Beethoven, Sonate Nr. 29 B-dur op. 106 "Hammerklavier-Sonate"
John Ogdon, Klavier
AD: 6./7. September 1967
Spielzeiten: 10:42 - 2:37 - 15:20 - 12:08 --- 40:57 min.;
Da auch John Ogdon in meinen Threads neu ist, will ich auch hier eine kleine Einführung in seine Vita geben:
John Andrew Howard Ogdon (* 27. Januar 1937 in Mansfield Woodhouse, Nottinghamshire; † 1. August 1989 in London) war ein englischer Pianist und Komponist.
Ogdon besuchte zunächst die Manchester Grammar School, danach studierte er bis 1957 am Royal Manchester College of Music in Manchester (dem Vorgänger des Royal Northern College of Music). Sein dortiger Tutor war Claud Biggs. Bereits als Junge hatte er bei Iso Elinson gelernt, und nach dem Collegeabschluss folgten weitere Studien bei Gordon Green, Denis Matthews und Myra Hess sowie bei Egon Petri in Basel.
Der 21-jährige Ogdon erlebte ein sensationelles Debüt in London, als er das gewaltige Klavierkonzert Busonis unter Leitung von Henry Wood aufführte. 1961 gewann Ogdon den Ersten Preis beim Liszt-Wettbewerb in Budapest, und seine internationale Anerkennung festigte 1962 der Erste Preis beim Tschaikowsky-Wettbewerb in Moskau, den er sich mit Wladimir Aschkenasi teilte.
Ogdon liebte es, seine eminenten Fähigkeiten bis an ihre Grenzen auszukosten und nahm solch gewaltige Aufgaben in Angriff wie die Komplettaufnahme der Klaviermusik von Rachmaninow. Zuvor hatte er bereits die 10 Klaviersonaten von Skrjabin aufgenommen. Ogdons Repertoire umfasste Werke von über 80 Komponisten; neben den "Klassikern" setzte er sich speziell für Unbekanntes (z. B. Alkan) und zeitgenössische britische Komponisten ein.
Weiteres über sein Leben und Sterben, aber auch über ihn als Komponisten, kann man hier lesen:
https://de.wikipedia.org/wiki/John_Ogdon
John Ogdon ist im Kopfsatz geringfügig schneller als seine Kollegen Louis Lortie und Jean Muller.
Dynamisch ist er voll bei der Sache, allerdings wünschte ich mir das erste Ritardando (Takt 8), aber noch mehr das zweite Ritardando (Takt 32 bis 34) etwas mehr "ritardando".
Allerdings lassen sowohl die Überleitung Takt 39 bis 46 als auch die 1. Phase des Seitensatzes (Takt 47 bis 64) in jeder Hinsicht keine Wünsche offen. Auch die 2. Phase (Takt 65 mit Auftakt bis 74) mit den Tempowechseln ist exzellent musiziert.
Das Gleiche gilt auch für die 3. Phase des Seitensatzes (ab Takt 75 bis zum Schluss in Takt 99). Das ist genau, wie es sein sollte, einfach exzellent.
Und die Schlussgruppe, im Tempo wunderbar zurückgenommen ist in ihrer weichen Kantabilität und ihrem Ausdruck im 1. Gedanken und in ihrer Virtuosität im 2. Gedanken (Takt 112 bis 121) kaum zu übertreffen. natürlich wiederholt auch er die Exposition, die er bei 2:29 min. beginnt, (zum Vergleich Valentina Lisitsa bei 2:25 und Glenn Gould 3:15, deren Zeiten ich mir in die Partitur geschrieben habe).
Über die Bemerkungen der ersten beiden Ritardandi habe ich nichts Neues zu vermelden.
Die Einleitung der Durchführung spielt er genauso hochdynamisch wie die meisten seiner Kolleginnen und Kollegen, dann sehr schön subito pp und Crescendo zur Überleitung zum Kern der Durchführung, abgeschlossen mit den beiden Fanfarenfiguren Takt 134 mit Auftakt und 136 mit Auftakt.
Den ersten Teil des Fugatos ab Takt 138 mit Auftakt spielt er temporal maßvoll mit dem notwendige Gewicht. und in dem thematischen Geflecht sehr transparent.
