannis“ (Borchmeyer). Gegenüber der absoluten Bedingungslosigkeit des „dissoluto“, repräsentiert Don Ottavio „den vom empfindsamen Diskurs geforderten Altruismus“. Gegenüber der „Okkupationserotik“ Don Giovannis steht bei Don Ottavio die „Disziplinierung des Erotischen“; gegenüber Don Giovannis Gewalttätigkeit steht Don Ottavios Gewaltlosigkeit, der „Clemenza“ des Tito nicht unähnlich: Waffengewalt ist für ihn die ultima ratio – übrigens hat derselbe Prager Sänger in den Uraufführungen beider Opern die Rollen des Don Ottavio und Tito gesungen. Es steckt sicher eine moralisierende Absicht hinter dieser Gegenüberstellung von „feudalaristokratischem Libertin“ und einem neuen „Modellbürger“. Sie erklingt, quasi programmatisch, schon in der ouvertüre: während der langsame d-moll-Teil eine Vorwegnahme der „Geisterstunde“ des Steinernen Gastes am Ende des Stückes sein will, baut Mozart den schnellen D-dur-Teil auf ein Thema auf, das als Zitat von Don Ottavios erster Gesangsphase zu lesen ist, wenn er im Sextett des 2. Aktes mit Donna Anna von der Trauerfeier für ihren Vater zurückkehrt.



    Und hier über die von ihm gewählte Fassung:


    Zitat

    Sie haben “Don Giovanni” hier in der Prager Fassung eingespielt und als Anhang die Wiener Nummern hinzugefügt. Weshalb haben Sie sich nicht für die übliche Mischfassung entschieden?



    Beide Fassungen sind absolut gleichwertig. Es ist möglich, dass Mozart die zusätzlichen Wiener Nummern an erster Stelle komponiert hat, um die besonderen Qualitäten der neuen Sänger besser hervorzuheben. So war Caterina Cavalieri, für die Mozart die zusätzliche Arie “Mi tradi” im 2. Akt schrieb, mehr eine typische opera seria-Sängerin, während ihre Prager Kollegin Caterina Micelli eine typische Sängerin von mezzo carattere-Rollen war (halb seria, halb buffa), die wahrscheinlich eine weniger schöne Stimme hatte, aber eine bessere Schauspielerin war. Die farcenhafte Duettszene zwischen Zerlina und Leporello, ebenfalls im 2. Akt, ein Ersatz für Leporellos Arie “Ah pietà”, war wohl besonders abgestimmt auf die schauspielerischen Qualitäten der beiden Wiener Sänger Luisa Mombelli, die erste Gräfin, die eigentlich für die Rolle Donna Annas vorgesehen, aber im 7. Monat schwanger war und deswegen umbesetzt wurde, weil sie die Rolle weniger anstrengend fand, und Francesco Benucci, dem ersten Figaro. Es stimmt nicht, dass die derbe Komik dieser Szene nicht zu dem Werk passt, wie viele Kommentatoren immer noch behaupten, weil sie die äußersten Konsequenzen des dramma giocoso nicht akzeptieren können: die Szene im reinsten commedia dell´ arte-Stil mit viel Rezitativ und einem Duett, das ein musikalisches Juwel und keineswegs „schwach“ ist, wie die Kommentatoren voneinander abschreiben, kommt nämlich direkt vor Donna Elviras Lamento „Mi tradi“ und der so „tragischen“, in Wirklichkeit aber im komischen Stil komponierten Friedhofszene. Sowohl in der Prager als auch in der Wiener Fassung zeigt Mozart sein sicheres Gespür für die richtige Balance zwischen Rezitativen, Arien und Ensembles. Ohne seine zweifellos dramaturgisch begründete Wiener Entscheidung, Don Ottavios einzige Arie, das als „empfindsame“ Antwort auf Donna Annas „Or sei chi l´onore“ neukomponierte „Dalla sua pace“ im 1. Akt zu platzieren und nicht wie seine Prager Arie „Il mio tesoro“ im 2. Akt, wäre der 2. Akt bestimmt zu lang geworden. Es ist diese richtige Balance, die in der Mischfassung (Don Ottavios beide Arien, dazu Elviras „Mi tradi“, aber nicht das „unwürdige“, komischie Duett zwischen Zerlina und Leporello) fehlt: der 2. Akt wird durch einen richtigen „Arienstau“ ohne jegliche komische Zwischenszenen ganz das Gegenteil von giocoso -, sodass der Akt länger und weniger abwechslungsreich wird als Mozart es sich gewünscht hätte. Dazu kommt, dass das „Mi tradi“ in der Wiener Fassung durch das vorangehende Rezitativ dramaturgisch begründet wird, während die Arie in der Mischfassung wie eine eingeschobene Konzertarie wirkt.



