Das liturgische Drama im Mittelalter

  • Servus,


    irgendwann um die erste Jahrtausendwende herum ist wohl ein Kleriker auf die Idee gekommen, das biblische Geschehen nicht nur singenderweis darzustellen, sondern auch szenisch. Den Anfang machten wahrscheinlich kleinere Szenen aus dem Passions- und Ostergeschehen. Diese Idee fand offenbar viele Freunde, denn bald wuchs sich das zu veritablen Bühnenwerken aus und wurde nicht nur in der Karwoche veranstaltet sondern auch zu anderen hohen Feiertagen. Instrumente kamen hinzu, die Kirche wurde zur Bühne.


    Und das Wachstum ging weiter; der Kirchenraum reichte nicht mehr aus und die ganze Stadt wurde zur Bühne. Prozessionen wurden wesentlicher Bestandteil vieler dieser Kirchenopern, die gelegentlich auch mehrere Tage andauern konnte. Dabei hielten dann auch säkulare Bestandteile Einzug, der Kern aber blieb ein sakraler.


    Waren diese liturgischen Dramen anfangs noch in lateinischer Sprache gehalten, so begann man im 13. Jh. auch volkssprachliche Teile einzubauen. Wenig später gab es schon komplette Spiele in der Sprache des Volkes.


    Mit der Reformation begann der Niedergang dieser Gattung. In einigen erzkatholischen Regionen konnte sie sich jedoch teilweise bis heute halten, z.B. das Passionsspiel in Oberammergau. Und auch in einigen protestantischen Regionen ist es noch heute verbreitet, am Heiligabend ein Krippenspiel aufzuführen.


    Speziell in Italien wurde das Genre weiterentwickelt. Es kam ein Prozess in Gang, in dem sich sakrale und säkulare Spektakel deutlich trennten und an dessen Ende Oratorium bzw. Oper standen.



    Kommen wir nun zu ein paar Beispielen. Ein besonders prächtiges – und auch oft auf CD eingespieltes – geistliches Spiel ist der Ludus Danielis. Es gehört zu den Weihnachtsspielen und erstand wohl im späten 12. / frühen 13. Jahrhundert an der Kathedrale zu Beauvais. Das Danielsspiel hebt sich von anderen liturgischen Dramen dadurch ab, dass kaum einer der Texte noch auf die ursprüngliche Musik gesungen, sondern fast alles neu komponiert wurde.


    Die Handlung ist schnell erzählt: Der König Belshazzar entweiht in einem Saufgelage die heiligen Gefäße. Daraufhin erscheinen an der Wand rätselhafte Schriftzeichen, die aber niemand als der Prophet Daniel zu deuten vermag: die Zeichen sagen den Tod Belshazzars voraus. Bald darauf wird Belshazzars Reich durch den Mederkönig Darius erobert und Belshazzar kommt tatsächlich ums Leben. Daniel steigt zum obersten Ratgeber Darius’ auf, was viel Neid und Missgunst unter den anderen Ratgebern erzeugt. Sie intrigieren gegen Daniel, und es folgt die Szene in der Löwengrube. Daniel wird von Engel gerettet und schließlich weissagt er das Kommen des Messias.



    Ludus Danielis


    The Dufay Collective
    William Lyons




    Ein Spiel, welches auf das 14. Jahrhundert zurückgeht und bis heute gegeben wird, ist das Mysterienspiel im südost-spanischen Elche. Inhalt dieses Spiels sind Tod, Himmelfahrt und Krönung der Jungfrau Maria. Die UNESCO hat es 2001 sogar in die Liste der Meisterwerke menschlichen Kulturguts aufgenommen.


    Zwar gibt es hier keine erhaltenen (Noten-)Aufzeichnungen aus der Entstehungszeit, dafür aber mehrere sehr ausführliche Aufführungsanweisungen aus dem 17. und 18. Jahrhundert.


    Es ist ein zweitägiges Spektakel und wird noch immer am Fest Mariä Himmelfahrt aufgeführt und gefeiert.