Dann lässt er den zweiten Teil mit den viermaligen Auftakten des Fugatothemas ab Takt 177 mit der Dominanten in c-moll, dann ab Takt 181 in c-moll, als Drittes in Takt 185 mit der Dominanten in Es-dur und ab Takt 189 in Es-dur in kraftvollen ff-Eröffnungsakkorden und berückenden Pianobegleitfiguren darunter folgen. Diesmal spielt er das Diminuendo -Ritardando ab Takt 198 jedoch vorbildlich, und sofort entsteht in dieser, "Stillstand" genannten Sequenz ein ganz eigentümlicher Zauber, der in das grandios gespielte Cantabile espressivo mündet.
Diesem lässt erden letzten Durchführungsteil mit den abschließenden vier "Quasi-Glissando"-Takten 223 mit Auftakt bis 226 in beeindruckender Weise, zur Reprise hin überleitend, folgen.
In der Reprise spielt er den ersten Teil in einem unglaublichen "cantabile e ligato", lässt aber am Schluss von Hauptthema II, entsprechend den Takten 32 bis 34 in der Exposition, im "Diminuendo-ritardando" es etwas an "Ritardando " fehlen. Das habe ich in der Tat schon oft exakter gespielt gehört.
Analog kann über Rückleitung und Seitensatz wieder das Gleiche über Positive wie in der Exposition gesagt werden.
Auf eine wiederum grandiose Schlussgruppe lässt er dann zum Abschluss eine herausragende Coda folgen.
Ein zumeist herausragend gespielter Satz mit kleinen temporalen Ungenauigkeiten an jeweils zwei Schlüsselstellen (s. o.).
Im Scherzo ist er wiederum nahe an Jean Muller, aber etwas langsamer als Louis Lortie. Sein geringfügig reduziertes Tempo gefällt mir sehr gut, und seine dynamische Gestaltung ist hervorragend.
Die Achteltriolen im Trio treten kristallklar hervor. Auch das Presto ist überlegen und virtuos gestaltet, nebst dem abschließenden Prestissimotakt 112.
Auch das Tempo I mit der zusätzlichen, kristallklaren Achtel im Alt ist höchst vorbildlich gestaltet bis hin zum kontrastreichen abschließenden presto-Tempo I.
Ein Satz, der keine Fragen offen lässt.
Im Adagio setzt sich John Ogdon temporal am meisten von Louis Lortie (knapp 2 Minuten) und vor allem von Jean Muller (4 1/2 Minuten) ab, die er schneller ist als diese Beiden. Dennoch klingt das keineswegs verhetzt, was er spielt. Es atmet trotzdem Ruhe, hat aber nicht die traurige Schwere der Aufnahmen eines Michael Korstick (+ 13 Minuten) oder eines John Lill (+ 9 Minuten), sondern es klingt zwar melancholisch, aber auch leichter (nicht im Sinne von leichtgewichtig!), wie ich finde.
Der erste Dur-Bogen (Takt 14/15) klingt irgendwie zaubrisch-intim, weil Ogdon ihn im schützenden Pianissimo belässt, er holt ihn nicht ans helle Licht. Das ist beim zweiten Bogen (Takt 22/23) schon ein wenig anders. Es wird etwas stärker durch die Wandlung des Themas ab dem 4. Ton in einen Oktavgang und leuchtet heller und kräftiger.
Im zweiten Thema "con grand`espressione" (ab Takt 28 mit Auftakt) spielt er dann eine wunderbare, gleichsam moderate Steigerung, die sich in dem Crescendo poco a poco zu jener überirdischen Überleitung wandelt und durch abermalige leichte Temposteigerung noch mehr Zug entwickelt ( er steht am Ende der Überleitung(Takt 43) erst bei 3:38 min. gegenüber 4:43 von Jean Muller) dass ich erstaunt feststelle, wie variabel im Tempo dieses Thema in seiner Entwicklung gespielt werden kann, und dennoch auf die eine wie die andere Weise ungeheuer schlüssig klingt.
Im ersten (tiefen) Abschnitt des himmlischen Seitenthemas (ab Takt 44 wird er dann wieder etwas langsamer, eingedenk der noch folgenden "inneren Beschleunigung", wenn das musikalische Geschehen sich in immer kürzere Notenwerte wandelt.
Wenn er dann nach diesem temporal so kontrastreichen Teil des Themas in Takt 63/64 bei den beiden "Erkennungs-Intervallen" Sext-Terz" angelangt ist, die ja in diesem Satz an besonderen Schlüsselstellen immer wieder auftauchen, dann sind wenige Takte später in seinem Vortrag zu Beginn der Durchführung gerade 5:19 Minuten vergangen, bei Korstick jedoch schon 10:32 Minuten.
