Berlin, Deutsche Oper, "Marie Victoire", Ottorino Respighi, 09.04.2009

  • Der Name des Komponisten Ottorino Respighi (er wurde 1879 in Bologna geboren und starb 1936 in Rom) ist dem breiteren Publikum vor allem wegen seiner symphonischen Dichtungen über römische Brunnen, die Pinien der Stadt Rom und der römischen Feste vertraut geblieben. Auch sein Ballett „La boutique fantasque“ nach Motiven von Gioacchino Rossini oder seine „Antiche Danze ed Arie” dürften noch zu den bekannteren Werken des italienischen Komponisten zählen.


    Bei seinen insgesamt zehn Opern sieht das ganz anders aus. Wer kennt schon die komische Oper „Re Enzo“ aus dem Jahr 1905, die musikalische Tragödie „Semirama“ aus dem Jahr 1910 oder gar das Mysterienspiel „Maria egiziaca“, das 1932 in New York uraufgeführt wurde? Allein die lyrische Komödie „Belfagor“ (1922, eine Geschichte um einen reichlich skurrilen Teufel und eine clevere, junge Frau) und die Oper „La Fiamma“ (1934 in Rom uraufgeführt, eine Dreiecksgeschichte um Kreuzritter und Hexenwahn, die im 7. Jahrhundert in Ravenna spielt) sind durch Einspielungen der ungarischen Produktionsfirma „Hungaroton“ aus den 80er Jahren, prominent mit Ilona Tokody, Péter Kelen, Lajos Miller und Sylvia Sass besetzt, es dirigiert jeweils Lamberto Gardelli, nicht gänzlich unbekannt geblieben.


    Die kurz vor dem ersten Weltkrieg entstandene Respighi-Oper „Marie Victoire“ erlebte allerdings noch nicht einmal zu Lebzeiten des Komponisten ihre Uraufführung. Diese war für 1914 in Rom vorgesehen und wurde dann um ein Jahr verschoben. Aber auch im Jahr 1915 kam es dann nicht mehr zu der vom Komponisten erhofften Uraufführung seiner Oper „Marie Victoire“. Respighi überwarf sich mit seinem Verleger Sonzogno und wechselte zu Ricordi. Der nahm zwar die „Marie Victoire“ in sein Programm auf, bemühte sich aber nicht darum, das Werk bei einer Bühne unter zu bringen. Erst am 27.01.2004 wurde die „Marie Victoire“, der Dirigent Gianluigi Gelmetti, der auch die späte Uraufführung dirigierte, hatte sich für diese Oper stark gemacht, in Rom zum ersten Mal gezeigt.


    Die Oper „Marie Victoire“ beruht auf dem gleichnamigen Schauspiel von Edmond Guiraud, das Respighi in der französischen Originalsprache vertonte – zu einer italienischen Übersetzung kam es nicht.


    Im Mittelpunkt der Handlung, die zur Zeit der französischen Revolution im Jahr 1793 beginnt, stehen Gräfin und Graf de Lanjallay. Ein Jugendfreund der beiden, der Chevalier Clorivière de Limoelan, berichtet davon, wie in der heimatlichen Bretagne der Vater des Grafen vor der Revolution fliehen musste und sorgt damit dafür, dass sich der Graf de Lanjallay sofort auf die Suche nach seinem Vater begibt, um diesem zu helfen. Clorivière wittert eine günstige Gelegenheit, sich der Gräfin in eindeutiger Absicht zu nähern, aber kaum ist der Graf abgereist, werden beide, der Chevalier und die Gräfin, von den Revolutionären gefangen genommen.


    Im Gefängnis landet die Gräfin dann schnell auf der Liste der zu guillotinierenden Personen, in Erwartung des sicheren Todes gibt sie sich dem nicht lockerlassenden Mitgefangenen Clorivière doch noch hin und muss am nächsten Morgen erfahren, dass Robespierre tot und die Gefangenen alle frei sind – die Schande ihres Fehltritts droht die Gräfin um den Verstand zu bringen.