    El Misteri d'Elx


    La Capella Reial de Catalunya
    Jordi Savall




    herzliche Grüße,
    Thomas

    Da freute sich der Hase:
    "Wie schön ist meine Nase
    und auch mein blaues Ohr!
    Das kommt so selten vor."
    - H. Heine -

  • Hallo liebe Mittelalterfreunde!


    Zu diesem Thema hab ich auch ein bisserl was beizutragen:


    Diese Doppel-CD enthält 2 mittelalterliche Musikdramen:
    1. The Play of Daniel
    2. The Play of Herod


    New York Pro Musica - Noah Greenberg


    Geschrieben wurden diese beiden Dramen in Frankreich im 12. Jahrhundert. Daniel für die Kathedrale in Beauvais, Herod für das Kloster Fleury.


    Gesungen wird immer auf latein. Es gibt aber verteilte Rollen. Im Play of Daniel sind diese:
    Daniel
    Belshazzar
    Seine Königin
    Ein Prinz
    Habakkuk
    Darius
    3 Minister
    2 Ratgeber
    1 Engel
    1 verkündender Engel
    Chor


    Natürlich werden die Rollen nur von Männer gesungen. Die Engel sind zum Beispiel Countertenöre! Das ganze (Daniel) dauert cirka 45 Minuten, also genau richtig, denn wenn es länger wäre, wäre es sehr eintönig.
    Das Spiel beginnt mit einer Einleitungsprozession und erzählt die biblische Geschichte von Daniel und der Prophezeihung des Belshazzar (eine Geschichte, die auch Händel vertont)
    Abgeschlossen wird die Handlung durch ein Te Deum Laudamus.


    Ein beeindruckendes Stück Musikgeschichte, sehr dramatisch, wenn man lange Chorpassagen mag. Teilweise werden sehr mystische Klanggebäude aufgebaut!




    The Play of Herod


    The Play of Herod dauert etwa 75 Minuten und teilt sich in 2 Teile (Akte zu sagen wäre vermessen)
    Teil eins HEROD. Herodes wird prophezeiht, dass ein König geboren wird!
    Teil zwei THE SLAYING OF THE INNOCENTS (die Schlachtung der Unschuldigen) Der Kindermord von Bethlehem.


    1. Teil: 4 Szenen
    2. Teil: 3 Szenen (1. Kindermord; 2. Joseph und der Erzengel; 3. Te Deum Laudamus)


    Ich war sehr überrascht, dass diese Bibelgeschichte vertont wurde, da ich keine Oper kenne, die dieses Thema behandelt!


    Noch mehr war ich überrascht, dass hier Frauenrollen zu finden sind! (Bedenkt, wir sind im Mittelalter)


    Auch hier gibt es verteilte Rollen (aber viel mehr wie im DANIEL)
    Erzengel (Tenor)
    Chor der Engel (Knabensopran)
    Hebammen (Soprane)
    Hirten (Countertenöre)
    3 Weisen aus dem Morgenland (3 Baritone)
    Armiger- Bass
    Herodes- Bass
    Archelaus- Bass
    Höflinge- Tenöre
    Joseph- Bariton
    5 Soldaten (Tenor und Bariton)
    Rachel- Sopran
    Mütter- Soprane
    3 Männer - Countertenöre
    Die heiligen Unschuldigen (der Knabenchor)


    Also eine riesige Besetzungsliste für ein gigantisches Werk, das fesselt, weil es so anders ist!


    Unbedingt kennenlernen!!!



    LG joschi

  • Zufällig sind "Ludus Danielis" und "The Play of Daniel" das gleiche Stück... :pfeif:

    Da freute sich der Hase:
    "Wie schön ist meine Nase
    und auch mein blaues Ohr!
    Das kommt so selten vor."
    - H. Heine -

  • Zitat

    Original von salisburgensis
    Zufällig sind "Ludus Danielis" und "The Play of Daniel" das gleiche Stück... :pfeif:


    Ich weiß, ich weiß, aber das "Play of Herod" ist auch noch dráuf...