Die Durchführung spielt auch er mit größeren dynamischen Kontrasten , erhöht den Fluss durch die Sechzehntel-Tonleitern , die als ein beherrschendes Element der Durchführung ab Takt 72 bis 84 fast durchgehend auftauchen und dann im Diminuendo-Smorzando in Takt 85/86 auslaufen, das bei Ogdon vergleichsweise stärker retardierend wirkt eben wegen des höheren Grundtempos- faszinierend!
Und dann die Reprise mit den durchlaufenden und doch sich stetig wandelnden Zweiunddreißigstel-Figuren, im Bass kontrastiert von durchlaufenden Achtelfiguren und gelegentlichen Sechzehntelfiguren- grandios komponiert und zumeist auch von den verschiedenen Pianisten kongenial gespielt, wie auch hier von John Ogdon, was ich mir in diesem doch recht hohen Tempo umso schwieriger vorstelle. Aus dem gleichen Grunde des höheren Tempos in diesem Reprisenteil fällt ja auch m. E. das 6 Takte lange Ritardando am Ende dieses Abschnitts (Takt 107 bis 112) um so deutlicher ins Gewicht, weil es von dem höheren Tempo her kommt. Ogdon spielt auch das grandios. Hier ist er dann bei 8:54 angelangt, nur unmerklich langsamer als Valentina Lisitsa, die hier bei 8:51 angekommen war. Das nun folgende zweite Thema , "con grand' espressione", das sich im Verlaufe etwas anders als im ersten Durchgang zur Überleitung zum himmlischen Seitenthema entwickelt, aber auch noch etwas diesseitiger klingt, weil es eine Quart höher liegt als beim ersten Beginn (ab Takt 28 mit Auftakt), spielt er wiederum sehr leidenschaftlich, aber beherrscht, wie ein Vulkan, der zwar brodelt, aber nicht ausbricht, kulminiert in dem hohen Oktavakkord in Takt 129 auf der Eins am Ende des langen Crescendos un fließt dann erneut in das himmlische Seitenthema. Dieses in dem höheren Tempo wieder etwas, auch dynamisch bewegter führt er am Ende wieder in eine tief paradiesische Ruhe , beginnend mit dem hohen Bogen ab Takt 143 und sich weiter beruhigend in den Diminuendi ab Takt 144, bevor dann ab Takt 154 die "Coda der besonderen Art" beginnt, deshalb besonders , weil kaum ein anderer Komponist als Beethoven es fertig brächte, ein solch himmlisches Thema wie dieses Seitenthema in einer furiosen Steigerung quasi zu "zerfleddern". Ogdon spielt diese Steigerung herausragend und schließt ein letztes Mal das Thema an in einem atemberaubenden "subito pianissimo" (ab Takt 166), das dazu schon bald in das neuerliche sechstaktige Ritardando übergeht, und das letzte Crescendo hebt er kaum an und lässt sich alle Zeit der Welt, die er braucht für einen ungeheurer berührenden Morendoschluss, der noch geheimnisvoller wirkt durch ein gleichzeitiges Ritardando.
Ich ziehe den Hut vor einem Pianisten, der es fertig bringt, in einer guten Viertelstunde ein solches Adagio sostenuto und mit solch großen temporalen Kontrasten, solch tiefgreifender Expressivität und solch selbstverständlicher in den Dienst der Sache gestellter Virtuosität zu gestalten.
Im finalen Largo- Allegro risoluto ist John Ogdon deutlich langsamer als Jean Muller und auch noch etwas langsamer als Louis Lortie.
Das anfänglich Largo spielt er sogar ausgesprochen langsam und ist damit dem Largo-Gedanken wesentlich näher als die meisten seiner bisher gehörten Kolleginnen und Kollegen (immerhin 45). Außerdem nimmt er die anfänglich von Beethoven gesetzte Ausdrucksvorschrift "dolce" sehr wörtlich.
Auch das anschließende "Un poco piu vivo" nimmt er, wie ich finde, sehr ernst. Das anschließenden Allegro (Takt 3 bis passt wunderbar dazu, desgleichen das Tenuto (Takt 9 bis 10, erst Hälfte). Im a Tempo - accelerando - Prestissimo legt er dann natürlich zu.