    Sechs Jahre später, es ist der Weihnachtsabend, die Gräfin hat den bürgerlichen Namen Marie Victoire angenommen, betreibt die ehemalige Adlige eine florierende Hutmacherei in Paris. Ein Sohn ist das Ergebnis jener Nacht im Gefängnis mit Clorivière und Marie leidet noch immer unter dieser Geschichte. Ihr Ehemann Maurice, der seine Gattin tot glaubte und nach Amerika geflohen war, betritt das Geschäft, eine für Napoléon bestimmte Bombe explodiert auf der Strasse, der Sohn von Marie und Clorivière wird dabei verletzt und Maurice versteht recht schnell, dass dies nicht sein Kind ist. Marie bringt das Kind hinaus und zum zurückgebliebenen Gatten tritt der fliehende Attentäter – es ist Clorivière, der die Bombe gelegt hat. Maurice und Clorivière erkennen sich, letzterer gibt sich als Vater des Jungen zu erkennen, den Marie gerade hinausgebracht hat und Maurice deckt den ehebrecherischen Freund, indem er behauptet, selbst der Attentäter gewesen zu sein – Maurice wird verhaftet.


    Vor dem eilig einberufenen Gericht schweigt Maurice eisern. Erst als Marie ihm berichtet, was in jener Nacht im Gefängnis vorgefallen war, ist Maurice gerührt. Immer noch will er aber den Namen des wahren Attentäters nicht preisgeben. Da tritt Clorivière aus der Menge, gibt sich als Attentäter zu erkennen und erschiesst sich selbst.


    Ottorino Respighi schafft es nicht, diese reichlich kolportagehafte Geschichte wirklich bühnentauglich umzusetzen. Das Stück verliert sich in zahlreichen Nebenhandlungen, tritt immer wieder auf der Stelle, kommt nicht voran und ist schon von den Proportionen her eher sperrig. Dem versucht die Berliner Aufführung immerhin durch eine geschicktere Gliederung der einzelnen Bilder zu begegnen. Musikalisch zeigt sich die Oper „Marie Victoire“ uneinheitlich. Dabei stört nicht so sehr die rein eklektizistische Musik zwischen Wagner, Strauss, Puccini oder Debussy, sondern der Umstand, dass die Musik erst nach ca. 1 ½ Stunden wirklich für sich zu interessieren vermag. Bis dahin wirkt die musikalische Sprache eher illustrierend, oberflächlich, an Begleitmusik zu einem Film erinnernd, mit kräftig süss-sentimental triefenden Unisono-Streicherklängen, die von sehr vorhersehbaren, dräuenden Blechbläser-Einwürfen konterkariert werden. Lokales Kolorit durch Revolutionsgesänge machen die Sache auch nicht besser.


    Erst das Zwischenspiel zwischen dem ersten und zweiten Akt lässt aufhorchen, hier entfaltet Respighi plötzlich jenes Talent für Klangfarben und Situationen, die seine sinfonischen Dichtungen ausmachen und es drängt sich durchaus der Gedanke auf, ob nicht in der rein instrumentalen Musik die Stärke von Ottorino Respighi liegt. Immerhin hält er weitgehend zumindest im Orchestergraben bis zum Ende das Interesse des Zuhörers an seiner Musik wach.


    Nicht, dass das jetzt einfach gebaute Musik wäre, im Gegenteil, vieles schiebt sich da ineinander und übereinander, wird geschickt verbunden, Akzente werden markant gesetzt, aber der Langatmigkeit und die zeitweilige Nähe zur gefühligen Operette lässt dieser Kompositionsstil viel zu viel Raum.


    Michail Jurowski leitet diesen Abend mit grossem Geschick. Vor allem, wie er mit dem Themenmaterial dynamisch umgeht, wie er versucht, dieser Musik Glaubwürdigkeit zu verleihen, wie er mitatmet, das hat Klasse und das Orchester der Deutschen Oper Berlin folgt ihm hörbar gerne. Das Orchester zeigt sich in guter, wenn auch nicht optimaler Verfassung, eine annehmbare, zufriedenstellende Leistung.


    Die Gesangspartien sind nicht wirklich kompliziert, von der Titelrollensängerin wird allerdings einiges an Stehvermögen erwartet und die Sopranistin Takesha Meshé Kizart wirft sich mit Vehemenz in ihre Aufgabe. Am Anfang zeigt sich die Sängerin lyrisch-verhalten und erzielt um so mehr einen guten Effekt, wenn sie dann, im Gefängnisbild, erstmals ihre Stimme unangestrengt und sicher losstrahlen lässt. Die Durchformung der Partie gelingt Kizart ausgezeichnet. Dass ihre Stimme mitunter etwas unruhig ist und auch die Intonation nicht immer überzeugt, soll zumindest angemerkt werden.


    Der Sänger Markus Brück als Graf versucht hier, mit sehr angenehm klingenden Bariton, vergessen zu machen, dass er eher im lyrischen Stimmfach zu Hause ist. Er kaschiert das mit Überdruck in der Wortgestaltung, im hochfahren der Stimme in Grenzbereiche, was die Lautstärke angeht, und besitzt doch genügend Geschmack, die Gesangslinie nicht allzu deutlich zu verlassen.