    Zitat

    „Don Giovanni“ wurde seit der Uraufführung bis heute ununterbrochen gespielt. Es gibt in der Aufführungstradition dieser Oper eine seltsame Kontinuität – wie konnten sich die „authentischen“ Tempo manchmal so grundlegend ändern, wie an den CD-Einspielungen von Mozartopern bis heute zu hören ist?


    Es gibt mehrere Gründe. Erstens hat die für das 18. Jahrhundert typische Katalogisierung der Opernrollen im 19. Jahrhundert völlig ausgedient.
    Diese Katalogisierung unterteilte die Rollen in parti serie, parti buffe und die mezzo carattere. Die parti serie wie Donna Anna und Don Ottavio, bei denen es vor allem auf die hohe Gesangskunst ankommt mit flexiblen Stimmen, leicht, aber reich an Farben, waren für das damalige bel canto mit ihren improvisierten Verzierungen geeignet, bei den parti buffe, wie zum Beispiel Zerlina, Leporello und Masetto, kommt es hauptsächlich auf die Schauspielkunst an; sie müssen Stimmen haben, die entweder leicht und spritzig sind, wie die der Zerlina, die halbschwer, wie die des Masetto, oder noch schwerer sind, wie die des Leporello, der allerdings auch ein Virtuose des so typischen schnellen Buffo-Geplappers sein muss. Schließlich sind da die parti di mezzo carattere, wie Donna Elvira und Don Giovanni, die in beiden Welten zuhause sind. Auch weil die Opernhäuser und Orchester immer größer wurden, konnte es im 19. Jahrhundert eine so reiche Abwechslung an Stimmen – so unterschiedliche, wie die Menschen eben unterschiedlich sind – nicht mehr geben, und es dominierten größere, schwerere und dadurch langsamere Stimmen. Zweitens der psychologische Faktor, dass, wenn dassselbe Stück immer wieder aufgeführt wird, die Musik so bekannt ist und geliebt wird, dass man den Genuss des Bekannten so lang wie möglich dauern lassen will. Drittens trägt im Falle des „Don Giovanni“ die romantische Deutung wohl die Hauptschuld an sowohl zu langsamen als auch zu schnellen Tempi.




    LG,
    Hosenrolle1

  • Hallo und einen wunderschönen guten Morgen!


    @ Fiesco: Was HIP angeht sprichst Du mir aus der Seele, ich orientiere mich da auch gerade um.
    Mir geht's so, dass mir die "anderen" Aufnahmen im Vergleich dazu jetzt irgendwie total langweilig vorkommen...
    Hatte vor kurzem ein schönes Erlebnis dazu: Da legte meine Tochter eine CD mit gesammelten Mozart Ouvertüren ein ( kein HIP!), hörte sich das eine Weile an und beim "Don Giovanni" angekommen meinte sie:"Sag mal, gibt's das nicht auch in anders?"
    Ich besitze leider noch nicht allzu viel "in anders" ;), aber ich arbeite daran...


    Und selbstverständlich dankeschön für die Infos! Da kann man schon manchmal den Überblick verlieren, welche Arie jetzt wann, für wen und welche Aufführung komponiert bzw. nachkomponiert wurde! Vom "Figaro" gibt's da ja auch die eine oder andere Story...


    Einen schönen, sonnigen Tag wünscht die Dritte Dame



  • Und Dir, Hosenrolle 1, ganz herzlichen Dank für das Interview, das ich mit sehr viel Interesse gelesen habe!
    Da gibt's so einige Punkte, die ich gerne zerpflücken würde, aber jetzt ruft mich leider die Arbeit...
    Aber ist schon so: In Don Ottavio steckt schon mehr als "Füllmaterial"...


    Nochmal sonnige Grüße, die Dritte Dame

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  • Was HIP angeht sprichst Du mir aus der Seele, ich orientiere mich da auch gerade um.
    Mir geht's so, dass mir die "anderen" Aufnahmen im Vergleich dazu jetzt irgendwie total langweilig vorkommen...