Den I. Teil der Fuga, die Exposition in B-dur, Takt 16 bis 84, spielt er mit selten so gehörter Klarheit und auch mit innerer Ruhe und Kontrolle. Der Hörer ist jederzeit auf der Höhe des Geschehens, erhält guten Einblick in die musikalische Struktur.
Der II. Teil, die Vergrößerung des Themas in es-moll, Takt 85 bis 152, läuft weiterhin in klarem Ausdruck vor unserem Gehör ab, hier besonders eindrücklich das schwere schreiten der Sforzandoketten, Takt 102 bis 114, und die hier schon übergreifende Sequenz mit den Trilerketten gleichzeitig in verschiedenen Ebenen des großen Intervallumfangs vom hohen Diskant bis in den tiefen Bass. und in der letzten Sequenz mit den überschaubaren Sechzehntelfiguren und ihren gut strukturierten Wiederholungen.
Im III. Teil, dem Rücklauf in h-moll, Takt 153 bis 207, sicherlich schon einem musikalischen Höhepunkt dieses Satzes, mit seinem von Sechzehntelfiguren begleiteten Cantabile in der ersten Sequenz, wird die Struktur trotz dieses Gegensatzes von kantablem Thema in Halben und Vierteln und Begleitung in Sechzehnteln, durch den besonnenen und technisch vollendeten Vortrag von John Ogdon weiterhin sehr transparent, sowie in er zweiten Sequenz durch die parallelen oder gegenläufigen Sechzehntelfiguren in Diskant und Bass.
Der IV. Teil der Fuga schließlich, die Umkehrung des Themas in G-dur, Takt 208 bis 249, beginnend auf einem Fortissimo-Achtelakkord und einem gleich anschließenden Triller, der durch eine weitere Zunahme der unerwarteten rhythmischen Vertracktheit glänzt, bleibt auch dank des hervorragenden Spiels John Ogdons weiterhin überschaubar, und natürlich auch dank des musikalischen Schriftbilds Beethovens, wenn man es denn aufmerksam liest. Mit welch einem Clou endet dann dieser in gewissem Sinne weiterhin eine Steigerung darstellende Abschnitt mit diesen wilden Trillersprüngen, und immer, bei jedem Pianisten, klingen sie etwas anders, wie ich finde. Ich glaube nicht, dass das zwei Pianisten jemals in gleicher Weise spielen können, ja nicht einmal, dass ein Pianist das zweimal gleich spielen kann, und dabei sind das nur sechs Takte (243 bis 248).
Dann die Atempause, der V. Teil, die Durchführung des 2. Themas in D-dur, Takt 50 bis 278 - welch ein Kontrast, und abermals, mit welch einer Ruhe und zarten, intimen Tongebung Ogdon das spielt- grandios!
Nun der dreifach gegliederte VI. Teil, zugleich der längste, mit dem 1. und 2. Thema gleichzeitig, (Takt 279 bis 293), dann das 1. Thema zweifach, (Takt 294 bis 348) und schließlich die Schlussankündigung der Durchführung, (Takt 349 bis 366), allesamt in B-dur. Wenn man einen Vergleich aus der Welt des Sports bemühen würde, so fiele mir als Erstes der "Ironman" ein, ein Triathlon-Wettbewerb, bei dem man nach knapp 4km Schwimmen und 180km Radfahren 80% der Strecke hinter sich hat, aber, so heißt es, mit dem abschließenden Marathonlauf noch 80% der Belastung vor sich. So ähnlich mag sich der Pianist fühlen, wenn er im Schlusssatz der Hammerklaviersonate hier angelangt ist, den selbst nach diesem enormen Teil, den Ogdon gleichfalls souverän meistert , sieht der Pianist zwar das Ziel vor sich, jedoch am Fuße einer steil ansteigenden Zielgeraden, hier schlicht "Coda" genannt, aber eine von unvergleichlichem Format, exzessiv gespickt mit Trillern und Sechzehntelläufen, Sforzandi und dynamischen Kontrasten und donnernden finalen Fortissimoakkorden.
John Ogdon schafft auch diesen steilen Schlussanstieg mitreißend.
Mit einer riesigen Skala von Ausdrucksformen, vom zartesten lyrischen Empfinden und tiefen Vordringen in den musikalischen Kern über erschütternde Schicksalsschwere bis hin zu mitreißender Virtuosität, die aber niemals Selbstzweck ist, möchte ich trotz des vergleichsweise flotten Tempos im Adagio John Ogdon dennoch den Referenzen zurechnen.
Liebe Grüße
Willi