    Schwach der Tenor Germán Villar (Clorivière), eine kleine, immer wieder vor sich hin zitternde Stimme, mit gebremster Ausdrucks- und Strahlkraft.


    Unterdurchschnittlich die blechern-scheppernde Mezzosopranistin Nicole Piccolomini in der Nebenrolle der Marquise de Langlade mit ihrem harten, unsinnlichen Organ.


    Das szenische Arrangement übernahm der mittlerweile 76-jährige Johannes Schaaf und scheitert auf ganzer Linie. Opas Schnarchtheater feiert hier fröhliche Urstände – über Standardgesten und gefälliges, szenisches Boulevard kommt Schaaf an keiner Stelle hinaus. Da läuft drei Stunden lang ein Kostümschinken mit Pappkulissen und Funduskostümen am Publikum vorbei, der jeden Versuch unterlässt, den Figuren psychologische Tiefe, Genauigkeit in der Aktion oder dramaturgische Sinnhaftigkeit mitzugeben. Wenn nicht gerade mal wieder länger herumgestanden wird, ist vor allem outriertes Gehabe an der Grenze zur Lächerlichkeit angesagt.


    Das drehbare Einheitsbühnenbild zeigt die Ruine eines Schlosses, wo zu Beginn Bett- oder Tischwäsche aufgehängt wird. Ob es ein Innen- oder Aussenraum ist, ist nicht so ganz klar, die Wäsche und die Blumenrabatten sprechen für Aussen, das Cembalo und der abgehängte Kronleuchter, den eine Dienerschaft ewig poliert, sowie ein Sessel für Innen – aber so richtig wichtig ist das in dieser Nicht-Inszenierung eh nicht.


    Zu Beginn des zweiten Aktes – zu den Klängen einer quasi Trauermusik – wird die Guillotine von Bilderbuchsansculotten poliert, ja, da zittert der Adel und das Publikum. Bunt geht es zu im Gefängnis, man probt den „Divin du Village“ von Rousseau, ein Tanzpaar zeigt belangloses. Ganz schlimm wird’s, wenn Marie und Clorivière zum Beischlaf schreiten: eng umschlungen stehen die beiden rum, nix passiert, wirklich gar nichts, und spätestens, wenn dann der Bühnenhorizont im orange der Morgensonne erglüht, wünscht sich der interessierte Zuschauer nichts sehnlicher, als dass der Regie-Rentner Johannes Schaaf bitte nie wieder seine verdiente Altersruhe unterbricht, um eine derartig peinliche Szene Bühnenrealität werden zu lassen.


    Zu Beginn des dritten Aktes, es ist immerhin Weihnachten, schneit es dann still und leise vom Schnürboden herunter...


    Am Ende, wenn Marie ihre Geschichte ihrem Ehemann im Gericht erzählt, ist nicht nur der gerührt – das Volk ist erschüttert und die Richter zücken die Taschentücher und weinen mit.


    Einer geht noch: der Dichterfreund der Familie trägt, klar, Nickelbrille – kein Klischee ist Johannes Schaaf zu billig, kein Kostüm zu hollywoodesk und keine Aktion zu übertrieben, unglaubwürdig oder schlichtweg zu falsch, um hier, in dieser Produktion keine Verwendung zu finden – das ist wirkliche Provinz mitten in der Hauptstadt, während in der sogenannten Provinz ausgezeichnetes Musiktheater geboten wird.


    Starker Beifall für alle Beteiligten, in den sich teilweise heftige Buhs für Johannes Schaaf mischten.


    Die „Marie Victoire“ von Respighi kennen zulernen, war interessant – eine Bereicherung für das Repertoire wird sie wohl nicht werden, dazu ist die Vorlage und zum Teil auch die Musik doch zu schwach.

  • Hallo,


    Heute war ich in der Marie Victoire - ich freute mich sehr als ich diese Rarität auf dem Spielplan der DOB entdeckte. Alvianos doch eher negative Kritik liess mich etwas bangen...


    Aber ich war heute sehr überrascht - das Stück an sich hat mir sehr gefallen. Auch die musikalische Ausführung war gut - wenn auch nicht Perfekt.


    Bei der szenischen Gestaltung gebe ich Alviano recht - grauenvoll! Altbacken, klischeeüberladen und dabei noch nicht mal wirklich qualiätvolles Staubitheater mit realistisch rüberkommenden Szenerien...
    Die affigsten Szenen und Details hat Alviano ja schon genannt!