    Das kann ich nur zu gut nachvollziehen. Es freut mich, dass ihr beide jetzt auf solche Dinge Wert legt :)



    Und selbstverständlich dankeschön für die Infos! Da kann man schon manchmal den Überblick verlieren, welche Arie jetzt wann, für wen und welche Aufführung komponiert bzw. nachkomponiert wurde!


    Bei Ottavio wurde ja offenbar auch gestrichen, und da ist die Frage, ob sein Charakter dadurch in den unterschiedlichen Versionen sich ändert, oder gleich bleibt.




    Liebe Grüße,
    Hosenrolle1

  • Guten Morgen!
    Habe mich endlich ein wenig mit den von Dir eingestellten Zitaten beschäftigen können, lieber Hosenrolle 1!
    Zunächst einmal:

    Zitat
    Aber Hoffmanns Sicht auf Donna Anna könnte doch stimmen, ihre heimliche Leidenschaft, ihre Liebe für den Unbekannten, der sie vergewaltigen wollte? Wie

    kan man sich nur einen Moment vorstellen, dass eine starke Frau wie sie einen Schwächling wie Don Ottavio lieben kann?

    Was impliziert eigentlich, dass Anna eine "heimliche Leidenschaft" für Giovanni hegt?
    Dass sie etwas vor Ottavio verheimlicht, als sie ihm die Vorgänge dieser verhängnisvollen Nacht schildert? Mozarts Musiksprache "redet" hier ja lediglich von einem "Verschleiern", nicht von einer "Lüge".
    Und dass sie nicht in allen Einzelheiten schildern möchte, was denn da passiert ist, kann ich gut nachvollziehen. Vermutlich möchte sie das selber am liebsten vergessen...
    Was ich mir allerdings schon vorstellen könnte ist, dass sie "verschleiert", dass Giovanni irgendwie eine gewisse Faszination auf sie ausgeübt hat- zumindest im ersten Moment!
    Dass er so faszinierend ist, dass jede den Verstand ausknipst, halte ich bei diesem Giovanni hier für mehr als unwahrscheinlich!
    Zerlina fasziniert er auch, trotzdem kreischt sie in höchsten Tönen, als er sie während der Feier im Schloss solcherart bedrängt- also sollte Giovanni DIESE Strategie eventuell mal überdenken. Lieber mal öfter mit Mandoline unters Fenster stellen...
    Was ich ihr keinesfalls abnehme ist, dass sie tatsächlich dachte, Ottavio vor sich zu haben! Keine Frau, die nicht unter erheblichen Wahrnehmungsstörungen leidet, verwechselt den Partner mit einem anderen Mann- nicht einmal im Dunkeln!
    Aber die Autoren dieser Oper sind männlich, vielleicht dachten sie sich bei dieser Aussage tatsächlich nichts und hielten das für möglich.
    Ottavio schluckt das ja auch...


    Und noch eine weitere Anmerkung: Was macht Anna eigentlich zu einer "starken Frau"? Die einzige Szene, in der sie Stärke zeigt ist die Anfangsszene, in der sie Giovanni verfolgt. Die will ich auch nicht herabsetzen, natürlich ist das beeindruckend, aber es ist eben eine Ausnahmesituation und viele Menschen wachsen in einer solchen über sich hinaus.
    Wäre sie ansonsten auch so gestrickt, würde ich gar nichts sagen... Aber außerhalb dieser Szene ist sie im Grunde nur am Jammern und passt damit zu Ottavio, der auch nur redet und nichts tut!
    Die "starken" Frauen dieser Oper sind für mich eindeutig Elvira und Zerlina, denn die stehen alleine für sich ein, jede auf ihre Art, aber ohne männliche Hilfe!


    Liebe Grüße von der Dritten Dame

  • In da Pontes Libretto und Mozarts Musik können wir nichts finden, was diese “Ideologie” begründet. Zwischen Donna Anna, Don Ottavio und dem Komtur besteht eine “empfindsame Dreierkonstellation, wie sie uns in zahllosen Dramen des späten 18. Jahrhunderts begegnet” (Borchmeyer). Don Ottavio ist kein Schwächling, aber “der typisch zärtliche Bräutigam, dessen maßvolle, in ihrer Verhüllung von Sinnlichkeit und Leidenschaft den empfindsamen Gefühlscode niemals verletzende Liebe mit der Vater-Tochter-Beziehung vollkommen harmoniert”. S

    Vater- Tochter- Beziehung? Wenn ich mir die damali Zeit so anschaue... Vielleicht bin ich da ja echt zu gefühlskalt, aber ich bin mir nicht sicher, inwieweit Anna nicht auch einen auf "Klageweib" macht, was ihren Vater angeht...
    ( Au warte, bis jetzt hat der "Barbarina- Fan- Club" mich noch nicht gelyncht, aber vielleicht erledigt das Versäumnis ja jetzt der "Anna- Fanclub"...)
    Natürlich ist es schrecklich, was da passiert ist, aber leidet sie tatsächlich SO sehr darunter?
    Der Tod war zu dieser Zeit allgegenwärtiger Begleiter und der Adel hatte weiß Gott keine enge Beziehung zu den Eltern!
    Da waren die Kinder "kleine Erwachsene", mussten parieren und funktionieren und um den adligen Nachwuchs kümmerten sich die Eltern doch kaum.
    Würde ein Cherubino dermaßen zusammenbrechen, wenn ihn im almavi'schen Schloss die Nachricht vom Tod seiner Eltern erreichen würde...?


    Nachher dann mehr, bin bereit, in der Luft zerfetzt zu werden für meinen Mangel an Empathie und Sensibilität. ;(


    Liebe Grüße von der Dritten Dame









  • Für mich ist Anna die unsympathischte Person im Don Giovanni. Der arme Ottavio tut alles für sie und sie hält ihn nur hin und zeigt keine Spur von Dankbarkeit.

  • Für mich ist Anna die unsympathischte Person im Don Giovanni. Der arme Ottavio tut alles für sie und sie hält ihn nur hin und zeigt keine Spur von Dankbarkeit

    Also auch kein Mitglied des Anna-Fanclubs! ;)
    Bei den Damen besetzt Anna in meinem Ranking um die Unsympathischste auch Platz eins, bei den Herren topt niemand den Titelhelden, dicht gefolgt von Ottavio.
    Bis auf Elvira kann man im Grunde den ganzen Adelsstand dort vergessen!
    Und Elvira könnte ich auch dafür durchschütteln, dass sie Giovanni immer noch hinterher heult...
    Also, im Grunde wie im "Figaro": Der Adelsstand schlägt entweder über die Stränge oder jammert herum- und die Arbeiterklasse rockt die Party!
    Aber da kommt mir gerade der Gedanke, ob das Team Mozart/ da Ponte das vielleicht sogar so beabsichtigt haben könnte...?


    Liebe Grüße von der Dritten Dame

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  • Ach ja, einen besonderen Gruß an Dich, Hosenrolle 1! Habe mir jetzt auch das Buch "Mozarts Musiksprache" bestellt, damit Du nicht immer nur alleine auf Spurensuche gehen musst. :hello:


    Lieben Gruß, die Dritte Dame

  • Ach ja, einen besonderen Gruß an Dich, Hosenrolle 1! Habe mir jetzt auch das Buch "Mozarts Musiksprache" bestellt, damit Du nicht immer nur alleine auf Spurensuche gehen musst. :hello:


    Das ist leider völlig untergegangen!


    Das freut mich, dass du dich auch eingehender mit Mozarts Musik beschäftigen willst :)
    Ist das Buch mittlerweile schon angekommen? Da gibt es einen interessanten Abschnitt zur Don Giovanni-Ouvertüre, den wir (natürlich mit Notenbeispielen) uns in meinem "Mozarts Musiksprache"-Thread gemeinsam anschauen können, wenn du magst.




    LG,
    Hosenrolle1

  • Hallo Hosenrolle 1!
    Schön, von Dir zu hören! Auf das Buch warte ich leider immer noch, aber wir können ja trotzdem schon einmal in den "Musiksprache"- Thread wechseln, wenn Du Zeit und Lust hast und uns schon einmal "warm reden".
    Oder ich schaue erst einmal.im "HIP"- Thread vorbei und gebe mit meinen zwei weiteren neuen Errungenschaften an! Ich habe mir jetzt endlich die Jacobs- Version vom "Don Giovanni" und vom "Figaro" geleistet! Aber besser, wir wechseln wirklich
    den Thread!


    Bis dann, liebe Grüße von der Dritten Dame