    Das Libretto ist wirklich etwas unglaubwürdig, aber mich hat das nicht gestört - richtig ist auch, dass Respighi erstmal ziemlich langatmig im 1. und 2. Akt die Story und Musik vorbereitet und dann am Ende die Bombe zündet!
    Die letzten beiden Akte waren für mich musikalisch wirklich ausgesprochen genussvoll und spannend!


    Der Musik gehlen klare Melodien, was ich persönlich nicht problematisch finde, aber von einem großteil des Publikums bei einer Repertoireoper erwartet wird.


    Für mich durchaus eine Bereicherung! Es hat mir trotz schräger Bilder und Text viel Spass gemacht! :)


    LG
    Raphael

  • Zitat

    Original von raphaell
    Heute war ich in der Marie Victoire


    Ich auch.


    Die Inszenierung hat mir sehr gut gefallen. Von "grauenvoll und altbacken" kann überhaupt keine Rede sein. Der Regisseur hat eine plausible und vor allem nachvollziehbare Inszenierung zustande gebracht. Man darf nämlich nicht vergessen, dass die Handlung sehr komplex und vielschichtig ist. Bereits zu Beginn des ersten Aktes befinden sich eine Menge Personen auf der Bühne und es dauert eine gewisse Zeit, bis man sich als Zuschauer zurechtfindet (zumindest erging es mir so; da war ich schon ganz froh, dass die Jakobiner auch ihre Mützen trugen). Hinzu kommen zahlreiche Nebenfiguren und -handlungen. Einige davon enden bereits im ersten Akt (z.B. die Intriganten Lison und Caracalla tauchen später nicht mehr auf). Daher bin ich dem Regisseur äußerst dankbar, dass er mich als Publikum an der Hand nimmt und mich durch das Gewirr der Handlungen führt. (deswegen bin ich noch lange kein Staubi).


    Offensichtlich waren die Sänger heute besser in Form als in der von Alviano gesehenen Aufführung. Defizite, insbesondere beim Tenor German Villar, waren nicht zu erkennen.


    Es ist sehr schade, dass diese schöne Oper erst nach 90 Jahren aus der Schublade hervorgekramt wurde. Leider befürchte ich, dass sie bald wieder in der Versenkung verschwinden wird. Für die kommende Saison 2009/2010 steht sie nämlich nicht mehr auf dem Spielplan.


    Viele Grüße
    Frank


    P.S.: Alviano: Der in der Gerichtsszene weinende Richter ist kein Einfall des Regisseurs - das steht so im Libretto. Die Schneeflocken dagegen hätte man sich aber wirklich sparen können.

  • Lieber Frank, lieber Rapahel,


    ich widerspreche energisch, dass diese Inszenierung "plausibel" sei. Eine Interpretation in irgendeiner Form findet nicht statt. Da wird bestenfalls ziemlich unbeholfen das Stück nachbuchstabiert, die Szene mit diesem weinenden Richter ist reichlich peinlich, so was muss ein gestandener Regisseur sehen. Zumal die Form, in der das geschieht, völlig übertrieben dargestellt wird. Ein anderes Beispiel ist die Erzählung des Gärtners im dritten Akt. Die Frauen benehmen sich so, wie sich Choristinnen halt benehmen, wenn sie von einem Regisseur nicht zu einer sinnvollen, glaubwürdigen Form der Darstellung angehalten werden - das ist Laientheater. Deshalb hat Raphael recht, wenn er feststellt, dass die Inszenierung innerhalb des von ihr eingeschlagenen, konventionellen Rahmens nicht überzeugen kann, weil sie schlecht gemacht ist.


    Eine besser gemachte Inszenierung muss doch nicht, das klingt ein wenig so, gleich nicht mehr "nachvollziehbar" sein. Es ist schade, dass eine Sängerin, wie Takesha Meshé Kizart, die sich zu bewegen versteht, nicht stärker gefordert wurde.


    Wenn sie auf diesem Hinrichtungskarren zusammenbricht, ist das schlechter Film, aber da sieht man, was die Sängerin draufhaben könnte, wenn ein guter Regisseur sie geführt hätte.


    Johannes Schaaf hat mit seiner szenischen Zurichtung die Schwächen des Stückes eher potenziert, als dass er sie abgemildert hätte.


    Gegen Ende hat die Musik effektvollere Momente, als am Anfang, da war auch mein Interesse stärker geweckt, als am zähen Beginn des Abends, was die Repertoiretauglichkeit angeht, bleibe ich skeptisch.


    Schön, dass jetzt doch noch der eine oder andere die Aufführung gesehen und gehört hat.